Die Toten kamen - und das ist gut so!

Politische Schönheit Eine Aktivistengruppe sorgt für Aufsehen, bestattet in Berlin Leichen ertrunkener Flüchtlinge und organisiert einen Trauermarsch zum Kanzleramt - und das ist gut so!

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Pietätlos! Skandalös! Was wurde im Vorfeld nicht alles geschrieben und gesagt. Es war das Vorhaben des Zentrums für politische Schönheit, das über Berlin hinaus für Schlagzeilen sorgte. Der Plan der AktivistInnen, echte Leichen von ertrunkenen Flüchtlingen in der Hauptstadt zu beerdigen und zum Abschluss gar vor dem Bundeskanzleramt ein Grab zu errichten, stieß vielerorts auf Unmut.

So auch in der Berliner Polizeibehörde, die die Fläche vor dem Kanzleramt sperrte, der Künstlergruppe Auflagen erteilte und die mitgeführten Särge von der Gerichtsmedizin untersuchen ließ. Die Totenruhe würde gestört und Bestattungsgesetze verletzt, so ihr Sprecher.

Doch was sich am gestrigen Tag ereignete, entpuppte sich als eine der würdevollsten Protestaktionen der letzten Jahre. Eine Demonstration ohne Bühnen, Selbstdarstellertum und fahnenschwenkende Parteigruppierungen, sondern ein Trauermarsch der besonderen Art. Ein Marsch aus Kerzen, Kreuzen, Blumen und Botschaften. Zusammengesetzt aus Jung und Alt. Vorbei am Brandenburger Tor, das einst selbst auf Grenzzäune blickte, bis hin zum Regierungsviertel, in dem über eben jene Flüchtlingsfragen Europas mitentschieden wird. Und wo, wenn nicht im Machtzirkel der deutschen Politik, wäre solch ein Protest treffender platziert?

Deshalb zog die bunt gemischte, aber meist trauerschwarz gekleidete Menschenmenge zum Kanzleramt. Angeführt vom Leichenwagen eines muslimischen Bestattungsunternehmens und Trompetenklängen der Betroffenheit. Vorbei am vom Grünflächenamt installierten Bauzaun, der rund um den Platz der Republik verlief.

Ein Ort, der an diesem Sonntag, nur wenige Stunden nach dem der Weltflüchtlingstag der Vereinten Nationen seinen Ausklang fand, seinem Namen gerecht werden sollte. Das urdeutsche "Rasen betreten verboten" verabschiedete sich. Stattdessen brachen die Zäune wie aus einem inneren Impuls der Masse heraus, in sich zusammen. Und es entstanden hunderte Gräber, bestückt mit tausende Kerzen und Blumen, umringt von einer Menschenkette der Entschlossenheit.

Das ist politische Kunst, die weit über Satire und Theaterbühnen hinausgeht, Nachahmer findet und sich verselbständigt. Ziviler Ungehorsam, der Botschaften besser vermittelt als jede noch so gute Rede. Denn es sind Bilder, die für Aufmerksamkeit sorgen, Diskussionen auslösen und wie Strahlen in die Gefühlswelt von Menschen eindringen.

Wer kennt nicht den berühmten Kniefall Willy Brandts, die Geste Merkels, die kurz nach dem G7-Gipfel sämtliche Tageszeitungen füllte oder das Selbstporträt eines Lutz Bachmann, das dem Gegenstück von Aktionen wie der gestrigen, den letzten Stoß verpasste.

So pietätlos es sein mag diese Gesten miteinander zu vergleichen, so sehr zeigen sie doch eines: Bilder wecken Emotionen und transportieren Botschaften.

Wer sich dabei um den Rollrasen sorgt, die Kosten der Polizeieinsätze gegenrechnet oder von Mitteln spricht, die ihrem Zweck schaden, hat nichts von dem verstanden, was sich an diesem Sonntag ereignete. Denn Mauern töten. Grenzen um die Festung Europas ebenso wie die Schranken in unseren Köpfen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

David Gutensohn

Wurde an der Deutschen Journalistenschule ausgebildet und war freier Autor u.a. für Der Freitag. Heute arbeitet er als Redakteur bei ZEIT ONLINE

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