Ich habe Angst

Wahlkampf David Graeber sieht in der Kritik am Umgang der Labour Party mit Judenfeindlichkeit eine Kampagne, die ihrerseits antisemitisch ist
Ausgabe 49/2019
Gift und Gegengift: Ironie kontert hier den Zynismus der Corbyn-Feinde
Gift und Gegengift: Ironie kontert hier den Zynismus der Corbyn-Feinde

Foto: Adrian Dennis/AFP/Getty Images

Ich bin 58 Jahre alt. Und zum ersten Mal in meinem Leben macht es mir Angst, jüdisch zu sein. Rassismus ist normal geworden, Nazis marschieren in den Straßen Europas und Amerikas. Judenhetzer wie Viktor Orbán werden auf dem internationalen Parkett hofiert, ein Propagandist des „weißen Nationalismus“ wie Steve Bannon kann in aller Öffentlichkeit mit Boris Johnson die Panikmache koordinieren, während Mörder, die von solcher Propaganda verblendet sind, wie in Pittsburgh Juden mit automatischen Waffen niedermähen.

Wie kommt es da, dass unsere politische Klasse die größte Bedrohung für die Juden in Großbritannien in jemandem sieht, der sein Leben lang Antirassist war und dem man nun vorwirft, Parteimitglieder, die anstößige Kommentare im Internet posten, nicht eifrig genug zur Disziplin zu rufen? Bei fast allen meiner jüdischen Freunde ruft genau das momentan eine größere und unmittelbarere Beklemmung hervor als die echten Nazis: die endlose Instrumentalisierung von Antisemitismusvorwürfen gegen die gegenwärtige Labour-Führung. Es ist eine Kampagne – wie auch immer sie begonnen hat, sie wird vor allem von Nicht-Juden befeuert –, die so zynisch und unverantwortlich ist, dass ich sie selbst für eine genuine Form des Antisemitismus halte. Sie ist eine unmittelbare Gefahr für jüdische Menschen. Ich muss eine brutale Wahrheit aussprechen. Der Skandal hat ursprünglich sehr wenig mit Antisemitismus zu tun. Seine Ursprünge liegen viel mehr in der Demokratisierung der Labour Party. Nicht dass es in der Partei keine bigotten Einstellungen gegenüber Juden gibt. Weit gefehlt. Aber Antisemitismus ist auf fast allen Ebenen der britischen Gesellschaft anzutreffen. Als verpflanzter New Yorker bin ich oft erschrocken darüber, was im lockeren Gespräch passieren kann (von „Natürlich ist er geizig, er ist Jude“ bis „Hitler hätte sie alle töten sollen“). Umfragen zeigen, dass antisemitische Einstellungen bei Anhängern der Konservativen häufiger sind als bei Labour-Anhängern. Aber Letztere sind in keiner Weise immun dagegen.

Was Labour einzigartig macht, ist, dass Jeremy Corbyn und seine Verbündeten seit vier Jahren die Demokratisierung der Partei vorantreiben. Sie haben Hunderttausende neuer Mitglieder gewonnen und Teile der Partei, die früher immer nur alles abgenickt haben, zu lebhaften Foren öffentlicher Debatte gemacht. Die Plattform Momentum wurde gegründet, um die Partei wieder zu einer Massenbewegung zu machen, wie sie es seit den 1930ern nicht mehr war. Weiter rechts stehenden Abgeordneten war das ein Gräuel. Nachdem sie unter Tony Blair zu Parlamentariern auf Lebenszeit berufen wurden, sind sie inzwischen so weit entfernt von dem, was in ihren Wahlkreisen vor sich geht, dass sie mit ziemlicher Sicherheit ihre Sitze verlieren würden, wenn ein anderes Wahlsystem eingeführt würde. Viele Corbyn-Anhänger haben sich genau dafür eingesetzt.

Trump war auch unvorstellbar

Ein Politiker kann aber schlecht sagen, dass er gegen Demokratisierung ist. So hat man in den letzten vier Jahren versucht, praktisch alles andere, was man sich vorstellen kann, gegen Corbyn und seine Anhänger aufzufahren. Der Vorwurf einer Tolerierung von Antisemitismus war das Erste, was wirklich griff. Denn ein Demokratisierungsprozess, der jeden zu Wort kommen lässt, bringt zwangsläufig viele wütende Menschen ohne Ausbildung vor die Mikrofone. Daher gibt es auch, trotz größerer Verbreitung von Antisemitismus hier – ganz zu schweigen von anderen Formen von Rassismus und Klassismus –, nur wenige ähnliche Skandale bei den Torys. Niemand ohne Medientraining kommt dort in die Nähe eines Mikrofons (als sie kurz mit der Idee flirteten, eine eigene Jugendgruppe wie Momentum zu gründen, musste das schnell aufgegeben werden, weil man dort begann, die Vernichtung der Armen zu fordern). In einer Gesellschaft, die so reich an antijüdischen Einstellungen ist, bedeutet eine Öffnung für alle, dass einige unweigerlich Ungeheuerliches sagen werden.

Das kann erschreckend sein. Aber wenn man antisemitische Ansichten wirklich bekämpfen will, muss man auch sehen, dass es letztendlich nicht schlecht ist, wenn Formen von unerkanntem Rassismus öffentlich werden. Nur so können sie in Frage gestellt werden. Es gibt Hinweise darauf, dass in den ersten beiden Jahren unter Corbyn genau das geschah: Antisemitische Einstellungen gingen stark zurück.

Der Skandal

Antisemitismus Großbritannien wählt. Die Labour Party kämpft nicht nur gegen den politischen Gegner, sondern auch gegen Kritik, wonach zu wenig gegen Fälle von Antisemitismus in den eigenen Reihen getan werde. Der britische Oberrabiner Ephraim Mirvis sprach gar eine implizite Wahlempfehlung aus: Britische Juden seien zu Recht besorgt über die Aussicht, Labour könne die nächste Regierung bilden. Jeremy Corbyn äußerte sich nun in einem Interview: „Natürlich tut mir alles, was passiert ist, sehr leid, aber ich möchte klarstellen, dass ich mich darum kümmere.“

Doch oberflächlich gesehen führte der Demokratisierungsprozess zunächst dazu, dass mehr antisemitische Kommentare öffentlich wurden. Das machte Corbyn und seine Anhänger verletzlich. Alles spricht dafür, dass der rechte Parteiflügel sich bewusst entschied, das zum eigenen Vorteil zu nutzen. In gewisser Weise eine politische Meisterleistung.

Es wundert nicht, dass sich sowohl rechtsgerichtete Mitglieder der jüdischen Community als auch jüdische Labour-Anhänger in das hineinziehen ließen, was nur als tragische Spirale zu bezeichnen ist. Der Prozess läuft von selbst. Dennoch waren die meisten seiner Protagonisten nicht jüdisch, und viele, wenn nicht sogar die meisten, hatten noch nie zuvor besonderes Interesse an jüdischen Themen gezeigt. Anscheinend war es reine, zynische, politische Berechnung. Die aufgegangen ist. Doch eine Instrumentalisierung jüdischer Themen, die Groll, Panik und Ressentiments hervorruft, ist selbst eine Form von Antisemitismus, unabhängig davon, ob sich die Architekten bewusst sind, was sie tun. Sie erzeugt Angst in der jüdischenCommunity. Sie beraubt uns unserer stärksten Verbündeten. Es gibt kein vorstellbares Szenario, in dem Bewunderer von Luxemburg oder Trotzki anfangen, Synagogen in die Luft zu jagen, oder in dem Momentum (drei Mitbegründer waren selbst Juden) Menschen dazu bringt, gelbe Sterne zu tragen.

Nazis tun das. Und Nazis sind auf dem Vormarsch. Jetzt, da die rassistische Rechte in ganz Europa an Macht gewinnt, ist das Allerletzte, was wir brauchen, eine Öffentlichkeit, die die jüdische Community für einen Haufen hypersensibler Panikmacher hält. Es ist verrückt, blinden Alarm zu schlagen, wenn echte Wölfe vor dem Tor heulen. Es ist noch verrückter, wenn die, vor denen man warnt, die Menschen sind, die einen am ehesten gegen diese Wölfe verteidigen würden. Die Geschichte von Cable Street bis Charlottesville lehrt, dass die Polizei dazu neigt, sich als nutzlos oder noch schlimmer zu erweisen, wenn Braunhemden auf die Straße gehen. Sie lehrt aber auch, dass es die „harte Linke“ ist, die bereit ist, an unserer Seite zu stehen. Jüdische, linke Intellektuelle wie ich werden wahrscheinlich ganz oben auf der Liste stehen. Aber ich weiß auch, dass Corbyn und seine Anhänger die Ersten sein werden, die sich schützend vor mich stellen. Wird Tom Watson, Chefankläger eines angeblichen Antisemitismus bei Labour, mit ihnen dort stehen? Warum zweifle ich daran?

Solche Szenarien mögen als Fantasie erscheinen, aber auch ein Präsident Trump war das bis vor Kurzem. Alles, was ich tun kann, ist, an alle zu appellieren, die an dieser Kampagne in Politik und Medien beteiligt sind: Bitte, hört auf. Meine Sicherheit ist kein politischer Schachzug. Wenn Sie wirklich helfen wollen, arbeiten Sie mit der Parteiführung zusammen: Wenn man nicht in der Lage ist, konstruktiv zu agieren, sollte man aufhören, die Dinge schlimmer zu machen. Denn zum ersten Mal in meinem Leben habe ich wirklich Angst.

David Graeber lehrt an der London School of Economics. Dieser Text erschien zuerst auf opendemocracy.net

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Übersetzung: Mladen Gladić

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