Die Rönesans-Residenz galt vor zwei Wochen noch als Luxusadresse in Antakya. Der Wohnkomplex mit 250 Wohnungen, vor zehn Jahren fertiggestellt, sei nicht nur komfortabel, sondern auch erdbebensicher. Als die Erde dann wirklich bebte, stürzte das zwölfstöckige Gebäude ein wie ein Kartenhaus, 800 Menschen sollen darunter begraben worden sein. Der Bauherr, Mehmet Yaşar Coşkun, wurde am Istanbuler Flughafen verhaftet, als er versuchte, das Land in Richtung Montenegro zu verlassen.
Neben Coşkun sollen inzwischen mindestens elf weitere Personen in Haft sein, Bauunternehmer, Architekten, Ingenieure. Denn: Nicht Erdbeben töten Menschen, sondern mangelhaft gebaute Häuser. 24.921 Gebäude seien entweder eingestürzt oder durch das Beben schwer
ben schwer beschädigt worden, heißt es von offizieller Seite. Verhängnisvoller Pfusch am Bau. Der türkische Vizepräsident Fuat Oktay erklärte am Sonntag, dass die Behörden gegen 131 Personen Haftbefehle ausgestellt hätten, die im Verdacht stünden, für den Einsturz zahlreicher Gebäude aufgrund mangelhafter Bauausführung verantwortlich zu sein.Doch viele Menschen in der Türkei sehen die Festnahmen als Bauernopfer. Denn wer ist wirklich dafür verantwortlich, dass Zehntausende Menschen immer noch unter Trümmern liegen? Nach dem ersten Schock, da die Bergungsarbeiten noch laufen, die Trauer ihre Kreise zieht und der Kampf ums blanke Überleben bei Minusgraden sich fortsetzt, beginnt die Bevölkerung in der Türkei langsam über die strukturellen Ursachen dieser Katastrophe zu sprechen.Besonders viele Menschen in dieser Region sind kurdischer und oft auch alevitisch-kurdischer Herkunft. Die Folgen des Erdbebens sind für sie nur ein weiteres Kapitel in einer langen Geschichte der Diskriminierung und Marginalisierung. Und die Regierung in Ankara fürchtet, dass aus dem wütenden Murmeln auf den Trümmern von İskenderun, Hatay, Adıyaman, Antep oder Maraş ein lauter Aufschrei wird, der die Verantwortlichen für Baupfusch und mafiöse Verstrickungen benennt.Deshalb die Haftbefehle. Der Eindruck soll entstehen, dass hier mit aller Härte gegen die Verantwortlichen dieser Katastrophe vorgegangen wird – und dass der türkische Staat nicht zu diesen Verantwortlichen gehört. Tatsächlich aber sind die Verbindungen zwischen der türkischen Baubranche und dem Netzwerk des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan und seiner Partei alt und tiefgehend. Die Baubranche, die 22 Prozent aller registrierten Unternehmen in der Türkei ausmacht, ist überlebenswichtig für die türkische Wirtschaft, die gerade jetzt in einer schweren Krise steckt.Erdoğan-nahe Bauunternehmen verdienen mit großen Bauaufträgen viele Millionen, und lange rühmte sich Präsident Erdoğan damit, dass seine Regierung so viele Straßen und Häuser gebaut habe wie nie zuvor. Noch 2019 erließ Erdoğan mit einem sogenannten Baufrieden eine Amnestie für fehlerhafte Bauten. „Wir haben mit dem Baufrieden die Probleme von 144.556 Bürgern in Kahramanmaraş gelöst, in Hatay von 205.000 Bürgern“, tönte er in seinen Wahlkampfreden damals. Auch in anderen Provinzen hatte es diesen Baufrieden gegeben, der bewirken sollte, dass die in Windeseile erbauten Wohnhäuser, die die Innenstädte fast aller Großstädte prägen und nun im ganzen Südosten in Schutt und Asche liegen, den Wohnungmangel in Städten wie Hatay lösen. Vor wenigen Monaten erst kündigte Erdogan sogar weitere Massenbauten durch die staatliche Baubehörde TOKİ an, allein 10.000 Wohnungen sollten im nun schwer vom Beben betroffenen Antep gebaut werden. Damit war das Bauprojekt, wie Erdoğan zum 100. Jahrestag der Gründung der türkischen Republik betonte, das größte seiner Geschichte. Dass für derartige Projekte oftmals auch Geld aus der 1999 eingeführten Erdbebensteuer genutzt wurde, interessierte viele über Jahre nicht. Die meisten Erdbeben trafen ja vor allem kurdische Gebiete.Krieg gegen kurdische DörferBilligbauten, die angeblich das Wohnproblem lösen sollten, wurden nun zum Grab von Zehntausenden. Dass davon so viele kurdische Menschen betroffen sind, liegt auch an Jahrzehnten militärischer Besatzung und der von ihr bewirkten Binnenflucht. Gerade nach den weitläufigen Dorfzerstörungen in den 1990er Jahren war der billige Bauboom unter dem 2003 an die Macht gekommenen Präsidenten eine schnelle, fatale Lösung der Wohnprobleme vieler kurdischer Menschen, die in die Städte und Vorstädte des Landes gezwungen wurden. Dörfer, in denen immer wieder der Widerstand gegen die türkische Besatzung geprobt wurde, wurden durch den Krieg, Naturkatastrophen und die systematische Verarmung zerstört. Das half, die Bevölkerung in die Provinzhauptstädte des Landes zu scheuchen, wo die militärische und politische Kontrolle einfacher zu bewerkstelligen waren. Die charakteristischen mehrstöckigen Billigwohnbauten gaben den Menschen ein Dach über dem Kopf, zugleich zerstörten sie vielerorts die kurdischen Gemeinschaften, deren politische Organisationsstärke gerade in ihrem Zusammenleben begründet war, und die nun atomisiert wurden.Diese systematische Zerstörung kurdischer Lebensgebiete ist jedoch nicht nur eine Sache der Vergangenheit und nicht nur eine Sache der Dörfer. Während des türkischen Bürgerkriegs gegen kurdische Städte in den Jahren 2015 und 2016 wurden Städte wie Amed (türkisch Diyarbakır), Nusaybin oder Cizîrê mit schwerem militärischen Aufgebot angegriffen und zu großen Teilen zerstört. Von dem Wiederaufbau, der zynischerweise als politische Wohltat inszeniert wurde, wie der Wiederaufbau von Sûr, der durch die türkische Armee zerstörten Altstadt Ameds, profitieren türkische Baufirmen. Kurz nach dem Krieg wurde beispielsweise 2016 das zerstörte Gebiet der seit 2015 als Unesco-Welterbe geltenden Altstadt Sûr verstaatlicht, viele restliche Gebäude zerstört und kurdischen Bewohner*innen eine kleine Kompensation sowie wahlweise die Unterbringung in einer der benannten TOKİ-Siedlungen angeboten, die oft fernab vom historischen Stadtzentrum liegen. Wer alles verloren hat, hat keine Wahl, und so führte für viele die kriegsbedingte Vertreibung in die vier Wände von Häusern, die im Erdbeben in sich zusammenfielen.Das Beben legt also offen, auf welch tönernen Füßen Erdoğans Selbstdarstellung als konservativer Business- und Baupräsident ruht. Es zeigt auch, welch fatale Folgen der für den rechtskonservativen Machterhalt in der Türkei zentrale Krieg gegen die Kurd:innen zeitigt. Erdbebenschäden, die durch staatliche Korruption verdoppelt und verdreifacht werden, und Kriegsschäden führen immer von Neuem dazu, dieselbe Politik zu perpetuieren und denselben Profiteuren Aufträge zuzuschanzen. Kann man es den Opfern verdenken, dass sie angesichts der größten humanitären Katastrophe unserer Zeit nicht still trauern und die Suche nach politischer Verantwortung nicht hintanstellen wollen? Das wütende Murmeln auf den Trümmern von İskenderun, Hatay, Adıyaman, Antep oder Maraş, es wird so schnell nicht verstummen.Placeholder authorbio-1