Das hatte sich Angela Merkel wohl anders vorgestellt. Als sie sich vorige Woche mit einer Schulklasse zum „Bürgerdialog“ traf, schilderte die 14-jährige Reem ihre Situation. Sie ist Palästinenserin, lebt seit vier Jahren in Rostock und ihr droht die Abschiebung in den Libanon. Merkel reagierte hart: Es könne halt nicht jeder kommen. Als das Mädchen zu weinen anfing, wollte die Kanzlerin trösten: „Du hast das doch prima gemacht“, sagte sie. Nachdem der Moderator darauf hinwies, dass das Mädchen wohl nicht vor Aufregung weine, sondern wegen der schwierigen Lebenssituation, reagierte Merkel mit dem Satz: „Und deshalb möchte ich sie trotzdem einmal streicheln.“ Das Video machte im Netz die Runde, es hagelte Empörung. Während die einen der Kanzlerin Gefühlskälte vorwarfen, kritisierten andere die unmenschliche Flüchtlingspolitik, die in der Szene zum Ausdruck komme.
Sogar die Politik reagierte: Der Oberbürgermeister von Rostock kündigte an, der Familie vorerst keinen Abschiebungsbescheid auszustellen. Die Ausländerbeauftragte der Bundesregierung, Aydan Özoğuz, machte dem Mädchen Hoffnung, dass sie unter die jüngst beschlossene Bleiberechtsregelung fällt. Thomas Oppermann von der SPD brachte erneut ein neues Zuwanderungsgesetz ins Gespräch: „Junge, leistungsbereite Menschen, die sich integrieren wollen, müssen wir willkommen heißen“, sagte der Fraktionschef.
Zweiklassensystem
Tatsächlich könnte Reem unter die neue Bleiberechtsregelung fallen, die in den vergangenen Wochen von Bundestag und Bundesrat beschlossen wurde. Flüchtlinge, die seit vielen Jahren in Deutschland leben und nur geduldet sind, können demnach ein Bleiberecht erhalten. Die Anforderungen sind jedoch sehr hoch: Langjähriger Aufenthalt, erfolgreicher Schulbesuch, gute Deutschkenntnisse. Von Erwachsenen wird zudem ein für den Lebensunterhalt ausreichendes Erwerbseinkommen gefordert – angesichts des erschwerten Arbeitsmarktzugangs ist das für viele Flüchtlinge eine unüberwindbare Hürde.
Die Einschränkungen werden dafür sorgen, dass die meisten Menschen von der Bleiberechtsregelung ausgeschlossen sind. Die Bundesregierung selbst rechnet damit, dass lediglich ein Viertel der 120.000 Geduldeten von der Regel profitiert. Die übrigen müssen weiterhin alle drei Monate ihre Duldung verlängern, in der ständigen Angst vor einer Abschiebung. Es ist bezeichnend, dass Merkel nicht auf die Idee kam, Reem könnte unter die Bleiberechtsregelung fallen.
In das Bild passt auch die Diskussion um ein Zuwanderungsgesetz. Von ihm sollen vor allem Hochqualifizierte profitieren. Die neue deutsche Flüchtlingspolitik teilt Menschen in gute und schlechte Flüchtlinge ein: hier die „richtigen Flüchtlinge“ aus Syrien und dem Irak sowie jene, die lange hier leben und „wirtschaftlich integriert“ oder hochqualifiziert sind. Sie sollen bleiben dürfen. Dort die „Armutsflüchtlinge“ vom Westbalkan und aus Afrika. Ihnen drohen Inhaftierung und Abschiebung. Der Fall von Reem zeigt, dass die Einteilung manchmal gar nicht so einfach ist.
Dass sich die Politik nun bei dem Mädchen um Humanität bemüht, widerspricht der Flüchtlingspolitik der vergangenen Monate. Gnadenlos wurde Deutschland weiter abgeschottet, besonders gegen Menschen aus dem Balkan. Nachdem im September letzten Jahres Serbien, Bosnien-Herzegowina und Mazedonien zu sicheren Herkunftsstaaten erklärt wurden, läuft die Abschiebemaschinerie auf Hochtouren.
Die Regelung bewirkt, dass Asylanträge aus diesen Ländern pauschal als offensichtlich unbegründet abgelehnt werden – obwohl insbesondere Roma in diesen Ländern erheblicher Diskriminierung ausgesetzt sind. Zwar war auch schon vorher die Anerkennungsquote sehr gering; was sich jedoch geändert hat, ist die Vehemenz, mit der die Behörden vorgehen. Allein in Bayern wurden bis Ende Mai 1.216 Personen abgeschoben, das sind mehr als im gesamten vergangenen Jahr.
Als Schleswig-Holstein im Winter einen vorübergehenden Abschiebestopp verhängte, wurde das Land von CDU-Bundesinnenminister Thomas de Maizière unter Hinweis auf die Herkunftsstaaten-Regelung zurechtgewiesen. Nur Thüringen traute sich, ebenfalls einen Abschiebestopp zu beschließen, die übrigen Länder schieben immer gnadenloser ab. Der Trend wird sich verschärfen, wenn auch Kosovo und Albanien zu sicheren Herkunftsländern erklärt werden. Konservativ regierte Länder und Thomas de Maizière fordern das, brauchen jedoch im Bundesrat die Unterstützung von mindestens einem grün mitregierten Bundesland. Bei der Einstufung von Serbien, Bosnien-Herzegowina und Mazedonien hatte der grüne Ministerpräsident Baden-Württembergs, Winfried Kretschmann, zugestimmt und dafür viel Kritik geerntet.
Gefangen im Westbalkan
Bund und Länder haben sich darauf geeinigt, Balkan-Flüchtlinge künftig nur noch in großen Erstaufnahmelagern unterzubringen. Von dort sollen sie nach Ablehnung des Asylantrags innerhalb von drei Monaten abgeschoben werden. Das meinte Merkel wohl, als sie Reem erklärte, die „einzige Antwort“ der Bundesregierung auf die Flüchtlingsproblematik sei, „dass es bloß nicht so lange dauert, dass die Sachen entschieden sind“. Schnellere Entscheidungen heißt in diesem Fall schnellere Abschiebungen. Die Bearbeitung von Asylanträgen mit besseren Anerkennungschancen dauern in aller Regel wesentlich länger.
Zudem wurde das Aufenthaltsrecht in den letzten Wochen verschärft. Flüchtlinge, deren Asylanträge wegen der Herkunftsstaaten-Regelung als offensichtlich unbegründet abgelehnt wurden, können ein Einreise- und Aufenthaltsverbot erhalten. Das bewirkt, dass sie nach einer Rückkehr in das Herkunftsland zwei Jahre lang nicht wieder einreisen dürfen. Da sich die Sperre auf den gesamten Schengen-Raum bezieht, können viele Zurückgekehrte zukünftig den Westbalkan gar nicht mehr verlassen, denn der Westbalkan ist von Schengen-Staaten umgeben. Bisher wird eine Einreisesperre nur bei einer Abschiebung verhängt. Diese vermeiden viele Flüchtlinge, indem sie vorher „freiwillig“ ausreisen
Auch die Gründe für eine Abschiebehaft wurden ausgeweitet. Künftig können Flüchtlinge schon dann eingesperrt werden, wenn sie bereits in einem anderen Schengen-Staat Asyl beantragt haben oder sich zur Einreise eines Schleusers bedienten – was auf fast alle Flüchtlinge zutrifft, weil eine Flucht ohne Helfer nahezu unmöglich ist. Einsperren statt reinlassen, nach diesem Motto handelt die Bundesregierung. Aber einem 14-jährigen Mädchen kann man so etwas natürlich nicht sagen.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.