"Nicht mehr unter Kontrolle"

1. Mai Die Beschwerden über den Einsatz von Pfefferspray durch die Polizei haben zugenommen, sagt Alexander Bosch von Amnesty International. Er will eine bessere Dokumentation
"Nicht mehr unter Kontrolle"

Foto: Rober Michael/ AFP/ Getty Images

Der Freitag: Herr Bosch, typische Folgen von Pfeffersprayeinsätzen sind Augenreizungen, vorübergehende Blindheit und Atembeschwerden. Im Jahr 2009 sind Menschen nach einem Pfeffersprayeinsatz gestorben. Wie gefährlich ist Pfefferspray wirklich?

Alexander Bosch: Beim Einsatz von Pfefferspray gegen größere Menschenmengen oder in geschlossenen Räumen ist die Gefahr groß, dass gesundheitlich besonders gefährdete Personen getroffen werden. Drogenkonsum, aber auch Allergien führen zu einer solchen Gefährdung. Der Einsatz ist dann nicht mehr unter Kontrolle.

Am 1. Mai wird die Polizei voraussichtlich wieder Pfefferspray gegen Demonstranten einsetzen. Welche Erfahrungen hat Amnesty International mit den 1. Mai Demos gemacht?

Wir betreiben da eine Art Monitoring. In den vergangenen Jahren gab es immer wieder Berichte über unverhältnismäßige Pfeffersprayeinsätze bei den Demonstrationen des 1. Mai. Im Jahr 2011 warfen Zivilbeamte ihren Kollegen vor, wahllos Pfefferspray eingesetzt zu haben. Wir beobachten, dass sich mehr Personen an uns wenden, und auch die Medienberichterstattung hat zugenommen.

Was erwarten Sie für diesen 1. Mai von der Polizei?

Ich hoffe, dass immer das mildeste Mittel zur Beruhigung der jeweiligen Situationen angewendet wird, und auch die zugezogenen Polizeikräfte aus den anderen Bundesländern freiwillig ihre Namen an der Uniform tragen.

Wie sieht es im EU-Ausland aus?

Frankreich, Italien und Griechenland gehen sehr offensiv mit Reizgas um. Im Vergleich setzt Deutschland relativ wenig Reizgas ein. Vor allem Tränengaskugeln, die in großer Distanz abgefeuert werden können, kommen gar nicht mehr zum Einsatz. Das ist als Fortschritt zu werten. Dafür beobachten wir hier eine zunehmende Verwendung von Pfefferspray, besonders gegen größere Menschenmengen. Bei uns häufen sich Beschwerden über den wahllosen und willkürlichen Einsatz von Pfefferspray.

Die Linkspartei fordert eine massive Einschränkung des Einsatzes von Pfefferspray durch die Polizei, wie steht Amnesty International dazu?

Wir fordern kein Verbot, aber einen umsichtigeren Einsatz und eine bessere Dokumentation von Pfeffersprayeinsätzen. Beschwerden von Betroffenen können aus Mangel an Dokumentation nicht nachgeprüft werden. Wir von Amnesty haben aber nur diese Beschwerden und Medienberichte, auf die wir uns berufen können. In der polizeilichen Statistik erscheinen diese Einsätze nicht.

Wie könnte eine Dokumentation praktisch aussehen?

Im Prinzip vertreten wir einen moralischen Standpunkt, entwickeln aber keine Konzepte zur praktischen Umsetzung. Da muss sich die Polizei oder die Politik Gedanken machen. Wünschenswert wäre eine Statistik mit Antworten auf die Fragen des Wann, Warum und der Menge.

Polizeieinsätze werden bereits mit Video dokumentiert. Ist das nicht ein ausreichendes Mittel?

Nur teilweise. Amnesty fordert einen unabhängigen Untersuchungsmechanismus für die Aufarbeitung umstrittener Polizeieinsätze. Wir mussten feststellen, dass Ermittlungen von Polizei gegen Polizei oftmals lückenhaft sind, und genau dann dieses Videomaterial nicht aussagekräftig ist.

Versucht die Polizei, zu vertuschen?

Die Polizei ist an das Legalitätsprinzip gebunden, sie muss Fehlverhalten zur Anzeige bringen. In der Praxis wird jedoch ungern gegen Kollegen ermittelt. Da schwenkt vielleicht zufällig mal die Kamera des Dokumentationsteams weg, um gar nicht in die Verlegenheit zu kommen, gegen Kollegen ermitteln zu müssen.

Statistiken zufolge werden über 90 Prozent der Verfahren gegen Polizeibedienstete eingestellt. 10 Prozent werden verurteilt, und dann auch nur sehr milde bestraft. Bekommt ein Polizeibeamter ein Jahr Gefängnis- oder Bewährungsstrafe, verliert er seine Pensionsansprüche und muss aus dem Polizeidienst ausscheiden. Deswegen fallen die Strafen für Beamte oft milder aus als für Normalbürger, die von der Polizei wegen einer Widerstandshandlung oder einer Beleidigung angezeigt wurden. Diese werden zu circa 90 Prozent verurteilt.

Woran liegt das?

Oft eröffnen Gerichte aus Mangel an Beweisen das Verfahren gar nicht erst. Passiert es doch, enthalten sich Beamte einer Aussage. Das ist zweifellos auch ihr gutes Recht. Oft heißt es auch, man hätte die Handelnden nicht erkennen können. Außer in Berlin und Brandenburg sind in Deutschland Beamte der Bereitschaftspolizei nicht individuell gekennzeichnet. Hinzu kommt, dass Beamte, die gegen Kollegen aussagen, innerhalb der Polizei massiv gemobbt werden. Einige Beamte haben einfach nicht den Mut auszusagen, auch wenn sie Handlungen von Kollegen kritisch sehen. Sie gelten sonst als Nestbeschmutzer.

Gibt es Vorzeigebeispiele in Europa, wie man eine unabhängige Untersuchung organisieren kann?

Als gutes Beispiel gilt die Independent Police Complaints Commission IPCC in Großbritannien, in Irland existiert ein ähnliches Modell. Europaweit gelten diese beiden Institutionen als Vorbild. Das sagt auch der Menschenrechtskommissar des Europaparlaments, genauso wie der europäische Gerichtshof für Menschenrechte. Daran könnte man sich orientieren. Wenn ein solcher Mechanismus eingerichtet wird, muss er finanziell und personell so ausgestattet werden, dass er seine Arbeit erfüllen kann. Dazu zählen eigene Ermittlungsteams, eigene Ermittlungskompetenzen, Zugangsrechte zu Dienststellen, Gefängnis- und Gewahrsamsräumen.

Das Gespräch führte David Kappenberg

Alexander Bosch befasst sich bei Amnesty Internation mit dem Thema Polizei und Menschenrechte.

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Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

David Kappenberg

Freier Journalist auf Hospitanz.

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