Der große Knall

Labour Party Die britische Sozialdemokratie steht vor einer Zäsur. Wählt sie den Sozialisten Jeremy Corbyn zum Vorsitzenden, könnte sie wieder zu einer linken Kraft erwachsen.

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Erneut liegt die britische Labour Party in Trümmern. Erst kürzlich bescherte sie mit einem desaströsen Ergebnis den Konservativen die absolute Mehrheit – und doch erlebt die Partei aktuell einen wahren Eintrittsboom. Alleine in den letzten Monaten fand ein Run auf die roten Bücher statt, wie ihn die Partei seit den 1950er Jahren nicht mehr erlebte. Mehr als einhunderttausend neue Mitglieder und weitere 120.000 Unterstützer*innen ließen sich seit Mai registrieren. Wie kommt das?

Die Antwort darauf ist schnell gefunden: Die Partei steht am Abgrund und wagt gleichzeitig mehr Demokratie. Erstmals in der Geschichte lässt sie alle Mitglieder urdemokratisch über den Parteivorsitz abstimmen. Und auch wenn sich diese Ankündigung zu Beginn als Rohrkrepierer erwies, elektrisiert sie heute das politische Geschehen. Denn lange Zeit schien ein Kurswechsel trotz der Erklärungen von Kandidaturen und dem Einberufen eines Mitgliederentscheides unmöglich – bis ein gewisser Jeremy Corbyn quasi im letzten Moment in das Rennen um den Vorsitz einstieg.

Während seine Kontrahent*innen Andy Burnham, Yvette Cooper und Liz Kendall entweder in Regierungen tätig waren oder den Jüngern Tony Blairs zugerechnet werden, erweist sich der 66 jährige Sozialist als echte Alternative. Seit über 30 Jahren sitzt er für den kleinsten Wahlkreis des Landes im Parlament und gehört seither dem linken Flügel, dem Gegenstück zur New-Labour-Bewegung der 1990er Jahre, an. Infolgedessen hat er nie nach höheren Ämtern gestrebt, sondern stets Haltung bewiesen, die Beteiligung am Irakkrieg, Sozialkürzungen und Privatisierungen konsequent abgelehnt.

Seit Jahren gilt er deshalb als linker Rebell, der in über 400 Fällen gegen den Parteiwillen im Parlament stimmte, den Kurswechsel einfordert und nun tatsächlich die Chance haben könnte ihn einzuleiten. Glaubt man den Umfragen nimmt er den Spitzenplatz der Kandidat*innen ein. Spätestens bei der ersten landesweiten Debatte zum Vorsitz hatte er alljene überrascht, die ihn als chancenlosen Außenseiter abstempelten. Stattdessen wurde an jenem Abend klar, dass er trotz mancher kritischen Position die einzige Alternative zum neoliberalen Kurs der Austerität-light-Politik darstellt. Während sich die anderen Bewerber*innen nur in Nuancen unterscheiden und permanent eine wirtschaftsfreundlichere Politik forcieren und die Flüchtlingskrise als größtes Problem des Landes ausmachen, stellt Corbyn dem die Vision eines demokratischen Sozialismus entgegen.

Dabei tritt er für die Verstaatlichung von Energie-, Bahn- und dem Postsektor ein, fordert die Abschaffung von Studiengebühren und die Stärkung statt Aushöhlung des über die Grenzen hinweg bekannten steuerfinanzierten Bürgerversicherungsmodells NHS.

Ebenso wie er zur Schaffung von mehr Gleichheit für neue Steuererhöhungen für Großunternehmen eintritt, während die konservative Regierung diese weiter absenken möchte. Als künftiger Premierminister will er die Reformen nicht nur rückgängig machen, sondern Superreiche mehr belasten und auch die längst überfällige Demokratisierung des House of Lords vorantreiben.

Wenn Jeremy Corbyn seine Visionen vorstellt, merkt man schnell, dass er nicht der größte, aber der mit Abstand glaubwürdigste Rhetoriker unter vielen ist. So glaubwürdig, dass ihn nun auch die zwei größten Gewerkschaften des Landes unterstützen. Und deren Einfluss auf die Labour Party ist nicht zu unterschätzen, waren sie es doch, die die Partei einst ins Leben riefen und erst kürzlich mit ihrem Stimmgewicht von 200.000 Votes Ed Miliband zum letzten Vorsitzenden kürten.

Auch sind es vor allem die jungen Brit*innen, bei denen Corbyn einen hohen Stellenwert genießt. Seit Jahren betrachten sie die Partei als eine beliebige Kraft der Mitte und warten sehnsüchtig auf eine neue linke Bewegung. Mit Corbyn an der Spitze scheint ein neuer Weg zurück zu alter Stärke möglich.

Stürzt der Sozialist nicht über das alternative-Vote-System, wonach bei der Wahl mehrere Präferenzen in Form von Rankings der Kandidat*innen ausgedrückt werden, könnte in vier Wochen der lang ersehnte Neustart der Partei bevorstehen. Denn seine Berufung würde zurückblickend auf den Beginn seiner Kandidatur nicht nur einem politischen Wunder gleichen, sondern wäre ebenso ein großer Knall, der sich auf ganz Europa erstrecken könnte. Eine Richtungsentscheidung, die ähnlich wie einst das Schröder-Blair-Papier eine Signalwirkung auf die deutsche Sozialdemokratie entsenden würde.

Exakt heute werden die ersten Stimmzettel dieser so bedeutsamen Wahl ausgefüllt und abgeschickt - beginnt damit die Resozialdemokratisierung Europas?

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

David Gutensohn

Wurde an der Deutschen Journalistenschule ausgebildet und war freier Autor u.a. für Der Freitag. Heute arbeitet er als Redakteur bei ZEIT ONLINE

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