Alles, was Recht ist

Gefängnis Immer wieder werden Menschen zu Unrecht verurteilt. Jahrelange Haft und kaum eine Chance herauszukommen. Und selbst wenn: Freiheitsentziehung ist nicht zu entschädigen
Ausgabe 27/2013

Es war ihm zu viel Aufwand, dem Richter Otto Brixner. Vor dem Untersuchungsausschuss des bayerischen Landtags sagt er, er habe „anderes zu tun gehabt“, als die 106-seitige Verteidigungsschrift Gustl Mollaths zu lesen. Dennoch verfasste er in seinem Urteil einen entscheidenden Satz, dass dieses Dokument „in keinerlei erkennbarem Zusammenhang mit den Anklagevorwürfen steht.“ Mollath sitzt seit dem Jahr 2006 in der Psychiatrie, wegen Körperverletzung und Freiheitsberaubung seiner Frau. Inzwischen sind durch Medienberichte erhebliche Zweifel an seiner Schuld aufgekommen. Aber Mollath ist kein Einzelfall.

Immer wieder werden Menschen unschuldig verurteilt, werden wegen falscher Anschuldigungen ihrer Freiheit beraubt. Die Justiz zerstört ihr Leben, aber das Thema wird weitgehend totgeschwiegen. Die meisten Fälle werden wahrscheinlich gar nicht öffentlich bekannt. Urteil gesprochen, Sache erledigt. Aber manchmal wird ein Gerichtsverfahren doch noch mal aufgerollt – und es stellt sich heraus, dass ein Unschuldiger im Gefängnis saß.

Selten sind die Geschichten so spektakulär wie im Fall Mollath. Da geht es um Schwarzgeld, um Steuerhinterziehung, um das Versagen der bayerischen Finanzbehörden und mögliche Fehler der Justizministerin Beate Merk. Inzwischen beschäftigt sich ein Untersuchungsausschuss mit dem umstrittenen Urteil über Gustl Mollath. In der kommenden Woche soll der Abschlussbericht beschlossen werden.

Statistik? Wurde abgeschafft

Was sich bei Mollath herausstellen könnte, ist bei anderen Menschen bereits Gewissheit: Sie wurden zum Opfer der Justiz. Andrej Holm, Soziologe an der Humboldt- Universität zu Berlin, wurde des Terrorismus verdächtigt und nach einem abenteuerlichen Polizeieinsatz für drei Wochen in Untersuchungshaft gehalten. Ralf Witte, Familienvater, saß wegen Vergewaltigung einer 15-Jährigen fünf Jahre im Gefängnis. Monika de Montgazon soll ihr Haus in Brand gesetzt haben, um ihren todkranken Vater zu töten und an sein Erbe zu kommen. Sie verbrachte knapp drei Jahre hinter Gittern. Schließlich wurde in jedem dieser Beispiele die Unschuld festgestellt.

Obwohl jeder Justizirrtum ein Leben zerstören kann, wird die Zahl der Fehlurteile nicht einmal vom Staat erfasst. Die bundesweite Statistik wurde 1998 abgeschafft – offizieller Grund: Bürokratieabbau. Einen ungefähren Eindruck gibt vielleicht die beeindruckende Höhe der Haftentschädigungen, die von den Bundesländern gezahlt werden.

Allein in Bayern wurden im Jahr 2011 knapp 260.000 Euro für sogenannte immaterielle Haftentschädigungen erstattet. Diese beziehen sich alleine auf die in Haft verbrachte Zeit. In Hamburg betrugen die Haftentschädigungen im Jahr 2010 rund 100.000 Euro, in Niedersachsen 240.000 Euro, materielle Schäden wie Verdienstausfälle sind hier eingerechnet. Diese Zahlen erklären jedoch weder Schuldfragen noch Fragen zu Fehlurteilen. Ob für Untersuchungshaft oder zu Unrecht abgesessene Haft: Entschädigt wird immer gleich – bis zum Jahr 2009 noch mit lächerlichen elf Euro, inzwischen sind es immerhin 25 Euro am Tag.

Berufliche Existenz zerstört

Auch das ist im EU-Vergleich nicht viel. Frankreich zahlt bis zu 50 Euro, in den Niederlanden sind es zwischen 80 und 105 Euro pro Tag. Reicht das? Der Berliner Rechtsanwalt Hannes Honecker sagt: „Man kann die Freiheitsentziehung nicht entschädigen. Selbst wenn es zu einem Freispruch kommt, sind meine Mandanten schon durch den Prozess so erschüttert, dass sie 25 Euro am Tag nicht als Entschädigung empfinden.“

Ersetzt werden auch „Kosten für Wiederherstellung einer durch eine Haft beeinträchtigte Gesundheit“. Die gesundheitlichen Leiden werden vom Bundesjustizministerium zu den „typischen Vermögensschäden“ gezählt. Dennoch: Die Inhaftierten verlieren Lebenszeit, und ein Menschenleben ist kein Modellbaukasten mit Ersatzteilkatalog.

Stigmatisiert durch Gefangenschaft verlieren viele Betroffene ihre Arbeit und werden nur selten wieder eingestellt – ganz geheuer ist den meisten Arbeitgebern ein Gefängnisaufenthalt nämlich nicht, auch wenn die Unschuld am Ende rechtskräftig festgestellt wird. Der Gefängnispsychologe Götz Eisenberg sagt über die unschuldig Inhaftierten: „Für die Ehre dieser Leute ist so ein Urteil essenziell. Doch durch die Kämpfe bis dahin sind sie gesundheitlich ruiniert, die berufliche Existenz ist zerstört. An der Unschuldsfeststellung können sie sich nicht mehr erfreuen.“

Die Justiz unter sich

Wie kann es überhaupt zu Justizirrtümern kommen? Alleine wenn man sich ansieht, wie oft Urteile von einer höheren Instanz aufgehoben oder geändert werden, zeigt sich, dass Richter die Wahrheit nicht hundertprozentig erkennen können. Aufsehen erregen jene Fälle, in denen es scheint, als sei nicht mal versucht worden, die Wahrheit zu finden. Der Untersuchungsausschuss des bayerischen Landtags untersucht mögliche Beziehungen zwischen Politik, Behörden und Justiz. Gefängnispsychologe Eisenberg sieht ein allgemeineres Problem: „Es hat unter Richtern, Staatsanwälten und Gutachtern immer schon eine gewisse Nähe gegeben. Man entstammt demselben Milieu, kennt sich vom Studium her, trifft sich bei Theaterpremieren. Gefangene erleben diese Konstellation häufig als kompakte Majorität einer anderen Klasse, die dann über sie zu Gericht sitzt.“

Aber auch andere Faktoren können Urteile beeinflussen. „Das Risiko von Fehlurteilen ist bei sogenannten Beziehungstaten am höchsten, da man hier besonders auf Zeugenaussagen angewiesen ist“, sagt Eisenberg. Er spricht von Zeitgeistphänomenen und merkwürdigen Komplizenschaften zwischen männlichen Richtern und männlichen Angeklagten in den fünfziger und sechziger Jahren, die sich an Urteilen zu Vergewaltigungsfällen erkennen ließen. „Dem Opfer, der Frau oder dem Kind, wurde relativ schnell nicht geglaubt. Jetzt sind diese Mentalitäten gekippt, und eine neue Sensibilität hat sich entwickelt. Das ist zu begrüßen, hat aber auch oft den Preis, dass das Pendel in die Gegenrichtung ausschlägt.“

Wer erst einmal unschuldig im Gefängnis sitzt, hat keinen großen Handlungsspielraum mehr. Man kann Anwälte oder Journalisten kontaktieren, in der Hoffnung, sie mögen den Fall übernehmen oder ihn an die Öffentlichkeit bringen, so wie es bei Gustl Mollath aktuell passiert. Aber das kann dauern.

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