Schmerz auf Knopfdruck

1. Mai Pfefferspray ist möglicherweise gefährlicher als bisher angenommen. Einsatzdokumentationen oder Meldeverpflichtungen seitens der Polizei gibt es dennoch nicht
Schmerz auf Knopfdruck

Foto: Robert Michael/ AFP/ Getty Images

November 2011 – auf dem Campus der Universität UC Davis, Kalifornien. Friedliche Demonstranten der Occupy-Bewegung versperren mit einer Sitzblockade einen gepflasterten Weg auf dem Universitätsgelände. Mit ihren ineinander verschränkten Armen bilden sie eine Kette, von den Polizisten vor Ort unmöglich zu entwirren. Bis auf die Rufe der Umstehenden ist die Szene ruhig, nichts passiert. Vorerst.

Dann baut sich ein Polizist vor den Sitzenden auf, schüttelt eine rote Dose, zielt und sprüht geduldig mit einem großen Schwenk jedem der Demonstranten ein orangefarbenes Pfefferspray ins Gesicht. Unter den umstehenden Studenten macht sich Entsetzen breit, kurz darauf geht ein Aufschrei durch die USA, dann über den Globus. Aus einer Vielzahl von Perspektiven zeigen Youtube-Videos diese Szene, die in der Folge millionenfach aufgerufen wird.

Gravierende Gesundheitsstörungen

Pfefferspray steht im Verdacht, gefährlicher zu sein als bisher angenommen. Bei den alljährlichen Demonstrationen am 1. Mai ist ein friedlicher Verlauf nach den Erfahrungen der letzten Jahre zu bezweifeln.

Die Linkspartei beklagt das „unterschiedslose Besprühen“ von Demonstranten mit Pfefferspray um „eine Auflösung der Versammlung zu erzwingen“ und wirft den Einsatzkräften der Polizei vor, das Risiko verletzter Personen in Kauf zu nehmen. Die Deutsche Polizeigewerkschaft räumt ein, selbstverständlich könne nicht ausgeschlossen werden, dass „gravierende Gesundheitsstörungen eintreten ..., wenn etwa Störer unter Einfluss von Drogen stehen oder unter Atemwegserkrankungen leiden“, wie der Bundesvorsitzende Rainer Wendt sagt.

Gefahr bei Drogenkonsum

Typische Symptome bei Reizgaseinsätzen sind Augenreizungen, vorübergehende Blindheit, Atembeschwerden und Schockzustände. Der Spiegel berichtete 2009 von drei Todesfällen in Zusammenhang mit Pfeffersprayeinsätzen der Polizei in Deutschland – Drogen waren jedes Mal im Spiel. Anlässlich des Gebrauchs von Reizgas bei den Demonstrationen gegen "Stuttgart 21" hat der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages ein Gutachten erstellt. Schon damals wurde von einer indirekten gesundheitlichen Gefahr für Personen unter Drogeneinfluss, Asthmatikern, Allergikern und Blutdruckpatienten ausgegangen – bei diesen Personen könne Pfefferspray tödlich wirken.

Nach Angaben des Spiegels wurde der Polizei der Einsatz von Pfefferspray gegen psychisch Kranke und Menschen unter Drogeneinfluss sogar empfohlen. Während die Linkspartei die Verhältnismäßigkeit von Einsätzen mit Pfefferspray kritisiert, stellt Pfefferspray aus Sicht der Bundesregierung immer noch das beste unter den schlechten Mitteln zur Ausübung unmittelbaren Zwangs dar. Schlagstöcke oder Schusswaffen könnten deutlich schwerere Verletzungen hervorrufen.

Fortschritt der deutschen Polizei

Im Vereinigten Königreich wird von der Verwendung von Reizgas zur Auflösung von Versammlungen abgeraten. Panik oder Hysterie könnten die Folge sein, heißt es im Empfehlungsschreiben der britischen Association of Chief Police Officers.

In Frankreich, Italien und Griechenland ist Reizgas zur Auflösung von Demonstrationen jedoch das Mittel schlechthin. Dies sei ein „entscheidender Unterschied in der Einsatztaktik“, sagt Alexander Bosch von Amnesty International Deutschland. Im Vergleich zum EU-Ausland gingen die deutschen Einsatzkräfte gemäßigter vor, was durchaus als „Fortschritt der deutschen Polizei zu werten“ sei. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gilt europaweit, Auslegung und Überprüfung der Einhaltung sind jedoch unterschiedlich.

Die Linkspartei fordert in einer Kleinen Anfrage die umfassende Dokumentation solcher Einsätze, um die Einhaltung des Gebotes der Verhältnismäßigkeit überhaupt erst überprüfen zu können. Im Antwortschreiben der Bundesregierung heißt es, sie verwahre "sich entschieden gegen den latenten Vorwurf des unkontrollierten und undifferenzierten Einsatzes von Pfefferspray." Ulla Jelpke von der Linkspartei kritisiert, dass die Regierung zugleich jegliche Einsatzstatistik ablehnt.

Im Fall der kalifornischen Studenten gab es damit offensichtlich keine Probleme. Die Polizisten ließen umstehende Demonstranten ungestört filmen. Der beschuldigte Polizist wurde eindeutig identifiziert, die Studenten klagten und ein Gericht entschied. Die Betroffenen bekamen eine Entschädigung von einer Million Dollar.

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Geschrieben von

David Kappenberg

Freier Journalist auf Hospitanz.

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