Ost ist nicht Ost

AfD Was man auf der blauen Wahlkarte nicht sehen kann: Die politischen Konflikte im Osten sind kompliziert. Wer sie vereinfacht, stärkt die Rechten, meint David Begrich
Grafische Darstellungen der AfD-Wahlergebnisse lassen die Kontur des Gebietes der DDR in blau wiederauferstehen
Grafische Darstellungen der AfD-Wahlergebnisse lassen die Kontur des Gebietes der DDR in blau wiederauferstehen

Bild: der Freitag

Dass die AfD im Osten der große Sieger der Kommunal- und Europawahlen ist, war voraussehbar. Die Umfragen hatten dies seit langem angedeutet. Grafische Darstellungen der AfD-Wahlergebnisse lassen die Kontur des Gebietes der DDR in blau wiederauferstehen, erzielte die Partei doch in Brandenburg, Thüringen und in Sachsen zweistellige Ergebnisse und wurde bei den Europawahlen in Brandenburg stärkste Kraft. Doch es gibt gewichtige Unterschiede. Wie bereits bei den Bundestagswahlen ist ein Süd-Nord-Gefälle der AfD-Ergebnisse zwischen Sachsen mit 25 Prozent und Mecklenburg-Vorpommern mit 17 Prozent erkennbar. In Rostock etwa kommt die AfD über 12 Prozent nicht hinaus, in manchen sächsischen Städten liegt sie über 25 Prozent. In den Hochburgen der rassistischen Mobilisierungen der Jahre seit 2015 wie Chemnitz und Cottbus schneidet die Partei besser ab als dort, wo es diese Mobilisierungen nicht gab oder sie auf entschiedenen Widerstand stießen.

In den ostdeutschen Metropolen, in denen starke soziokulturelle Kerne und studentische Milieus das gesellschaftliche Klima mitprägen – wie in Jena, Halle oder Potsdam –, kann die AfD nicht so stark punkten wie im kleinstädtisch-ländlichen Raum, wo Abwanderung, Rückbau der Infrastruktur und eine in den 1990er Jahren existierende Hegemonie rechter Jugendkultur prägend sind.

David Begrich studierte Theologie und Sozialwissenschaften und arbeitet seit 1998 bei Miteinander e.V. – Netzwerk für Demokratie und Weltoffenheit in der Arbeitsstelle Rechtsextremismus in Magdeburg

Die Spaltung durchzieht jedoch ebenso die genannten Städte selbst. Während die Grünen in den Innenstadtquartieren ostdeutscher Städte wie Magdeburg, Halle und Dresden-Neustadt hohe Ergebnisse erzielen, sind die Plattenbaugebiete in diesen Städten, die in den zurückliegenden dreißig Jahren stark vom Rückbau der Infrastruktur und der sozialen Entmischung ihrer Bewohner betroffen waren, fest in der Hand der AfD. Das in Ostdeutschland kleine postmaterialistische Milieu wird gleich von mehreren Parteien umworben. Andere Wählermilieus hingegen sind für die Parteien jenseits der AfD im Osten immer schwerer zu erreichen, wie nun auch die CDU erleben musste.

Dass die AfD mancherorts ein höheres Ergebnis erzielte, als sie Kandidaten aufstellte, vermittelt den Eindruck, die Partei habe im Osten ein unbesiegbares Antlitz angenommen. Doch dem ist nicht so. Gemessen in absoluten Zahlen ist nicht die AfD die Gewinnerin der Wahlen im Osten, sondern – wie schon so oft – die Partei der Nicht-Wähler, und zwar trotz gestiegener Wahlbeteiligung. Im Vergleich zu den Bundestagswahlen hat die Partei im Osten sogar wieder Wähler verloren.

Die Sache mit Feine Sahne Fischfilet

All dies ändert nichts daran, dass die AfD hier zu einem Machtfaktor aufgestiegen ist, der nicht nur die Regierungsbildung in den Ländern erschweren könnte. Die Auswirkungen des Wahlerfolgs der AfD in den Kommunen werden Projekte der Soziokultur, der gendersensiblen Jugendarbeit oder die freie Kulturszene direkter zu spüren bekommen als durch eine starke Fraktion im Landtag. Die Durchgriffsmöglichkeit auf Ressourcen, Freiräume und Finanzen ist vor Ort sofort spürbar. Schon jetzt geraten Projekte, die sich kritisch zum Rechtsruck in ihrem Umfeld verhalten, unter Rechtfertigungsdruck. Welche Wirkung solche direkten Interventionen von rechts entfalten, könnten am Beispiel des Konflikts um das Konzert der Band „Fahne Sahne Fischfilet“ 2018 im Dessauer Bauhaus auch jene verstehen, deren Geschmack die Musik und die Texte der Band nicht trifft. Damals skandalisierte die AfD-Landtagsfraktion in Magdeburg einen vom ZDF gebuchten Auftritt der Punk-Band. Von Seiten der AfD und militanten Neonazis unter Druck gesetzt, setzte die Bauhaus-Leitung das Konzert in den eigenen Räumen ab, was zu einer bundesweiten Debatte über die rechte Kulturkampfoffensive führte. Dieser Fall war ein Lehrstück dafür, was geschieht, wenn die AfD auch nur indirekt diskursiv Einfluss nehmen kann, welche Band wo auftreten, oder welche Ausstellung oder Theaterstück gezeigt werden kann.

Die Palette der gegenwärtigen Deutungen des AfD-Wahlergebnisses ist gleichwohl nicht frei von Überspitzungen und Stereotypen über die Ostdeutschen – speziell die Sachsen. Vom Wiederaufbau der Mauer über die Abspaltung Sachsens vom Bundesgebiet bis zur Rückzahlung des Soli wurde mancher Vorschlag in die Debatte geworfen, der wohl nicht nur satirisch gemeint war, sondern das Unverständnis westdeutscher Beobachter über das Wahlergebnis zum Ausdruck brachte. Paternalistisch wirkende Hinweise wie jener von Harald Welzer, die Ostdeutschen hätten die Demokratie nie lieben gelernt, werden im Osten wiederum mit Wut quittiert. Sie blockieren eine innerostdeutsche, notwendig selbskritische Debatte um die Ursachen des Aufstiegs der Rechten, wie sie seit langem etwa von Soziologen wie Michael Lühmann gefordert wird.

Die komplexen Ursachen der Stärke der AfD im Osten treten seit langem offen zu Tage. Sie reichen von einer seit fast zwei Jahrzehnten verfestigten hohen Zustimmungsbereitschaft zu rassistischen und autoritären Einstellungen über die Schwäche der demokratischen Parteien, die Abwanderung junger Menschen und leere Räume der Gesellschaftspolitik bis zur nicht vorhandenen Repräsentanz ostdeutscher Erfahrungen im kommunikativen und kulturellen Gedächtnis dieses Landes. Dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung braucht es nicht eine neue Welle medialer Debatten über den Osten, die wieder abebbt, wenn sich die Aufregung um ein Ereignis wieder gelegt hat. Es braucht nicht mehr und nicht weniger als eine Debatte um die Verfasstheit der Demokratie im Osten und die Frage, auf welchen Fundamenten sie steht. Dass dies nicht nur westdeutsche Fundamente sein können, bedarf ebenso der Diskussion wie die Suche nach ostdeutschen Traditionslinien, die den Osten nicht nur nach dem Ebenbild des Westens betrachten.

Krisenbewusster als im Westen

In der gegenwärtigen Debatte sind jene laut zu vernehmen, die eine Art schleichender Machtübernahme der AfD im Osten prognostizieren. Diese Gefahr ist gegeben. Das Narrativ jedoch wird vom rechten Umfeld der Partei nur zu gern aufgegriffen. Seit Jahren gilt Rechten aller Coleur der Osten als das eigentliche, deutsche Deutschland. Ein Meme, verbreitet vom AfD Kreisverband Berlin-Lichtenberg, zeigt die Umrisse der alten Bundesrepublik und der DDR in grün und blau. Das Gebiet der alten Bundesrepublik wird kurzerhand als „Kalifat“ bezeichnet, das der ehemaligen DDR als „Bundesrepublik Deutschland“. In dem von rechts geführten Kulturkampf gegen den Liberalismus der offenen Gesellschaft ist der Osten zum Projektionsort rechtsautoritärer Sehnsüchte und Planspiele geworden. Der Westen, so schallt es von rechtsaußen, sei an die kulturelle Dekadenz und die Islamisierung verloren. Der Osten hingegen böte alle Chancen, einen gesamtgesellschaftlichen Rollback ins Werk zu setzen, der letztlich auch den Westen erfassen werde. Im Westen wird nicht verstanden, dass die AfD im Osten von Umbruchserfahrung der dortigen Wähler profitiert, wo sie an das systemübergreifende Kristenbewusstsein im Osten appelliert. Die Erzählungen anderer Parteien von Stabilität und Wohlstand greifen hier offenkundig nicht mehr.

Wer den sich nur scheinbar von selbst ergebenden Erfolg dieses rechten Narrativs etwas entgegenhalten will, muss die Perspektive wechseln. Die Omnipräsenz der Figur des ostdeutschen Wutbürgers bedarf des Kontrasts. Nein, es geht nicht darum, die Situation schön zu reden oder Gefährdungen für die Demokratie auszublenden. Es geht darum, zur Kenntnis zu nehmen, dass es im Osten trotz all der skizzierten widrigen Umstände Akteure in der Gesellschaft gibt, die sich dem Aufstieg der Rechten auf eine nicht zwingend explizit politische Weise entgegenstellen. Doch sie bleiben bis auf wenige Schlaglichter unsichtbar. Wenn sich dies nicht ändert und eine vielfältige Solidarität und Unterstützung für diese Menschen und Projekte ausbleibt, wird die Resignation wachsen, Projekte geben auf – und es folgt eine erneute Abwanderung.

Den Verallgemeinerungen von einem blauen, rechten Osten gilt es eine umsichtige Differenzierungsbereitschaft entgegenzustellen, die nicht auf die kurzfristige und aussichtslose Verhinderung eines Wahlergebnisses abzielt, sondern auf eine Stärkung der demokratischen Kultur in jenen Regionen aus ist, in denen diese unter Druck steht.

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