Kopierer, wer bin ich?

Ausstellung Pati Hill schuf Kunst durch Reproduktion. In München ist eine Auswahl zu sehen
Ausgabe 28/2020

Bei Ausstellungen von kürzlich wiederentdeckten und leider bereits verstorbenen Künstlerinnen, denen zu Lebzeiten nur wenig bis gar keine Aufmerksamkeit von Institutionen und Kunstmarkt zuteil wurde, stellt man sich immer wieder die Frage: Was ist hier passiert? Warum erst jetzt? Ganz besonders dann, wenn die Arbeit selbst eine ganze Reihe ästhetischer Bezugsfelder sowie Techniken der Gegenwartskunst vorweg nimmt. Im Fall von Pati Hill erscheint die Antwort wie ein unlösbares Rätsel, erfüllt sie doch gleich mehrere der klassischen Anforderungen einer vielversprechenden Künstlerinnen-Karriere ihrer Zeit. Keineswegs kann man von einer Outsider-Künstlerin sprechen. Seit 1960 ist sie mit dem New Yorker Pop-Art Galeristen Paul Bianchini verheiratet, ihre gemeinsame Tochter bringt sie 1962 in Manhattan zur Welt. 1975 stellt Bianchini ihr die Kunsthändlerin Jil Kornblee vor, die Hill „uptown“ fünf Einzelausstellungen ausrichtet.

Es fällt dabei auf, dass sie kaum enge Freundschaften zu Künstlerinnen pflegt, Hills Wege kreuzen sich eher mit wichtigen Figuren der (heute würde man sagen queeren) New Yorker Literaturszene, etwa George Plimpton, Truman Capote (mit dem sie sich zeitweise sogar ein Landhaus teilt) oder James Merril. Hill schreibt bis 1976 selbst fünf Romane, von denen sie einige bis hin zu Filmoptionen erfolgreich verkaufen kann, kokettiert aber in der Öffentlichkeit immer wieder damit, in Wirklichkeit gar keine Schriftstellerin zu sein. Mit der Fotografin Diane Arbus sagt man Hill eine Affäre nach, die damals augenscheinlich schon ein entspannteres Verhältnis zu ihrer eigenen Homosexualität entwickelt hat, welches auch Ausdruck in ihrem Werk findet. Der Kontakt zu Arbus kommt durch Hills Anbindung an das New Yorker Fashion-Milieu zustande. In der Upper-Eastside wird sie kurz nach ihrer dortigen Ankunft 1941 bei einer Gelegenheitsarbeit als Model entdeckt. In den 1940er- und 50er-Jahren schafft sie es auf die Titelseite von Lifestyle Magazinen wie Harper’s Bazar, LIFE und Elle, bricht ihre Model-Karriere dann aber abrupt ab.

Das „wahre“ Gesicht gesucht

1983 antwortet Hill einem Journalisten auf die Anfrage nach einem Portrait von ihr zur Illustration eines Artikels: „Ich glaube nicht mehr an Porträts, seit ich selbst ein Model war. Damals blätterte ich oft in Zeitschriften und hoffte darauf, mein ‚wahres‘ Gesicht zu entdecken, fand aber immer nur das wahre Gesicht des Fotografen sowie einen Vorschlag des Produktes, für das ich Werbung machen sollte.“ Vielleicht findet sich hier ein erster Hinweis auf Hills psychischen Zustand und das sie zeitlebens begleitende Gefühl der Selbstentfremdung.

Hill wächst in ärmsten Verhältnissen als Einzelkind in Virginia mit ihrer vom Vater geschiedenen Mutter auf. Mit elf Jahren vollendet sie bereits ihren ersten Roman: The House that Grew. Schon damals ändert sie häufig ihren Namen (auch Pati Hill ist wohl einer ihrer vielen Aliasse). Ihre spätere künstlerische Arbeit könnte man als den Versuch einer Selbst-(Wieder)-Aneignung lesen, zum großen Teil unter Zuhilfenahme einer externen Agentin – dem Kopiergerät –, die sie als Übersetzer- und Vermittlerin zwischen verschiedenen Ebenen ihres Selbst und ihrer Umwelt einsetzt. Übersetzungen von Bild in Sprache beziehungsweise Sprache in Bild sowie von Sprache in Zeichen und Zeichen in Bilder bis zu Bilder in Systeme werden ab Mitte der Siebzigerjahre zum Gegenstand ihres künstlerischen Schaffens, das im Kunstverein München nun erstmals in Deutschland im Format einer Einzelausstellung zu sehen ist und neben einer Auswahl aus dem von Hill hinterlassenen Werk aus über 15.000 Kopierarbeiten auch Vitrinen voller Texte, Bücher und Korrespondenzen der Künstlerin zeigt. Seit 1976 arbeitet Pati Hill mit dem Kopiergerät 3M von IBM. Über diesen monströsen und damals unbezahlbar teuren Apparat schreibt sie 1977 auf einer ihrer Einladungskarten: „Diese untersetzte, nichtssagende Schachtel steht drei Fuß hoch ohne Strümpfe oder Füße und leuchtet wie ein Weihnachtsbaum, egal, was ich ihr zeige. Sie wiederholt meine Worte perfekt so oft wie ich es verlange, aber wenn ich ihr einen Lockenwickler zeige, gibt sie mir ein Raumschiff zurück, und wenn ich ihr das Innere eines Strohhutes zeige, beschreibt sie die unheimlichen Freuden des Abstiegs in einen Vulkan.” Mit eben dieser „untersetzten Schachtel“ unterhält Hill eine Art libidinöse Beziehung, die sie während nächtlicher Rendezvous in den Büros von IBM auslebt. Zu diesem Ort verschafft ihr eine dort angestellte Freundin heimlich Zugang. Nicht selten lässt sie sich hier über ganze Wochenende hinweg einschließen. Ihrer „Schachtel“ vertraut sie dann zum Beispiel die Oberflächen und Faltenwürfe großer Teile ihrer Garderobe an (Garments, 1976) oder platziert Haushaltsgegenstände wie eine Käsereibe, Scheuermittel oder ein Portemonnaie auf ihm. Der damals noch sehr ungenau arbeitende 3M hinterlässt in den Reproduktionen dieser Objekte eine ganze Reihe von Löchern und Fehlern, die Hill liebevoll „Stars“ nennt.

Während einer Flugreise sitzt sie zufällig neben dem Designer Charles Eames, der zu dieser Zeit bei IBM als Berater tätig ist. Er ist so begeistert von Hill, dass sie eine eigene Copier-II-Maschine geliehen bekommt. Hill kultiviert eine Korrespondenz mit Eames bis zu seinem Tod, infolge dessen IBM leider auch das Kopiergerät zurückfordert. Nachdem Hills enger Austausch mit ihrer so geliebten Schachtel nun endgültig unterbrochen ist, entsteht Dreams, Objects, Moments (1976) und damit der Versuch, wie sie selbst erklärt, „eine Ausstellung zu machen, die meinen Zugang zum Kopierer offenlegte, ohne dass ich einen Kopierer dazu benutzen musste“. Auf gefärbtes Papier – Grün für Dreams, Rosa für Objects und Gelb für Moments schreibt Hill Gedanken und Beschreibungen von Objekten, die sie sonst wohl nur ihrer Schachtel anvertraut hätte und verwischt die Grenze zwischen Wort und Bild vollständig zugunsten einer Meta-Erzählung, die dem Kopierer den Status einer fiktiven und unerreichbaren Freundin zukommen lässt.

Info

Pati Hill: Something other than either im Kunstverein München noch bis zum 16. August

David Lieske ist Künstler und lebt in Berlin

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