Deutschland, deine Flüchtlinge

Flüchtlinge Schon einmal erlebten die Deutschen eine Flüchtlingskrise. Einfach war es auch damals nicht.

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Ein Flüchtlingstreck aus dem schlesischen Lübchen im Winter 1945

(Foto: Hanns Tschira // Stadtmuseum Ingolstadt)

1946 – Europa ist kaum vom Nationalsozialismus befreit, da sich als Eis und Schnee die nächste Katastrophe auf die Ruinen des Kontinents legt. Not herrscht auch in dem zerstückelten Rest dessen, was einst „Deutschland“ war. Hier hatten Terror, Tod und unsägliches Leid ihren Ausgang genommen. Hierher waren sie zurückgekehrt. Wie das Urteil eines göttlichen Strafgerichts scheint der strengste Winter des 20. Jahrhunderts über den Bewohnern niederzugehen. Dennoch erreicht sie eine beispiellose Welle der Solidarität. Die unter dem Akronym CARE zusammengefassten Hilfslieferungen bewahren in Form der nach ihnen benannten Pakete Millionen Menschen vor dem Hungertod. Hundert Millionen privat gespendeter und gepackter Lebensmittellieferungen werden in Europa verteilt. Zehn Millionen allein in Deutschland. CARE will Elend dort lindern, wo es Elend lindern kann.

„Mutter ist in Pommerland, / Pommerland ist abgebrannt.“ heißt es in einem Wiegenlied. „Deutschland“ gibt es nicht mehr. Das einstige „Reich“ haben die Befreier Europas unter sich aufgeteilt. Seine Städte liegen in Trümmern, seine Felder bleiben unbestellt, viele Männer sind in Kriegsgefangenschaft oder tot. Geschlagen, geplündert, verheert – die Deutschen haben den Sturm geerntet, den sie gesät hatten. Sie darben vor Hunger und Kälte. Da erbricht sich aus dem Osten eine Flut von Menschen, deren Heimat von der UdSSR, Polen und der Tschechoslowakei als Kompensation für das Zerstören und Morden annektiert werden. Die Einwohner*innen deutscher Herkunft werden enteignet, geschlagen, vergewaltigt, oftmals ermordet und schließlich vertrieben. Mit nichts mehr als dem, was sie tragen können, macht sich ein Treck von 14 Millionen Flüchtlingen auf einen ungewissen Weg durch Hunger und Kälte – meistens zu Fuß. Ihre einstigen „Volksgenossen“ empfangen sie zumeist mit Argwohn und Hass. Die Refugees werden zwangszugeteilt – Wohnraum, Brot und Kohle müssen geteilt werden. Von dem, das ohnehin knapp ist, sollen die unfreiwilligen Helfer auch noch den Fremden abgeben. In Gegenwart der Not erweisen sich „Volks- und Artgemeinschaft“ als Mythus.

CARE bestreitet, wie auch der US-Militärgerichtshof in Nürnberg, eine Kollektivschuld des deutschen Volkes. Sie wollen nicht Rache üben, sondern Gerechtigkeit: Jede*r soll nur für die Taten zur Rechenschaft gezogen werden, an denen sie oder er beteiligt war. Statt Willkür sollen unabhängige Gerichte über die persönliche Schuld jeder*s Einzelnen befinden und urteilen. Dieser historisch beispiellose Umgang mit den Besiegten höhlt die „Nation“ als Fundament der Weltgemeinschaft aus und führt anstatt das Individuum ins Völkerrecht ein. So können die Bezwinger des Faschismus auch Deutschen helfend die Hand reichen. Rindfleisch, Kraftbrühe, Steaks, Nieren, Leber, Corned Beef, Pökelfleisch, Speck, Schmalz, Margarine, Zucker, Honig, Rosinen, Ei- und Vollmilchpulver aus den USA retten die Leben von Opfern, Täter*innen, Mitläufer*innen und -wisser*innen gleichermaßen. Kaffee, Schokolade, manchmal Puppen und Matchbox-Autos bringen Hoffnung in die Hoffnungslosigkeit. Die Organisation fragt nicht nach der Nationalität. Stimmen werden laut, es werde denen geholfen, die jeglichen Hilfsanspruch verwirkt hätten. Doch CARE erwidert Kritikern, Leid sei unabhängig von Schuld.

Es beginnt ein schwieriger Integrationsprozess, der teils bis in die dritte Generation nachhallt. Aus Angst vor gesellschaftlichen Repressionen verschweigen die Neuankömmlinge oftmals ihre Herkunft. Höchstens zuhause sprechen sie noch ihre muttersprachlichen Dialekte. Viele rutschen ab oder können von vornherein keinen Anschluss finden. Sie bleiben auf Jahre in umfunktionierten Kasernen und Konzentrationslagern oder ziehen in die Slums vor den großen Städten, in denen sie meist selbst auf Strom und fließendes Wasser verzichten müssen. In der heimischen Bevölkerung, die in einigen Regionen selbst zur Minderheit geworden ist, verbreitet sich das Bild von Asozialen und Schmarotzer*innen. Die sogenannten „Polen“ hätten Alkoholismus, Kriminalität und Bettelei mitgebracht. Sie sprächen nicht die Sprache, hätten eine andere Religion, kapselten sich in ihren eigenen Gemeinschaften ab. Zudem vermehrten sie sich unkontrolliert. Sobald es in Deutschland wieder staatliche Strukturen gibt, sehen diese sich zu massiven Maßnahmen gezwungen: Die DDR streicht die Herkunft aus den Personaldokumenten und stellt die Diskriminierung der „Neubürger“ unter Strafe. Der Freistaat Bayern erklärt sich in seiner Verfassung zum Heimatland der Sudetendeutschen – stellvertretend für alle Vertriebenen. Die ersten großen Sozialprogramme in West und Ost haben zum Ziel, den Bewohner*innen der Elendsviertel ein geregeltes Leben zu ermöglichen. Vor dem Recht gilt der Gleichheitsgrundsatz: Verbrechen werden individuell geahndet, den „Neuen“ dieselben Strafen auferlegt wie den „Alten“. Integration bedeutet auch, dass niemand mehr aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden kann.

Literaturtipp: Silke Satjukow (Hrsg.): Kinder von Flucht und Vertreibung, Erfurt 2007.

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Geschrieben von

David Danys

Pfarrers Kind und Müllers Vieh, // Gedeihen selten oder nie.

David Danys

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