Es müssen doch glückliche Bewohner sein

Architektur Berlin muss dem vergangene Woche verstorbenen Oscar Niemeyer kein Denkmal mehr errichten. Der Architekt hat sich im Hansaviertel selbst eines gebaut
Das Niemeyer-Haus in Berlin-Tiergarten
Das Niemeyer-Haus in Berlin-Tiergarten

Foto: Annette Kiesling

Im Hansaviertel schwebt das Oscar-Niemeyer-Haus, aufgeständert über V-förmigen Betonstützen, die ihm den Berolinismus „Spitzbein“ eingebracht haben – eine Bezeichnung, die, wenn überhaupt je verwendet, aus einer Zeit stammen muss, in der gekochte Schweinsfüße häufiger auf dem Speiseplan standen als heute. Auf den ersten Blick ist es vielleicht nur ein Block mit sieben Etagen, der abgerückt und schräg zur Altonaer Straße steht. 78 Wohnungen stecken in ihm, er ist 72 Meter lang, 15 Meter breit und 27 Meter hoch. Und sieht auf den zweiten Blick aus, als könnte er jeden Augenblick abheben und nach Brasília fliegen, in die Stadt, für die Oscar Niemeyer einst alle öffentlichen Gebäude entwarf.

Sein Klein-Brasília verdankt Berlin der Interbau von 1957, der Bauausstellung, die aus dem Hansaviertel das Schulbuchbeispiel für aufgelockerten innerstädtischen Wiederaufbau machte. Anstelle der früheren, größtenteils kriegszerstörten geschlossenen Bauweise entstand ein Wohngebiet ohne traditionelle Randbebauung. Weshalb die Stadt sich hier auch nicht eigentlich wie Stadt anfühlt, sondern eher wie ein Park mit eingestreuten Häusern. Was ein Argument für oder gegen diese Art von Städtebau sein kann – und es in den vergangenen Jahrzehnten, in denen um die Ausrichtung der Stadtplanung gestritten wurde, immer auch war. Seit Niemeyer seinen Solitär in Tiergarten hat landen lassen, hatte mal die eine, mal die andere Fraktion die Oberhand. Dass es an dieser Stelle einst ein hochverdichtetes, steinernes Berlin gab, ein Gründerzeitviertel wie viele andere in der Stadt, verrät heute nur noch die alte Straßenführung.

In einer der Wohnungen im siebten Stock des Niemeyer-Denkmals jedoch muss jeder Besucher zu einem Anhänger des aufgelockerten Städtebaus werden. Es bleibt ihm gar nichts anderes übrig. Denn wer dort wohnt, wohnt über den Wipfeln und hat freien Blick. Um das Haus herum herrscht ein Freiflächenluxus, von dem Hinterhofbewohner nur träumen können. Darüber hinaus überzeugen die gut geschnittenen Wohnungen durch Einbauschränke und eine angenehm gekrümmt geführte Wand im Wohnzimmer; eine Wölbung, die ein Gefühl, sich in einem Schuhkarton zu befinden, gar nicht erst aufkommen lässt.

Das Haus hat seine Besonderheiten: Fahrrad- und Abstellräume liegen, eher ungewöhnlich in Berlin, im 8. Stock. Und im 5. Stock gibt es eine Gemeinschaftsetage, in der, so war das gedacht vom Architekten, der 104 Jahre alt wurde, sich die Hausbewohner treffen und zusammen feiern sollten. Zwar scheint das dort weniger oft zu passieren, als wenn dieses Haus tatsächlich in Brasilien stünde – trotzdem, wie der Zufall es will, erinnert der Verfasser dieser Zeilen sich an eine Party vor ein paar Jahren in eben dieser Gemeinschaftsetage, ein Empfang nach einer Hochzeit, das Paar wohnt im Haus.

Am Fuße des separaten Aufzugsturms stand diese Woche neben der Tür ein Messingbecher im Schnee. In ihm drei rote Rosen, arrangiert vor einer Fotografie von Oscar Ribeiro de Almeida Niemeyer Soares Filho, wie der volle Name des Architekten lautet. Welche Bewohner stellen dem Erbauer ihres Hauses schon Blumen auf? Es müssen doch glückliche Bewohner sein. Glücklich, weil der Baumeister ihnen Wohnraum geschaffen hat, in dem es leichter fällt, glücklich zu sein.

Von David Wagner ist zuletzt Welche Farbe hat Berlin erschienen. Im März erscheint Leben im Rowohlt Verlag

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