In der Kathedrale

Debatte Das Krankenhaus ist nicht nur Gesundheitsfabrik, es ist Schauplatz der eigenen Lebenserzählung
Ausgabe 30/2019

Es ist keine neue und auch keine spezifisch deutsche Debatte, die derzeit, angestoßen von einer Studie der Bertelsmann Stiftung, geführt wird. Man kennt die Argumente, die Diskussionen um Qualität und Zahl der Krankenhäuser – und letztlich die Forderung nach Schließungen und der Konzentration von medizinischen Kapazitäten. Ökonomen präsentieren Daten, Grafiken, messbare Indikatoren, die uns sagen wollen, wie unsere Krankenhauslandschaft in Zukunft aussehen soll. Es ist allerdings ein enger Blick, der hier auf die Klinik gerichtet wird, es ist eine verkürzte Diskussion, die, auf das Messbare, Quantifizierbare reduziert, das Krankenhaus wahlweise als Fabrik mit Fallpauschalen oder als Dienstleistungsunternehmen betrachtet, mit der Patientin als Kundin.

Durch diese Reduktion klammert man aber gerade diejenigen Dimensionen, die für den Stellenwert eines Krankenhauses in der Bevölkerung und für seine gesellschaftliche Relevanz wesentlich sind, aus: die emotionale Bedeutung der Klinik als Zufluchtsort und Schauplatz der eigenen Lebenserzählung. Allzu leicht übersieht man diese Bedeutungsebenen und ist dann überrascht von der Emotionalität, mit der die vermeintlich rein rationale Diskussion geführt wird. Es ist aber eben eine, wenn auch ambivalente, emotionale Bedeutung, die das Krankenhaus, die Medizin, für viele Menschen besitzt. Man kann sie vielleicht am besten nachvollziehen, wenn man mit Sir William Osler, der vom Menschen als „medicine-taking animal“ spricht, das Bedürfnis nach Medizin als eine genuin und spezifisch menschliche Eigenschaft begreift.

Rilkes Malte schaudert hier

Dieses „medicine-taking“ ist durch Wissenschaft und ihre Anwendung in der klinischen Praxis heute leistungsfähiger und „in besserer Form“, wie der Neurowissenschaftler und Philosoph Raymond Tallis es beschreibt, als jemals zuvor in seiner langen Geschichte, und das Krankenhaus ist der Ort, an dem es zu großen Teilen praktiziert wird.

Was der Monarchie ihr Palast und der Religion ihre Kirche, ist der Medizin ihre Uniklinik, um den britischen Historiker Roy Porter zu paraphrasieren, der vom Krankenhaus als einer „Kathedrale der Medizin“ gesprochen hat. Diese „Kathedrale“ ist freilich eine verhältnismäßig neue Erfindung. Mitte des 18. Jahrhunderts entstanden mit ambitionierten Neu- und Umbauten bereits existierender Krankenhäuser wie etwa der Charité in Berlin 1768 und des Allgemeinen Krankenhauses in Wien 1784 die ersten modernen, großen Kliniken. An solchen Häusern fand und findet man auch heute die Spezialistin, den Spezialisten, hier sucht man Hightech-Medizin, innovative Therapien und große Expertise, mithin genau die Dinge, die mess- und zählbar sind und auf die sich die Ökonomie in ihrer Bewertung fokussieren kann: Mortalitätsstatistiken, Fallzahlen, Komplikationen, Heilungsraten.

Dieser kurative Anspruch der Medizin ist allerdings jung und wurde erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – und vorerst nahezu ausschließlich in der Chirurgie – relevant, als mit der Entwicklung der Asepsis und der Anästhesie erstmals sinnvolle Operationen möglich wurden. Davor war es von untergeordneter Bedeutung, ob man im Krankenhaus oder am heimischen Küchentisch operiert wurde: in beiden Fällen von einem Chirurgen, der in erster Linie schnell zu sein hatte, und in der Regel mit bescheidenem Erfolg.

Will man aber die emotionale Bedeutung von Medizin, von Krankenhäusern verstehen, muss man der modernen Klinik auch ihre historischen Vorläufer gegenüberstellen. Hier die Klinik mit ihrer medizinischen und medizintechnischen Exzellenz, dort das mittelalterliche Hospiz als Rückzugsort für Kranke, Alte und sozial Ausgegrenzte. Dieser soziale Versorgungsauftrag ist der ältere, ursprünglichere und noch heute häufigere Zweck einer Klinik, die ihren Namen nicht umsonst von den Liegen (griech. kline) der Asklepios-Heiligtümer übernommen hat. Die christlichen Hospize (lat. hospes, Gast) erfüllten später einen ähnlichen Zweck und haben etymologisch ihre Spuren im „Hospital“ hinterlassen, aber auch im „Hotel“ als Ort der Gastfreundlichkeit, das sich dann wiederum im Namen des Pariser Hôtel-Dieu wiederfindet, eines der ältesten Spitäler Europas.

Für den Großteil seiner Geschichte war das Krankenhaus also ein Ort der Pflege, eine soziale Versorgungseinrichtung – hier klingt auch Rudolf Virchows Diktum von der Medizin als „sozialer Frage“ an. Nicht selten handelte es sich um kleine Häuser, mit wenigen Betten, die diese Aufgabe erfüllten. Auch im modernen Krankenhaus wird diese Geschichte spürbar, am deutlichsten in den Hospizen und auf den Palliativstationen, sehr wohl aber auch an anderen Abteilungen, der Inneren Medizin, der Neurologie, der Geriatrie und so weiter. Und es ist gerade diese soziale Funktion, diese Basisversorgung, das Sich-Kümmern, das englische „non-abandonment“, die mit Indikatoren wie „door-to-needle“-Zeiten bei akutem Schlaganfall oder perioperativen Mortalitätstatistiken nach Pankreatektomien nicht erfasst wird.

Es ging dem Krankenhaus über lange Strecken seiner Geschichte – und geht ihm oft noch heute! – nicht um komplexe Therapien, nicht um operative Eingriffe, sondern um die basale medizinische Versorgung einer Bevölkerung, um seinen sozialen Auftrag, und auch daher rührt der emotionale Stellenwert, den es in den Köpfen der Menschen einnimmt.

Eine literarische Reflexion dieser Gegensätze – des Krankenhauses als Fabrik, aber eben auch als Zufluchtsort, als sicherer Hafen, die Ambivalenz also dem Krankenhaus gegenüber – findet man etwa bei Rilke, der seinen „Malte“ mutmaßen lässt, er müsse „gewiß sterben“, würde jemand ihn ins Krankenhaus, ins Hôtel-Dieu, in dieses „ausgezeichnete Hôtel“ bringen, schließlich werde dort „in 559 Betten gestorben. Natürlich fabrikmäßig.“ Gut siebzig Jahre danach zeigt uns dann Samuel Shem, der Psychiater und Autor, in House of God die Schattenseiten des (großen) Krankenhauses: Übertherapie, Zynismus und soziales Elend. Am Ende stellt der Protagonist Roy Basch, ein junger Arzt, fest, gute medizinische Versorgung bereitzustellen, bedeute, so viel nichts zu tun wie möglich.

Man könnte die Beispiele aus Literatur, aus dem Theater, aus dem Kino, dem Fernsehen beliebig fortsetzen. Auch diese Tatsache, nämlich, dass das Krankenhaus Gegenstand so vieler Geschichten, so vieler Romane, Gedichte, TV-Serien und Filme ist, zeigt eine zweite Funktion auf, die es für viele Menschen hat: die als Schauplatz der eigenen Lebenserzählung. Im Krankenhaus wird man geboren, man gebärt dort die eigenen Kinder, erfährt lebensverändernde Diagnosen, wird operiert, therapiert und manchmal gerettet. Viele Menschen finden hier auch Pflege, Linderung von Leiden und, am Ende, den Tod. Man kann es auch mit Dietrich von Engelhardt sagen, der im Vorwort zu Stegers und von Jagows wunderbarem Lexikon Literatur und Medizin die „genuine Funktion der literarisierten Medizin“ als „Verständnis für den Kranken und die Krankheit, für den Arzt und die Therapie“ beschreibt. Die Literatur sieht er in der Lage, das „Bedürfnis nach Deutungen der Krankheit“ zu erfüllen, und er versteht Krankheiten als „Signatur ihrer Zeit“, die Krankenhäuser als „Abbild der Welt“.

Eine Zuflucht

Das Krankenhaus prägt das Leben der Menschen, die mit ihm in Berührung kommen: als Patientinnen und Patienten, als Angehörige, als dort Angestellte, oder, häufig, in wechselnden Rollen.

Eine ähnlich dichte Präsenz an den neuralgischen Punkten des menschlichen Lebens hat als Institution nur die Kirche, und vielfach auch sie nicht mehr. Das „Abbild der Welt“ ist vielleicht hochgegriffen, das Wort von der „Kathedrale der Medizin“ überspitzt, möglicherweise pathetisch. Vielleicht ist aber genau das Vorhandensein eines Krankenhauses als Zuflucht, als Ort, an dem man Wendepunkte einer menschlichen Existenz erlebt und sich erzählt, vielleicht ist einfach das Wissen um diesen Ort und die Möglichkeit, ihn aufzusuchen, eine Bedingung für das Gefühl, sich irgendwo zu Hause zu fühlen.

Sicher ist, dass eine rein ökonomische Betrachtungsweise zu kurz greift, simplifiziert und der Institution Krankenhaus nicht gerecht wird.

David Fuchs, 1981 geboren in Linz, ist Facharzt für Innere Medizin. Er arbeitet als Onkologe und Palliativmediziner in einem sehr großen Haus, einer Uniklinik mit circa 1.800 Betten. David Fuchs ist auch Schriftsteller. 2018 erschien sein Debüt Bevor wir verschwinden (Haymon Verlag), in dem Fuchs vom Alltag und Irrsinn auf einer Krebsstation erzählt

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