„Sozialdemokrat? Für den breit aufgestellten Staat!“, ruft einer der Gegendemonstranten und streckt vorbeigehenden Passanten ein Tablett mit grün gefüllten Schnapsgläsern aus Plastik entgegen. „Pfeffi hält die Straßen rein“, sagt er. Aber die meisten lehnen den Minzlikör ab, auch die grimmig dreinblickenden Einsatzpolizisten. Es ist ja auch erst halb neun, an diesem nasskalten Samstagmorgen. Und die Gegendemonstranten sind nur da, weil auch die Polizei da ist.
Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) wirbt vor dem Estrel Convention Center in Berlin für den Einsatz von Pfefferspray. Anlässlich des SPD-Landesparteitages, der hier an diesem Tag stattfindet, verteilen ein paar Gewerkschafter an die Deligierten Handzettel mit Informationen zu Reizgas. Denn auf dem Parteitag soll auch über einen Antrag der Berliner Jusos gesprochen werden. Dieser fordert, „den Einsatz von Pfefferspray durch die Berliner Polizei in Zukunft grundsätzlich zu verbieten“.
Die GdP ist anderer Meinung. „Pfefferspray ist eine sanfte Möglichkeit Widerstand zu brechen", sagt einer der Gewerkschafter. "Die Wirkung hält nur zehn bis dreißig Minuten an. Wenn ich jemandem das Jochbein breche, hat der deutlich länger was davon.“ Bei größeren Menschenmengen müsse der Einsatz von Reizgas mehrfach angekündigt werden, so fordere es das Gesetz. "Demonstranten haben nach diesen Ansagen immer noch die Möglichkeit sich zu entfernen“, erklärt er.
Es gehe darum, Konflikte nicht eskalieren zu lassen. „Früher hat man gesagt: Gut, du gehst halt ran an denjenigen, und haust ihm, lapidar gesagt, auf die Schnauze. Da ist Pfefferspray doch das geringere Übel.“
Sein bestes Schmerzgesicht
Aber nicht nur Handzettel, sondern auch eine kleine Theaterszene an der Straßenecke zeigt, wie nützlich Pfefferspray für den Polizeialltag sein kann. Ein betrunkener Ehemann schreit seine entsetzte Frau an. Die Vodkaflasche fliegt über die Straße, genau wie der Tisch von Ikea. Dann will er sie mit der Faust ins Gesicht schlagen. Die Frau ist schockiert, doch stürmen im gleichen Moment Polizisten durch die imaginäre Tür und stellen den gewalttätigen Ehemann.
Obwohl nur mit weißen Styroporschlagstöcken, Plastikpistole und Pfefferspray ohne Pfeffer bewaffnet, sieht das Schauspiel gefährlich aus. Gerade will einer der Beamten seine Plastik-Dienstwaffe ziehen, da gelingt es seinem Kollegen mit einem schnell gezogenen Requisitenpfefferspray, das inszenierte Ehedrama zu entschärfen. Der Ehemann spielt sein bestes Schmerzgesicht, fällt auf die Knie, wird gefesselt und schließlich abgeführt.
Nach jeder dieser Darstellungen versucht ein Gewerkschafter per Megafon die Forderungen der GdP zu erklären, was ihm kaum gelingt. Er wird von zwei Dutzend Gegendemonstranten übertönt. Sie rufen: „Pfeffer ins Gesicht, ob friedlich oder nicht“, und immer wenn der gespielte Ehemann vor gespieltem Pfefferschmerz das Gesicht verzieht, brüllen die Demonstranten: „Nachwürzen!“
Schauspiel im Schauspiel
Zwischen Gewerkschaftern und Gegendemonstranten steht eine Reihe aus echten Beamten der Einsatzpolizei, mit echten Schlagstöcken und echtem Pfefferspray. Beide Seiten scheinen diese Trennung zu akzeptieren und gehen ihren Anliegen nach. Nur die Pressefotografen suchen immer neue Perspektiven. Vereinzelte Ausreißer der Gegendemonstranten werden von den Beamten freundlich aber bestimmt wieder zurück zu den ihren begleitet.
Ein bisschen abseits, und mit weniger Aufmerksamkeit der anwesenden Medienvertreter bedacht, steht noch eine Gruppe der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di, die einen Tarifvertrag für Musikschullehrer fordert. Die Pfefferspraydemonstranten haben der Gruppe offensichtlich die Show gestohlen.
So geht das bunte Treiben, bis der Nieselregen wieder einsetzt und die allgemeine Lust an der Sache abkühlt. Die ersten Fotografen gehen und die Rufe der Gegendemonstranten werden leiser, einige machen sich schon auf den Heimweg.
Kein Heimweg ohne Anzeige
Anscheinend in die falsche Richtung. Sechs Polizisten überwältigen einen der Gegendemonstranten, der sich offenbar zu weit von der symbolischen Trennlinie entfernt hatte. Ihm werden die Arme auf den Rücken gedreht, schon liegt er auf dem Asphalt, umringt von Polizisten. Er bewegt sich gar nicht. Die Ver.di-Gewerkschafter sprechen von einem Faustschlag ins Gesicht, sind empört und rufen, der Demonstrant habe sich nicht gewehrt. Da ist er auch schon im grünen Gruppentransporter verschwunden.
Auch die kleine Gruppe von Gegendemonstranten wird von Polizisten in schwerer Montur eingekreist, während auf der anderen Straßenseite zwei weitere Gegendemonstranten in Gewahrsam genommen werden. „Wir wurden nicht vorgewarnt, dass so etwas passieren könnte", sagt einer von ihnen. "Uns wurde gesagt, wir sollten auf diesem Teil des Weges bleiben, was wir auch getan haben. Als ich gehen wollte, rannten Beamte hinter mir her und haben mich im Sicherheitsgriff zurückgebracht.“
Pfefferspray – das geringere Übel
Personalien werden aufgenommen. Seitens der Polizei heißt es, gegen die Demonstranten werde Anzeige wegen Störung einer Veranstaltung erstattet. Die Kundgebung der Gewerkschaft war für den Zeitraum von 8:30 Uhr bis 9:15 Uhr angemeldet. Jetzt ist es 10 Uhr, die Gegendemonstranten hatten ihre Aktion vorher nicht angekündigt.
Ein Einsatzpolizist sagt, dieses Ende sei von Anfang an absehbar gewesen. „Wir konnten erst so spät eingreifen, weil wir noch auf Verstärkung warten mussten.“ Die Demonstranten hätte man davon in Kenntnis setzen müssen, räumt er ein. Doch an eine solche Vorwarnung kann sich keiner der Anwesenden erinnern. Zudem erscheint vielen Gegendemonstraten die Reaktion der Polizei völlig unverhältnismäßig. „Alle sind friedlich gewesen“, sagt ein Teilnehmer, „dann wurde ohne Vorwarnung hart durchgegriffen. Keiner konnte gehen.“
Einige der Gegendemonstranten haben sich inzwischen auf den Boden gesetzt. Sie warten. Die Polizisten warten auch, doch die Personalien können nur langsam aufgenommen werden. Ein Passant schüttelt den Kopf und fragt noch im Vorbeigehen: „War das denn nun nötig?“ Immerhin ist das echte Reizgas an diesem Morgen nicht mehr zum Einsatz gekommen.
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