Sie galten lange als verschrobene Sonderlinge, die wirre Schreiben an die Behörden richten. Sogenannte Reichsbürger. „Nervig, aber ungefährlich“, sagten bis vor wenigen Jahren auch die Sicherheitsbehörden. Das war schon damals falsch. Denn die Fantasie, das Deutsche Reich existiere fort, und es brauche nur Leute, die dessen Existenz sichtbar machten sowie danach handelten, griff spätestens nach der Finanzkrise 2008 um sich. Plötzlich behauptete immer mehr Menschen, weder Steuern und Gebühren zahlen noch einen gültigen Ausweis besitzen zu müssen – unter Verweis auf obskure juristische Darlegungen.
Jenseits betroffener Mitarbeiter*innen von Behörden wurde das so lange als Skurrilität abgetan, bis die ersten Reichsbü
chsbürger zur Waffe griffen und auf Gerichtsvollzieher und Polizisten schossen. Und jetzt standen offenbar Bundestagsabgeordnete und Journalist*innen auf ihren „Todeslisten“, wie eine taz-Recherche ergab, darunter die Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne), die SPD-Vorsitzende Saskia Esken, SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert und der CDU-Politiker Armin Laschet.Längst sind Elemente der „Reichsbürger“-Ideologie in verschiedenen Szenen und Milieus anzutreffen, und keineswegs nur in explizit rechten Szenen. Ob bei Querdenker*innen, Esoteriker*innen oder Freiwirtschaftler*innen: Die Idee, die Bundesrepublik sei eigentlich ein Operettenstaat, erfährt sich in einigen Subkulturen große Resonanz. Die von den Medien gern in Szene gesetzten exzentrischen Auftritte des Kochs und selbsternannten „König von Deutschland“, Peter Fitzek, können nicht über die Radikalisierung des Milieus hinwegtäuschen. Getrieben von den vielfältigen Krisen der Zeit, drängt es Akteur*innen der „Reichsbürger“-Szene zur Tat. Man droht Politiker*innen und Journalist*innen, bewaffnet sich, schickt Sendschreiben zur Vorbereitung auf den Tag X an die Anhängerschaft und propagiert antistaatliche Autarkie und angebliche Souveränität.Extreme Rechte reagiert gelassen auf ErmittlungenEs überrascht daher nicht, wie die extreme Rechte auf die Ermittlungen gelassen reagiert: Die Durchsuchungen seien ein durchschaubares Manöver, um vom Tod der Schülerin in Baden-Württemberg abzulenken, die mutmaßlich von einem Asylbewerber angegriffen und erstochen wurde. Außerdem, wird unter Reichsbürgern und extrem Rechten argumentiert, solle die Opposition eingeschüchtert werden. Die Ermittlungen werden umstandslos in das eigene verschwörungsideologische Weltbild eingebaut.Gemessen an der Tatsache, dass eine ehemalige AfD Bundestagsabgeordnete, die derzeit noch Mitglied der Partei ist, unter Terrorverdacht steht, ist es in der Öffentlichkeit erstaunlich still. Man stelle sich einen Augenblick vor, eine vormalige Mandatsträgerin der Linken, Grünen, CDU oder SPD stünde ein Jahr nach ihrem Ausscheiden aus dem Bundestag unter Terrorverdacht. Alle Sicherheitsexperten überböten sich mit Forderungen nach drastischen Sanktionen.Griffige Geschichten über den „Putsch-Prinzen“ sind wenig geeignet zu erfassen, worum es geht: Seit Jahren gibt es in der extremen Rechten und den ihr verbundenen Milieus den Zusammenfall von Aufbruch und Endzeitstimmung in einem. Man ist der Auffassung, im Kern habe das politische System der Bundesrepublik ausgespielt. Es sei nur noch eine Frage der Zeit, bis es zusammenbreche. Um diesen Zusammenbruch zu befördern, organisiert man sich und bereitet sich vor: im Zweifel nicht nur mit dem Horten von Erbsensuppe in Dosen, sondern mit Waffen und Mordplänen.Mit Gewalt gegen die DemokratieDie Gefahr geht nicht von selbsternannten Kaisern in schlechtsitzenden Anzügen aus, die in ihren Wohnzimmern ihre Machtfantasien zum Besten geben. Die Gefahr liegt in der Anhängerschaft und der Zustimmungsbereitschaft bis weit in die sogenannte Mitte der Gesellschaft hinein – wenn nämlich Soldat*innen und Polizist*innen, Vertreter*innen des staatlichen Gewaltmonopols, sich potenziell gewaltsam gegen diesen Staat und das Prinzip Demokratie wenden, politische Feinde markieren und Listen mit Menschen anlegen, die zu töten seien.Zu lange hat die Öffentlichkeit geglaubt, „Reichsbürgern“ ginge es um ein Lego-Lummerland, mit einem Karneval-Kaiser an der Spitze. Spätestens seit den Festnahmen von Anhänger*innen der „Reichsbürger“ unter Terrorismusverdacht kann jede*r wissen: „Reichsbürgern“ jeder Spielart geht es um die Macht und deren Durchsetzung, im Zweifel mit Gewalt gegen die Demokratie und ihre Repräsentant*innen.