Jahrzehntelang befanden sich die Jüdinnen und Juden hier inmitten eines großen Minenfelds. Eigentlich war das bis gestern noch so: „Keine Normalität im Land des Holocaust“, „unmögliche Heimat“ oder „fragile Normalität“ sind schnell zusammengesuchte Slogans und Buchtitel der vergangenen 50 Jahre. Sie zeigen, nichts ist im deutsch-jüdischen Nebeneinander nach dem Holocaust normal. Wenn man dazu noch einige Stereotype der Deutschen stellt, wird die Paradoxie noch eindeutiger: „Judenknacks“, „die Unfähigkeit zu trauern“ oder „Holocaustkeule“. Einem Gast aus der Fremde würde all das als klares Indiz für die Notwendigkeit einer Gruppentherapie vorkommen, eine riesige gesamtdeutsche Familienaufstellung.
In diesem Sommer kam es nun, während des Gaza-Kriegs, zu einer akuten Verschlechterung des Gesundheitszustands.Eine gewöhnliche Therapie scheint nach den jüngsten antisemitischen Ausschreitungen und einer mächtigen Verunsicherung der jüdischen Gemeinschaft kaum noch auszureichen. Müssen jetzt beide, Juden und Deutsche, doch wieder getrennt als gemeinsam auf die Couch? Also alles wie gehabt? Hoffentlich nicht!
Eine jüdische Gemeinschaft hätte es hier nach dem Holocaust nicht geben dürfen. Rund 300.000 deutsche Juden wurden deportiert und getötet; über fünf Millionen Juden vor allem im östlichen Europa umgebracht. Dennoch: Deutschland hat am Ende des 20. Jahrhunderts die in Europa am stärksten wachsende jüdische Gemeinschaft. Zu den hier lebenden 25.000 bis 28.000 sind von 1990 bis 2005 noch einmal circa 250.000 Jüdinnen und Juden und ihre (oft nichtjüdischen) Familien aus dem untergegangenen Sowjetreich dazugekommen. Sie machen heute zwischen 85 und 100 Prozent der Gemeinden aus und werden vom Zentralrat der Juden in Deutschland repräsentiert. Ein Zentralrat, der 1950 gegründet wurde und in dessen führenden Gremien Juden aus der ehemaligen UdSSR noch immer kaum vertreten sind.
How could they?
„How could they?“, diese Frage hat der US-amerikanische Historiker Zvi Gitelman im Rahmen einer Ausstellung in Frankfurt über diese „russisch“-jüdische Einwanderung nach Deutschland gestellt. Und diese Frage steht weiterhin im Zentrum: Wie konnten wir Sowjetbürger, auch ich bin einer von ihnen, nach all dem ins Land der Täter kommen? Warum nicht Israel oder die USA? Im Gegenteil: 2002 zogen zum ersten Mal rund 1.000 Juden mehr nach Deutschland als nach Israel. Und etwa 20.000 Israelis leben heute in Berlin.
Das geschah freilich nicht ohne die Dramatik einer Zäsur: „Mit der Zuwanderung der Juden aus der vormaligen Sowjetunion ist die Geschichte der bundesrepublikanischen Juden an ihr Ende gelangt“, sagte der Historiker Dan Diner einmal. Das war im europäischen Zusammenhang wichtig. Die weltweite Abgrenzung der Juden „zu allem, was mit Deutschland zu tun hatte“ erfuhr durch diese Einwanderung eine Entwicklung, deren Ergebnis noch nicht abzusehen ist. Die aber – so viel ist klar – die bisherige jüdische Weltwahrnehmung nach der Shoa massiv in Frage stellte.
Man nannte uns allgemein und sicher auch ein wenig abschätzig „die Russen“ – im Nachhinein ist das auch angesichts des aktuellen Konflikts zwischen Russland und der Ukraine unvorstellbar. Als wir in den 90er Jahren mit dem jüdischen Ticket als sogenannte Kontingentflüchtlinge, einem Status, der zunächst für die vietnamesischen Boat People gedacht war, hier landeten, wusste der deutsche Staat nicht richtig, wohin mit uns. Die Deutschen wussten direkt nach der Wiedervereinigung vor allem nicht richtig, wohin mit sich selbst. Aber auch umgekehrt galt: Ein Nachdenken über die Möglich- oder Unmöglichkeit eines Lebens als Juden in Deutschland war für uns nicht von allergrößter Relevanz. Die Eingewanderten hatten zu Hause die Endstation des Zumutbaren bereits gesehen und nahmen die Schwierigkeiten des Lebens hier eher als harmlos wahr.
Dort, wo wir herkamen, gab es buchstäblich nicht viel zu essen (deswegen ist es nicht klug, wegen der nicht sonderlich liebevollen Bezeichnung dieser Einwanderung als „Wurst-Emigration“ beleidigt zu sein). Die Gefahren waren nicht psychologischer, nicht mentaler, sondern ganz konkreter, nämlich krimineller oder bürgerkriegsartiger Natur. Wachsender Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit, neue Nationalismen in den ex-sowjetischen Republiken, die die komplette vorherige Geschichte umzudefinieren versuchten. Wie immer, es schien nicht mehr weiterzugehen. Auch wenn das mit der heutigen Situation in der Ostukraine natürlich nicht vergleichbar ist.
„Wisst ihr, wie unmöglich und strange dieses Post-Nazi-Deutschland ist“, sagten uns die alteingesessenen Juden zur Begrüßung. Sie meinten die psychologische Unmöglichkeit, die Straßen, Restaurants und Büros mit den Nachfolgern der Täter zu teilen oder sie als Nachbarn zu haben. Wir aber lachten nur. „Seid ihr überhaupt Juden?“, fragten sie uns und meinten die nahezu vollständige Abwesenheit eines traditionellen religiösen Backgrounds in den Lebensläufen und Köpfen. „Lasst uns mit euren Komplexen und eurem religiösen Zeug in euren verschlossenen Gemeinden in Ruhe“, schienen wir zu antworten, ohne das freilich zu sagen. Die Werte, die Erwartungen und die Ängste der alten und uns neuen deutschen Juden waren und sind noch immer sehr unterschiedlicher Natur. Keine der beiden Seiten hat damals Harmonie angestrebt.
Aber die Öffentlichkeit sah: Dass die Juden wieder bereit sind, in das Land der Täter einzureisen, könnte ein Zeichen des Vertrauens in ein neues Deutschland sein. Im Jahr 2002 wurde ein neuer Staatsvertrag zwischen dem Zentralrat und der Bundesregierung abgeschlossen, der ein bedeutendes Bekenntnis zu einem neuen Judentum und seiner finanziellen Unterstützung markierte. In den vergangenen 20 Jahren wurden viele symbolisch wichtige Räume, Kulturzentren, Sakralbauten, Museen, Begegnungsstätten rekonstruiert oder wurden Mahnmale wie das Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin neu gebaut. Der Holocausttourismus wurde in Deutschland zu einem Markenzeichen der Globalisierung.
Einer dieser Bauten ist auch die 2010 eröffnete Neue Synagoge in Mainz, die anstelle der 1938 zerstörten errichtet worden ist. Es gibt in dieser Synagoge keine klassischen Räume, alles wackelt und bewegt sich leicht: Unter dem Einfluss des US-amerikanischen Stararchitekten Daniel Libeskind, der auch das Jüdische Museum in Berlin entwarf, wollte der deutsche Architekt Manuel Herz die Fragilität der jüdischen Existenz zum Ausdruck bringen. „Ich kann mich hier kaum bewegen“, beschwerte sich prompt ein postsowjetisch-jüdischer Kriegsveteran. Die Projektionen, die Schuldgefühle der Deutschen kollidierten also auf eine beinahe ironische Weise mit dem Leben.
Verschiedene Erinnerungen
Heute, 25 Jahre nach dem Beginn der jüdischen Einwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland, muss man feststellen: Das jüdische Leben geht weiter – aber in neuer Gestalt. Die ungefähr 108 Gemeinden haben heute rund 110.000 Mitglieder. Weit mehr als die Hälfte der Einwanderer sind jedoch gar keine Gemeindemitglieder, weil sie entweder Juden väterlicherseits und nach dem religiösen Gesetz damit keine Juden sind; oder weil sie schlicht nicht willig sind, in eine Gemeinde einzutreten.
Auch wahren die Einwanderer andere Erinnerungen. Unser Gedenktag ist der 9. Mai, der Tag des Siegs im Zweiten Weltkrieg, dem „Großen Vaterländischen Krieg“. Jener Tag, an dem wir als Schüler in den ukrainischen, weißrussischen und russischen Städten bereits morgens mit roten Nelken vor den Türen der Veteranen standen und gratulierten. Das Weiterleben wurde dort zelebriert, indem man der 25 Millionen nichtjüdischen und jüdischen sowjetischen Gefallenen gedachte. Der 9. November aber, Gedenktag an die Reichspogromnacht 1938, stellt für die meisten Einwanderer gerade nicht den Kern ihrer Erinnerung dar.
Das hat viele Gründe. Es mag mit den verschiedenen Erinnerungskulturen zu tun haben. Die staatliche sowjetische schloss die Reue und Schuld der eigenen Gesellschaft praktisch aus. Es mag aber auch mit den ziemlich erstarrten staatlichen Gedenkritualen hierzulande zusammenhängen, bei denen den Juden die Rolle der geschätzten symbolischen Statisten, die Rolle der Opfer, zufiel. Diese Rituale haben nicht alle Neuankömmlinge begeistert.
So kamen, wie der Sozialwissenschaftler Mischa Gabowitsch gezählt hat, am 9. Mai dieses Jahres mehr als 13.000 Besucher und Besucherinnen zum Sowjetischen Ehrenmahl im Berliner Treptower Park. Wie viele von ihnen waren Jüdinnen und Juden? Vielleicht die Hälfte, vielleicht mehr? Viele Soldatengeschichten, die man dort neben rührenden alten Fotos und Tausenden von Blumen lesen konnte, waren russischen, ukrainischen, weißrussisch-jüdischen Ursprungs. Diese Erinnerung gibt es in den Geschichten der deutschen Holocaustopfer, die jährlich in den Synagogen von den Enkelkindern am Holocaustgedenktag Jom ha-Shoa erzählt werden, nicht. Man erzählt von der Zerstörung des Lebens in Deutschland oder Polen, von den Verfolgungen, Deportationen oder vom Überleben mit einem unheilbaren Trauma. Diese Geschichten, die in Frankfurt am Main, Düsseldorf oder München von den Kindern weitererzählt werden, haben mit den sowjetischen nicht viel zu tun.
Aber was ist mit den fast komplett ausgerotteten Familien in den weißrussischen und ukrainischen Dörfern? Den Zehntausenden Erschossenen in den Parks und Wäldern der ukrainischen Städte? Den Ghettos in den okkupierten sowjetischen Städten? Den Evakuierungen jener Glücklicheren, die überlebt, aber alles verloren haben? Diese Geschichten werden zwar in den postsowjetischen Staaten zunehmend erzählt, aber sie fanden bisher nur wenig Zugang zu den hiesigen Gemeinden. Hier wird das Denken über „Sieger“ und „Opfer“ noch immer parallelisiert und kaum vermischt. Eine gemeinsame Sprache der Erinnerung existiert in der jüdischen Gemeinschaft nicht. Noch nicht. Andererseits wurde Deutschland genau deshalb nach dem Mauerfall zu einem europaweit einmaligen Sammelsurium jüdischer Erzählungen, Tragödien und Realitäten. Völlig egal, ob Gemeindemitglied oder nicht. Es ist also ein Patchwork-Judentum mit vielen Unterschieden und Widersprüchen entstanden, das man nicht mehr ignorieren kann und für das es neue politische, religiöse und kulturelle Ausdrucksmittel geben muss. Aber welche sind das oder könnten das sein?
Es mag viele überraschen, aber ja, eine größere Öffnung gegenüber Nichtjüdinnen und Nichtjuden müsste her. Mentale, identitäre, familiäre, religiöse Mischformen, intermarriages und gleichgeschlechtliche Ehen, Konversionen, all das gehört im heutigen deutschen Judentum de facto bereits zur Normalität und wird dennoch nur ungern zugegeben. Stattdessen herrscht noch immer jene alte Angst vor einem „Untergang des Judentums“. Diese Angst zu überwinden, könnte ein erster Schritt zu dieser Öffnung sein. Er würde sich nach innen vollziehen müssen und könnte dann nach außen strahlen.
Drei jüdische Biografien
Ich möchte Ihnen drei Frauen vorstellen: Johanna Korneli, Yulia Polyntseva und eine junge Israelin, die anonym bleiben will. Sie stehen für dieses neue Patchwork-Judentum. Wie so oft in der jüdischen Tradition wird die Rolle der Frauen zwar anerkannt und hoch geschätzt, die Frauen selbst spielen in der Realität aber immer noch eine untergeordnete Rolle. Die Debatten und Diskurse um die deutsch-jüdische Nachkriegsgeschichte wurden von Männern geführt und geprägt. Das ist alles andere als gerecht.
Johanna Korneli ist 31 Jahre alt, stammt aus Ostberlin, ist Sozialwissenschaftlerin, war nichtjüdische Absolventin des jüdischen Moses-Mendelssohn-Gymnasiums in Berlin und langjährige Mitarbeiterin des American Jewish Committee. Die Mutter zweier Kinder, darunter ein Sohn mit einem Juden, fühlt sich in vieler Hinsicht jüdisch. Aber: Sie möchte nicht zum Judentum konvertieren. „Entweder gehört man dazu oder nicht“, sagt sie. „Dass ich seit meinem zwölften Lebensjahr die jüdische Tradition immer besser beherrsche, viel besser als mancher meiner jüdischen Freunde“, ist „typisch und komisch“ zugleich.
Johanna hat die Wende im geschützten Raum einer jüdischen Schule relativ problemlos überstanden. Sie fühlte sich dort weniger in den Ruinen der DDR als vielmehr in einem exterritorialen Israel: „Wir haben alle Davidsterne getragen, fühlten uns wie coole Israelis, ohne uns in jüdisch/nichtjüdisch zu trennen. Wir haben uns nur gewundert, dass die Russinnen in der Klasse sich stark schminkten, aber das war alles ganz okay.“
Viele Deutsche glauben ja, dass eine Beschäftigung mit dem Judentum fast automatisch zu einem philosemitischen Zionismus führe müsse, aber damit kann Johanna wenig anfangen, eher ist eine kritische linke Perspektive auf Israel die ihre: „Allerdings mit einem starken Radar: Solche Gespräche kippen schnell in einen Antisemitismus, vor dem mir graut.“ Sie passt auf, „wo Differenzierung und berechtigte Kritik enden und Antisemitismus beginnt“.
Johannas Vater ist streng katholisch, die Großmutter und Mutter sind Agnostiker. Sie selbst sei „weder getauft noch sonst was“. Die von ihr verehrte Oma, die zu heute noch Aktuelle Kamera sagt, hält Religion für eine Geisteskrankheit. Aber ihr Sohn, wird der eines Tages Teil der jüdischen Gemeinschaft sein? „Ich weiß es nicht“, sagt Johanna. Bei der Brit Mila, der Beschneidung, im jüdischen Krankenhaus, waren neben ihr und dem Kindsvater auch der jüdische Großvater anwesend. Als der Arzt fragte, ob man eine Bracha, ein Kurzgebet, lesen wolle, rief jedenfalls einer der Männer: Ja! Und der andere rief: Nein!
Yulia Polyntseva hat viel vor. Die 32-jährige Juristin aus Münster möchte in der Ukraine die Geburtsurkunde ihrer Oma mütterlicherseits oder andere Dokumente finden, die sie als Jüdin bestätigen und eine Mitgliedschaft in einer Gemeinde ermöglichen würden.
Yulia kam erst 2005 als Au-pair nach Deutschland. Ihre Oma wiederum konnte sich 1941 aus der Ukraine gerade noch so vor den Nazis nach Sibirien retten. Aufgewachsen ist Yulia in einem jedem Sowjetkind bekannten Dorf: Schuschenskoje, dort hatte Wladimir Iljitsch Lenin jahrelang in der Verbannung gelebt. Yulias Mutter sagte immer: „In erster Linie soll man ein Mensch sein, und erst dann ein Russe, Jude, Deutscher oder so.“ Yulia findet das auch und reagiert skeptisch, wenn Juden mit Menschen, die Juden kritisieren, nichts zu tun haben wollen. Sie glaubt nicht an eine Zukunft der jüdischen Gemeinde in Deutschland. Die Jungen wollen zwar unbedingt ihr Jüdischsein leben, nach Israel reisen, mit anderen Juden zusammen sein – doch das alles nicht zwingend in der Gemeinde. Aber sollte sie die Dokumente der Oma finden, würde sie trotzdem in eine eintreten wollen. Und hoffen, dass auch andere dort ihren Platz finden.
„The idea of being Jewish is charged with different, sometimes contradicting meanings“, erzählt S.: Die Idee, jüdisch zu sein, ist aufgeladen mit verschiedenen, manchmal widersprüchlichen Bedeutungen. Die Sozialwissenschaftlerin ist 29, stammt aus Israel und lebt seit vier Jahren in Berlin. S. praktiziert keine Religion. „Aber ich bin als Nachkomme einer aus Rumänien stammenden Familie von Überlebenden eng mit dem Jüdischsein verbunden. Und Israelin.“ Dabei ist es für sie hier einfacher und angenehmer. In Deutschland wird sie in erster Linie als Person, in Israel aber als Frau gesehen, die Soldaten zur Welt bringen soll.
S. lehnt das von Benjamin Netanjahu oft propagierte Prinzip „Wir-reagieren-auf-eure-Gewalt-mit-noch-mehr-Gewalt“ ab, das viele Israelis unterstützen, und spricht bewusst vom Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung. Das Deutschland-Bild, mit dem sie aufwuchs, war das eines Landes, „aus dem das absolut Böse entstand“. Der Holocaust. Dieses Bild hat sich nun stark verändert, S. liebt Berlin, ihr Leben mit nichtjüdischen und jüdischen Freunden, auch wenn sie durchaus mit dem Gedanken einer Rückkehr nach Israel spielt.
Über Ignatz Bubis
Diese drei Biografien zeugen von einer empathischen Offenheit gegenüber Deutschland. Sie entziehen sich dem, was viele über Juden zu wissen glauben; sie widersetzen sich aber auch den Erwartungen der jüdischen Community. Diese Projektionen und falschen Wahrnehmungen sind in diesem Sommer noch einmal erfolgreich in Erscheinung getreten. Wieder wurden „die Juden“ für den Nahostkonflikt verantwortlich gemacht, wieder wurden „die Juden“ zu einer Einheit geformt. Die Frauen hingegen reflektieren offen, kritisch, auch selbstkritisch und unvoreingenommen über das, was mir bei einer Diskussion über das Judentum in Deutschland wichtig erscheint: individuelle Wahrnehmung und ein Verzicht auf Pauschalisierungen.
Ignatz Bubis lebte von 1927 bis 1999, er war Präsident des Zentralrats und die wichtigste politische Figur des deutschen Judentums nach dem Holocaust. Bubis wollte nicht in Deutschland begraben werden. Er hatte Angst, dass sein Grab hier, wo der Antisemitismus nicht nachließ, beschädigt würde. Als eine tragische Ironie der Geschichte hat dann ein psychisch gestörter Mann sein Grab tatsächlich beschädigt, aber nicht in Frankfurt am Main, wo er gelebt hatte, sondern in Tel Aviv.
Bubis verwirklichte während seiner letzten Lebensjahre ein etwas surreal anmutendes Projekt. Er gab seine Immobiliengeschäfte nahezu komplett auf, nannte sich ganz im Stil des späten 19. Jahrhunderts einen „deutschen Staatsbürger jüdischen Glaubens“ und reiste quer durch die noch winzigsten Städte und erzählte, erzählte, erzählte. Die Leute hörten dem charismatischen und witzigen Mann gern zu, applaudierten lebhaft und lachten. Was nicht viele damals bemerkt haben: Bubis übernahm so Verantwortung. Er brach die langjährige Verschlossenheit der Juden, die „im Land der Mörder“ lebten, auf, ohne die jüdische Gemeinschaft zu verlassen, und ging auf die Deutschen zu. Einmal erzählte er, dass man ihn oft gefragt habe, was sein Präsident dazu sagen würde. Freilich meinte man damit den israelischen Präsidenten. Bubis aber antwortete gelassen: „Mein Präsident ist der Bundespräsident.“
Eine andere Agenda
Diese Anekdote schien mir damals etwas banal, heute nicht mehr. Wir sind 15 Jahre nach seinem Tod nicht weiter, auch wenn sich Bubis in seinen schlimmsten Albträumen nicht hätte vorstellen können, dass hier „Hamas, Hamas! Juden ins Gas!“ gerufen würde. Natürlich ist weiter eine besondere Vorsicht im Umgang mit Deutschland und den politischen, medialen und erinnerungspolitischen Vorgängen geboten, der Antisemitismus ist immer noch da. Auch sind die Traumata der Großeltern und Eltern noch immer da; sie werden weitergetragen werden müssen, einfach weil sie zu unserer Geschichte und der Geschichte Europas dazugehören.
Doch diese Leidensgeschichten dürfen nicht instrumentalisiert werden. Sie könnten uns Jüdinnen und Juden eher helfen, eine Art Avantgarde zu sein, um gesellschaftliche Vorurteile abzubauen und Aufklärungsprozesse voranzutreiben. Sie sollten uns Ansporn sein, auch vor wahrscheinlichen Rückschlägen nicht zurückzuschrecken. Das wäre doch eine Agenda: Wir übernehmen eine wachsame Verantwortung für gesellschaftliche und politische Vorgänge, vor allem bei der Bekämpfung von Antisemitismus, Intoleranz und anderen Ungerechtigkeiten. Wir haben die Chuzpe und beenden es, selbstreferenziell und narzisstisch im Saft der eigenen Ängste und Unsicherheiten zu schmoren.
Das betrifft auch die Frage nach der Rolle der Gemeinden. Sie werden in den Augen junger Leute erst dann wieder eine vernünftige Chance und Attraktivität haben, wenn das Judentum von ihnen nicht mehr abgekapselt und ex negativo konstruiert wird, sondern wenn sie sich den kulturellen, religiösen und politischen Herausforderungen von heute stellen. Und gleichzeitig eine demythologisierte jüdische Tradition aufbewahren, wobei aufbewahren in diesem Fall eine deutlich größere Vertrautheit mit der eigenen (Religions-)Geschichte und Praxis bedeutet.
Nach wie vor ist in Deutschland nichts normal, was das Jüdische angeht. Über 20 Prozent der Deutschen sollen latent antisemitisch sein. Viele wissen bis heute nicht, ob man Jude laut sagen darf, ohne sich zweimal umzudrehen, und man schafft es leider nicht, jedem persönlich zu sagen: Man darf das, Jude ist kein schlimmes Wort! Gleich ob man die jüdischen Zentren oder Synagogen aufsucht oder diese eher meidet – ihre halbwegs sichere Existenz ist heute mehr denn je lediglich mit polizeilicher Präsenz und meist mit einem internen Sicherheitsdienst zu gewährleisten. Das ist beschämend und traurig. Auch gibt es noch heute für viele Jüdinnen und Juden, in denen das Trauma des Verlusts nicht heilen will, einen legitimen Grund, unter sich bleiben zu wollen oder sich auf die Couch eines Psychoanalytikers zu begeben. Getrennt von jenen Deutschen, die neulich mit der Serie Unsere Mütter, unsere Väter ihre etwas seltsamen, kollektiven Therapiestunden bekamen.
Man wird sich auch damit abfinden müssen, dass das jahrzehntelang staatskirchenrechtlich ausprobierte erfolgreiche Modell der Einheitsgemeinde keine Exklusivität behalten wird; dass sich weitere Gemeinden und Gruppen bilden werden, die über einst gemeinsame Narrative wie das jener „gepackten Koffer im Land der Täter“ nicht mehr funktionieren. Doch zu wünschen ist, dass in einem offenen Deutschland das Humane, Humanitäre und Gerechte an Bedeutung gewinnt. Und dass Jüdinnen und Juden bewusste Citoyens und wichtige Akteure in diesem Prozess bleiben.
Wir müssen unseren Opferstatus ablegen. Denn wer sich als Opfer definiert, hat Schwierigkeiten, Frieden zu schließen. Das ist nicht als eine weitere therapeutische Maßnahme gedacht, sondern sollte als eine politische und menschliche Notwendigkeit verstanden werden. Betätigungsoptionen gibt es viele. Wir, Juden und Nichtjuden, sollen weiterhin eine bewusste differenzierte Stimme gegen den Antisemitismus erheben. Doch vergessen wir nicht: Auch die Ohlauer Straße in Berlin-Kreuzberg mit ihrer „Flüchtlingsschule“ liegt inmitten eines europäischen Deutschlands.
http://imageshack.com/a/img537/6733/yP0u9l.jpgDer Autor Dmitrij Belkin in Berlin Foto: Kevin Mertens für der Freitag
Kommentare 37
Liebe BUL,
Avantgarde dafür, dass man eine Gesellschaft hat, in der man Menschen nicht das Gefühl geben muss: Ihr seid da und wir beobachten diesen Prozess sehr genau. Man lebt einfach neben - bzw. miteinander, man akzeptiert und noch besser man schätzt sich. Die schlechten persönlichen Erfahrungen sind mit den "Juden" genauso gut möglich wie mit den "Nichtjuden". Entscheidend ist nur, dass man als Folge nicht "die Juden", gefühlt leider doch alle,Juden, für die eigenen Schwierigkeiten, die jede/r von uns sicherlich zu Genüge hat, verantwortlich macht. Das zu versuchen ist eine sehr schöne Herausforderung.
Eins nach dem anderen, liebe(r) @Maxi Scharfenberg. Bitte. Sonst bekomme ich das Gefühl, gegen welches ich diesen Text verfasst habe: Sie haben doch die Bubis Passagen im Artikel gelesen. Man kann schlecht für alles verantwortlich sein und gemacht werden. Es gab Versuche im 20. J-t, das zu realisieren. Die globalen Revolutionäre sind gescheitert. Ich würde sagen, die Avantgarde Tätigkeit sollte hier, vor Ort beginnen. Nicht gleich nach Israel reisen und schon gar nicht in den Krieg. Ich gehe jetzt zu einer Kundgebung gegen den Antisemitismus. Sehr bewusst und mit einer klaren Intention, den doch sehr unschönen und hässlichen Antisemitismus zu bekämpfen. Ich hätte mir gewünscht, auch das Leid und die Probleme der Palästinenser_Innen, auch die Ängste und Sorgen der Moslems in diesem Land, wären dort angesprochen. Mich stört nichts und niemand, daran zu arbeiten, dass das bei einer anderen Veranstaltung der Fall sein wird.
Lieber @Anatole France: es gibt solche Fälle. Es wäre unverantwortlich zu behaupten, die gibt es gar nicht. Doch sie sind - bitte glauben Sie mir, ich kenne diese Einwanderung sowohl persönlich als auch "akademisch" - nie im Leben numerisch dominierend oder ausschlaggebend.
Sehr geehrter Dmitrij Belkin,
es gehört für mich zu diesen Rätseln europäischer Gegenwart, dass als „identitär“ immer stärker jene Kräfte Platz greifen, die auf Abgrenzung und sodann auf Exklusion abzielen: So als ob das Schaffen einer eigenen Identität nur antagonistisch und kontradiktorisch möglich sei. Ich bin mir nicht sicher, ob Ihre humane Botschaft -die vor allem deswegen menschlich ist, weil sie die eigene Unzulänglichkeit nicht aus den Augen verliert- ausreicht, diesen retrograden Kräften zu widerstehen.
In Italien ist man einen anderen Weg gegangen. Mit Vereinbarung vom 27. Februar 1987 zwischen dem Staat und der Union der Israelitischen Gemeinschaften Italiens wurde dem Judentum Italiens vollständige Autonomie in Glaubensdingen und Selbstorganisation eingeräumt. Der Vertrag wurde mit Gesetz Nr. 101 vom 8. März 1989 sanktioniert. Wie kläglich sind demgegenüber die deutschen Verträge, die zudem noch mit jedem einzelnen Bundesland abzuschließen waren, die sich darauf beschränken, einer Körperschaft des öffentlichen Rechts neben dem finanzamtlichen auch noch den staatstragenden Stempel aufzudrücken, alimentiert werden zu dürfen. Verhandelbar natürlich, ohne den Rechtsweg beschreiten zu müssen, wenn es um die Anpassung der Staatsleistungen geht, wie es paraphrasiert in der sog. „Freundschaftklausel“ steht.
Man wird sagen können: Paradoxerweise ist auch das römische Ghetto, wie es seine Bewohner selbst nennen, also jenes zweitälteste Symbol von Segregation auf europäischem Boden, nicht vor Übergriffen gefeit. Auch dort vermischen sich zionistisch-kritische mit dezidiert antisemitischen Tönen. Und es gibt Stimmen, die das im Staatsvertrag niedergelegte Prinzip der gegenseitigen Anerkennung als kulturelle Errungenschaft umdeuten wollen in eine „Privilegierung der Juden“.
Aber die Art und Weise, wie die Bewohner und die Jüdische Gemeinde Roms darauf reagieren, ist eine gänzlich andere: Der geschützte Raum der Anerkennung hat es den ebenfalls Zugewanderten ermöglicht, Vertrautheit mit den eigenen Wurzeln (wieder) zu gewinnen und jenes Selbstbewusstsein zu entwickeln, das Übergriffe zurückzuweisen selbständig und nachhaltig in der Lage ist.
Vielleicht liegt es tatsächlich am besonderen Klima von Caput Mundi: Die Notwendigkeit aller monotheistischen Religionen -repräsentiert im Petersdom, der größten europäischen Moschee und dem Haupttempel- in Sichtweite miteinander nicht leben zu müssen, sondern tatsächlich zu leben, ist zur zweiten, der eigentlich kosmopolitischen Natur geworden, die die Vielfalt erst ermöglicht. Von dieser Sichtbarkeit kann in Berlin allenfalls im Gedenken an die Toten die Rede sein, aber nicht im Täglichen der Lebenden. Hier ist mittlerweile wieder von „Angst“ die Rede.
Beste Grüße, Marian Schraube
Sehr geehrte, liebe Marian Schraube,
ganz herzlichen Dank für Ihren Kommentar! der ist auch insofern sehr spannend, weil dieser direkte Vergleich "Rom" "Berlin", was den - auch juristischen - Umgang mit der jüdischen gemeinschaft angeht, den Horizont der Diskussion (und meinen persönlichen) Horizont schlicht erweitert. Ob ein solcher Beitrag, den ich hier verfasst habe, für eine politische Auseinandersetzung mit den "Identitären" ausreichen würde - das ist relativ schwer zu sagen. Meine kleine politische Erfahrung zeigt aber, dass man bisweilen etwas mehr geben sollte ,ohne genau zu wissen, ob man's am Ende irgendwie zurück bekommt. Ich denke (und hoffe), so geht die Aufklärung. Klar, in einer Auseinandersetzung mit Menschen, die eine pseudo-onthologische Bodenständigkeit einbringen und dazu noch die anderen ausschließen, würde ich anders formulieren. Oder ähnlich argumentieren, aber viel härter formulieren.
Danke für den Impuls!
lieber Anatole France,
schauen Sie sich doch bitte unseren Ausstellungssammelband an, "Ausgerechnet Deutschland! Jüdisch-russische Einwanderung in die Bundesrepublik" (2010). Und zum Thema "faschistische Junta in Kiew". ich kenne keine. sehe aber die ukrainische Regierung und die Entwicklung dort sehr kritisch. darf ich Ihnen einfach zwei Texte nennen, die sind sehr kurz. ich hoffe, es wird Ihnen nicht unbescheiden vorkommen: http://www.juedische-allgemeine.de/index.php/article/view/id/20146 und: http://www.fr-online.de/ukraine/ukraine--europa-muss-auch-russland-chancen-anbieten-,26429068,28385358.html
besten Gruß, db
Nur kurz: Marian ist männlich. Nicht, dass es darauf ankäme, aber der Vollständigkeit halber ;)
Pardon, lieber Herr Schraube! Alles gut,ich lerne dazu und mache diesen Fehler wohl nie wieder;) auf einen guten Austausch und gute Nacht!
Lieber Herr Herz, darf ich mich mit der Intensität Ihres Kommentars und ihren Steigerungen "Blödsinn", "totaler Quatsch", "kompletter Blödsinn" etc. nicht einverstanden erklären? So kann man doch nicht diskutieren, finden Sie nicht? Und mich gleichzeitig bei Ihnen bedanken: für die Kurzerklärung Ihres Konzepts. Ich liebe und kenne Mainz (habe dort 8 Monate am In-t für Europäische Geschichte verbracht), interessiere mich für dortige jüdische Geschichte und mag Ihr Haus. Hätte ich explizit darüber schreiben wollen, hätte ich wie von Ihnen zurecht empfohlen, wesentlich sorgfältiger recherchiert. Sonst beziehe ich mich auf meinen eigenen Auftritt dort und einen Abend, den ich mit den dortigen Gemeindemitgliedern verbringen durfte, diese Situation des leichten "Wackelns" erlebt und vor allem das zitierte Gespräch geführt. Die Besucher_Innen der Synagoge sprechen zwar meistens ein sehr rudimentäres Deutsch, sie regisitrieren aber die Vorgänge sehr sehr aufmerksam. Und auch ironisch. Dieses Zitat war eine bittere Ironie. Nicht zynisch, nicht komisch - einfach leicht paradox. Wichtig: ich widme mich dem Haus mit Sicherheit noch viel ausführlicher. In diesem Zusammenhang würde ich Sie auch gern ansprechen. beste Grüße und Dank für die Motivation, Ihr d.b.
@Vit Jasch: bitte s. meine Antwort @Anatole France oben. Dort erwähne ich einige Publikationen. "jemand von Euch" ist doch nicht sonderlich freundlich, oder? es gibt keine kollektive meinung "von uns". ich als ich habe noch zu Beginn der Krise diesen text in der taz verfasst: http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=ku&dig=2014%2F03%2F19%2Fa0095&cHash=197b19a36ed7d0cb71c4e3bede7f139b
Lieber Herr Herz, dieses Thema auf Facebook angesprochen, bekam ich in 20 Sek. eine Antwort eines Mainzers: "Kommentar einer Besucherin: "seekrank wieder von oben herabgestiegen" und "keine Vorrichtungen für Kinderwagen oder Rollatoren" -- genau das meine ich, werter Herr Herz -- die Ideen und Intentionen kollidieren mit der (Lebens)Praxis der Menschen, die meistens nicht die jungsten sind. nur das wollte ich sagen. Gruß!
°Ich habe vermisst, dass jemand von euch sich klar zu dem us-gelenkten Russland-Bashing und Verbrechen der Pro-Bandera-Putschregierung in Kiev äußerte...
oder meinetwegen, stellt euch an die Seite der ukrainischen Nazis - aber sowas Bedeutendes dieser Tage vor Kamera aussen vor gelassen zu haben...°
Wer ist denn °euch° @Vit Jasch?
Woher nehmen Sie eigentlich den Auftrag, anderen vorzuschreiben, wann sie sich wo und wie zu äußern haben? Und was bitte hat das mit dem obigen Artikel zu tun?
Sehr geehrter Herr Herz,
wäre es nicht einfacher und der Diskussion des Artikels dienlicher gewesen, Ihre Intention zu erklären? Ich finde es äußerst interessant, Buchstaben zu einer architektonischen Skulptur zu machen, vermute aber, daß darum kaum ein Leser hier weiß.
Daß Besucher Ihrer (ich finde, großartigen) Architektur Libeskinds Architekturen assoziieren, werden Sie nicht verhindern können.
Freundliche Grüße, dvw
lieber Herr Herz, all das wäre ein Grund, uns mal jenseits dieses Formars zu treffen und - wenn Sie Zeit haben - zu sprechen. Mich interessieren Ihre Ansichten und ich würde dieses Gespräch schlicht gern vertiefen wollen. Die biographischen Ungenauigkeiten bitte ich zu entschuldigen. ich schrieb im wesentlichen über die Widersprüchlichkeiten und Paradoxien einer aktuellen deutsch-jüdischen (Nicht)begegnung. herzlich, d. belkin
lieber Herr Herz, all das wäre ein Grund, uns mal jenseits dieses Formars zu treffen und - wenn Sie Zeit haben - zu sprechen. Mich interessieren Ihre Ansichten und ich würde dieses Gespräch schlicht gern vertiefen wollen. Die biographischen Ungenauigkeiten bitte ich zu entschuldigen. ich schrieb im wesentlichen über die Widersprüchlichkeiten und Paradoxien einer aktuellen deutsch-jüdischen (Nicht)begegnung. herzlich, d. belkin
lieber Herr Herz, all das wäre ein Grund, uns mal jenseits dieses Formars zu treffen und - wenn Sie Zeit haben - zu sprechen. Mich interessieren Ihre Ansichten und ich würde dieses Gespräch schlicht gern vertiefen wollen. Die biographischen Ungenauigkeiten bitte ich zu entschuldigen. ich schrieb im wesentlichen über die Widersprüchlichkeiten und Paradoxien einer aktuellen deutsch-jüdischen (Nicht)begegnung. herzlich, d. belkin
sorry für das wiederholte posten. eine iphone panne
Vielleicht ist es hilfreich, da es thematisiert ist, einen eigenen Blick auf das Jüdische Gemeindezentrum Mainz zu werfen. Herz bietet dazu zwei Texte auf seiner Internetpräsenz
http://www.manuelherz.com/_FILES/2_PROJECTS/006_JEWISH_COMMUNITY_CENTER_MAINZ---PUBLIC---COMPLETED/006__TXT_PROJDESCRIPTION_D.html in deutscher und
http://www.manuelherz.com/synagogue-mainz bebildert in englischer Sprache.
Nicht völlig unnütz dürfte es sein, die Rezeption etwa durch Roman Hollenstein in http://www.nzz.ch/nachrichten/kultur/literatur_und_kunst/licht-der-diaspora-1.7596759 zu lesen, der mit einer Zwischenüberschrift die Bandbreite zusammenfasst: „Eingebundener Solitär“ – jeder Juwelier weiß, wie fragil eine Fassung sein kann. Wie erst „das Ringen darum“, um das es im vorliegenden Artikel von Belkin (auch) geht: Er hat, notwendig subjektiv, einen Ausschnitt des praktischen Innenlebens geliefert.
Eine Bitte an Manuel Herz: Wäre es ihm möglich, da er dies hier zurückweist, auch bei WikipediA :dt dafür zu sorgen, dass der Eintrag http://de.wikipedia.org/wiki/Manuel_Herz „... ist ein deutscher Architekt“ korrigiert wird?
lieber Herr Schraube, wertvolle Ergänzungen, besten Dank dafür. ich führe parallel ein Gespräch über meinen Freitag Essay und dieses Mainz Thema auf meiner FB Seite und merke, dort geht es den Teilnehmern fast ausschließlich um die praktischen, religions-alltäglichen Fragen. Das praktische Innenleben, wie Sie trefflich formulieren. Wie besteige ich die Treppe in der Synagoge? wo ist die Mikwe? wo sind die klassisch geschnittenen Räume, die man bewusst oder unbewusst sucht? kommt ein Minjan zusammen (10 Männer oder je nach Auslegung 10 Frauen und Männer)? Gleichzeitig kamen und kommen die Repräsentanten der Stadt, der lokalen Regierungen zu diversen 9. November & Co Terminen vorbei, sie reden über Verluste und über das Heute, werden pathetisch und sind politisch. All das hat mit Magenza und den Shum Städten nichts, aber wirklich nichts zu tun. Um die Kontrapunkte dieser Geschichten im aktuellen deutschen Judentum ging es mir, lieber Herr Herz.
Ich habe ihren langen und gedankenreichen Artikel mit sehr viel Gewinn und einiger Freude gelesen, Herr Belkin.
Besonders ihre gelungenen Miniporträts der drei jungen Frauen und die Art und Weise, wie sie über Ignaz Bubis langes Werben für eine selbstbewusste und sichtbare jüdische Bürgerschaft in der Bundesrepublik schreiben, waren sehr aufschlussreich.
Eine Sache fiel mir auf: Es entwickelt sich weiterhin ein ganz unterschiedlicher Blick auf das Deutschsein und eventuell ebenso auf das Jüdischsein, oder in irgend einer seltsamen Konstellation damit verbunden sein, wenn ich persönlich viel mehr kenne und weiß. - Die Naivität weicht und macht einer eher vorsichtigen und wägenden Einstellung Platz. Die Wirkung von mehr Wissen und mehr Kenntnissen ist eher paradox. Jedenfalls geht es mir so. Ich will mich dann nicht mehr leichtfertig zu irgendwelchen absoluten und apodiktischen Sprüchemachern hinzugesellen.
Ich leide also eher an den Widersprüchen und Idiosynkrasien, kann mir eine zur Schau getragene Geradlinigkeit, wie sie derzeit durchaus in manchen Sentenzen aus unserem derzeitigen Bundespräsidenten und so manchem politischen und prominenten Mitbürger, mit Bezug auf das Deutschsein herausquillt, genau so wenig vorstellen, wie wohl auch ein großer Teil der jüdischen Bürger durchaus große Schwierigkeiten hat, den doch eher holzschnittartigen rhetorischen Stilübungen in öffentlicher Rede, z.B. von Herrn Graumann oder Herrn Kramer, noch folgen zu können.
Sie schreiben über die Zuwanderung aus Russland und anderen ehemaligen Ostblockstaaten. Diese Menschen verändern die Zusammensetzung der jüdischen Gemeinden massiv. Sie bilden unter Umständen gar eigene Gemeinden, sie stoßen auf eine, langsam aber kontinuierlich, wachsende Vielfalt kleiner jüdischer Gemeinden, die sich auch deutlich aufteilen, in othodoxe und reformierte. Berlin hat, was die Größe angeht, wohl eine Sonderstellung, zumal die offene Stadt auch israelische Staatsbürger anzieht.
Auch wenn ich den Begriff "Patchwork" nicht sehr mag, er klingt so zusammengeflickt, so erschreckend normal, ich auch mit der ewigen Analysecouch für ganze Völker, religiöse oder soziale Gruppen nicht allzu viel anzufangen weiß, so wünschte ich mir doch sehr, dass geschieht, was sie fordern:
"Es mag viele überraschen, aber ja, eine größere Öffnung gegenüber Nichtjüdinnen und Nichtjuden müsste her. Mentale, identitäre, familiäre, religiöse Mischformen, intermarriages und gleichgeschlechtliche Ehen, Konversionen, all das gehört im heutigen deutschen Judentum de facto bereits zur Normalität und wird dennoch nur ungern zugegeben."
Dazu braucht es keinen, wie mir scheint, auch historisch kaum mehr haltbaren Gegensatz, zwischen Diaspora im weitesten Sinne und Israel, einem Staat unter anderen Staaten, der aber zu viele Anspüche erhebt, Alleinvertreter und Repräsentant des jüdischen Lebens zu sein und sich damit überdeterminiert, andererseits aber von den höchsten Ämtern, bis zu medialen und öffentlichen Vertretern, immer wieder einfordert, man solle ihn behandeln und einschätzen, wie alle anderen säkularen Staaten dieser Erde, die UN- Mitglieder sind.
Schlimm ist, was jüngst bei den Demonstationen gegen den Gaza- Krieg geschehen konnte. Die namhaft zu machenden Hetzer müssen dafür auch zur Rechenschaft gezogen werden. Ähnlich abscheuliche Sprüche und Aufforderungen sind jedoch in der Welt der Konfliktparteien im Nahen und Mittleren Osten wohl nicht unüblich und wurden dementsprechend auch von Haaretz und Jedi’ot Acharonot dokumentiert.
"Avantgarden" haben es in allen Gesellschaften schwer. Intellektuelle muss man in der deutschen Öffentlichkeit ja schon mit der Lupe suchen. Können Juden und Deutsche Avantgarde sein, als Gruppe, als Bekenner, als religiöse Gemeinden, wohl eher nicht. - Im Alltag bietet sich vielleicht eher an, dass man in der Eigenart doch eher ein Mensch unter anderen Menschen bleibt, der für sich und seine Umwelt einfach ein glückliches Leben anstrebt.
Was aber, könnten Avantgarden, auch die jüdischer Bürger, in den modernen Medien- und Aufmerksamkeitsdemokratien tatsächlich leisten? - Ich denke, wichtigste bleibt, einfach so differenziert und vielseitig über das nicht- avantgardistische Leben zu schreiben, wie Sie es hier tun.
Beste Grüße
Christoph Leusch
Zur Mainzer Synagoge:
https://www.freitag.de/autoren/columbus/geisteshimmel-und-heimatwurzel-die-mainzer-synagoge
und ein paar Fotos, die vielleicht auch Herrn Herz, dem guten Baumeister, gefallen:
http://haendlerundheldenmbh.blogspot.de/2010/10/meor-ha-gola-beth-knesset-magenza.html
korr: Letzter Absatz, "...,das Wichtigste..." C. Leusch
Lieber Herr Leusch, mit einem ganz herzlichen Dank für die positiven und nachdenklichen Zeilen, die mich gefreut haben, grüße ich Sie herzlich, Ihr. d. belkin
Auch ich zucke beim Wort "Avantgarde" zusammen. Es klingt für mich über diesen Zusammenhang hinaus wie ein Synonym für "Zielscheibe".
"Graue Maus" wäre das mich weniger erschreckende Gegenstück. Nicht nur im Sinne von "Unauffälligkeit", sondern vor allem im Sinne von "integraler Bestandteil".
Irgendwo dazwischen sollte es dann vielleicht sein.....
Was ich in solchen Debatten sehr vermisse, ist die - leider verständliche - Abwesenheit von "Normalität". Zunächst einmal sind wir ja Menschen, teilweise Deutsche, teilweise Einwanderer, in jedem Fall Mitbürger. Und das nicht nur im platten, aktuellen Sinn. Die deutsche Geschichte und Kultur scheint mir ohne den jüdischen Anteil keine der "Dichter & Denker". Eher eine von Blasmusik.
Das Perfide an der "Holocaust"-Fixierung ist in meinen Augen, dass sie verhindert, dass diese "Normalität" wieder zur Basis unseres Zusammenlebens wird. Soweit es um das tatsächliche Trauma des Holocaust geht und um Erinnerungs-/ Trauerarbeit, ist diese Fixierung gerechtfertigt. Soweit es um die politische Ausschlachtung in Sonntagsreden, Lippenbekenntnissen, Totschlargumenten usw. geht, ist es nicht nur Missbrauch, sondern auch leichtfertiges Verhindern einer Rückkehr zu jener (ebenfalls konfliktträchtigen) "Normalität". Und ein immer neuer Hinweis auf Trennendes. Womit ich wieder bei der "Zielscheibe" wäre.
Ich kann mir deutsche Geschichte ohne den jüdischen Anteil nicht vorstellen - wobei ich jetzt mal das Negative ausblenden möchte, sonst wäre die Aussage zynisch. Und ich denke, beide, "Juden" & "Deutsche" haben die Nazis erst in dem Moment erledigt und ihnen die Definitionsmacht über uns entzogen, wenn wir zu den positiven Anteilen unserer gemeinsamen Geschichte als Normalität zurückfinden, ohne das Negative auszuklammern.
Das schiene mir ergänzend als eine Art Leitstern für unser Zusammenleben sinnvoll. Wenn wir über unsere Beziehung nicht mehr reden müssen, werden wir am Ziel sein....;)
ps. Das ist nun im Übrigen nicht nur meine Position gegenüber jüdischen Mitbürgern. Als an unserer Schule einmal vorgeschlagen wurde, als Zeichen gegen Fremdenfeindlichkeit einen Tag des "ausländischen Mitschülers" zu begehen, lief es mir kalt den Rücken hinunter, weil mir schien, dass Schüler, die bis dato innerhalb der Schule - zumindest für mich - einigermaßen einfach Schüler waren, ab dann definitiv zu "ausländischen Mitschülern" gemacht worden wären.....
Es gibt Unterschiede und die sollen nicht untergebuttert werden. Aber ich denken, man sollte sie im Miteinander nicht ohne Not/ Bedarf besonders hervorheben, sondern sich auf das konzentrieren, was gemeinsam ist.
Avantgarde ist, wenn man nicht fragt: kann es denn je "normal" werden zwischen Deutschen und Juden, denn es kann nicht normal werden, auch wenn keiner weiss, was das sein soll. Avantgarde ist dann wenn man anstatt sich in einer ewig defensiven position rechtfertigen zu müssen, den politischen und kulturellen Diskurs (mit)setzt bzw mitprägt. und die vielfältigen jüdischen Realitäten in diesem Land als eine "coole" Sache betrachtet, wie Ihre Schüler es wohl sagen würden:)
was Sie - durchaus klug und kenntnisreich, Dank dafür - über Deutschland schreiben, teile ich im Wesentlichen. den Teil über den Islam sehe ich dagegen durchaus polemisch. ich möchte keinen institutionellen"Dialog" führen, sondern den Menschen begegnen. solange ich für die Bildungsprogramme unseres Studienwerks mitzuständig bin, möchte ich schlicht dazu beitragen, dass nicht unbedingt wir, sondern wirklich diejenigen, auf die es gerade ankommt, also die 25jährigen, einen Rahmen für eine solche Begegnung bekommen. in diesem Rahmen würden sie auch die von Ihnen erzählten Geschichten erfahren, aber auch sich die der so genannten anderen Seite anhören. die auch genug Verletzungen, Kränkungen und Ängste mittransportiert. "wir schaffen das" - das wäre blind idealistisch behauptet. aber: wir bemühen uns nach Kräften, dass das klappt. das ist genau das was ich denke.
Und was will MisUse(r) Carl Leckerschmecker mit seinen 10 kryptischen Einträgen Autor und Lesern nun mitteilen, hm?
Ganz einfach: Troll mässiges sinnfreies Zumüllen des Gesprächs tut dem spannenden Austausch hier nicht gut.
"wenn man anstatt sich in einer ewig defensiven position rechtfertigen zu müssen, den politischen und kulturellen Diskurs (mit)setzt bzw mitprägt"
Genau das würde ich als Normalität bezeichnen, eher "graue Maus" als "Zielscheibe".
Darauf sollte sich auch "cool" beziehen, nicht auf Religiöses, Nationales, Gruppenkulturelles usw. All das ist viel zu anfällig für Vorurteile, Ängste, Abgrenzungsbedürfnisse.
Wenn dann "jüdische Realitäten" "cool" sein sollten, dann als "Realitäten" aus einer bunten gesellschaftlichen Vielfalt.
Und ich schätze, wir sollten uns da nichts vormachen: jüdische Realitäten haben es da schwerer als andere. Es gibt nun mal die antisemitische Tradition, den Holocaust, den Islamismus usw. Und ich sehe nicht, wie man sich damit erfolgreich auseinandersetzen soll. Das scheint mir nur in therapeutischem Rahmen, nicht im Alltag möglich.
Deshalb dachte ich an den Weg, all das dadurch zu unterlaufen zu versuchen, dass man erst einmal stur & penetrant & unbeirrt das Gemeinsame & das Unspektakuläre lebt.
Und wenn man so eine feste gemeinsame Basis entwickelt hat, dann kann man das Unterschiedliche vielleicht eher als Bereicherung usw. sehen.
Das gilt jetzt für integrative Prozesse allgemein. Und als einen solchen Prozess würde ich auch das Entstehen eines neuen Judentums bei uns betrachten - das allerdings - siehe oben - an die positiven Aspekte einer langen gemeinsamen Geschichte anknüpfen könnte.
Wenn ich es mal auf die persönliche Ebene heben darf: ich möchte erst einmal den Menschen kennenlernen. Wenn die Mensch aber bereits mit einschlägigem Kopftuch auftritt, dann ist bereits die Rolle "Muslima" dabei und beeinflusst alles andere.
Früher hatte man solche Symbole für den sozialen Stand oder den Ehestand, für die Handwerkszugehörigkeit usw. Jetzt kommt das mit anderen Kulturen auf andere Weise wieder zurück. Wie immer man dazu stehen mag: es lenkt vom Menschen selbst ab und signalisiert denen, die darauf lauern, dass sie da eine Zielscheibe für was auch immer vor sich haben.
Den Begriff "Avantgarde" habe ich so verstanden, als zusätzlich, abgrenzendes Merkmal/ Verhalten. Und darauf bezog sich mein Kommentar.
Aber vielleicht habe ich es ja missverstanden. Ich denke auch nur mal so vor mich hin....;)
@Seriousguy47
den pragmatischen Weg, "das Gemeinsame und Unspektakuläre" zu leben, halte ich für eine sehr sinnvolle Option im gesellschaftlichen Nebeneinander. Dieser Text war aber auch eine Art innerjüdischer Orientierungsversuch. Sie schreiben zurecht: eine lange gemeinsame Geschichte. Doch das ist gerade das Schwierige mit der deutsch-jüdischen Geschichte 1) eine absolute Zäsur dazwischen, die Zäsur; 2) ein GANZ anderes Judentum heutzutage hier, das die eigenen Geschichten hier lebt und gleichzeitig mit der Postholocaustrealität in diesem Land konfrontiert wird. All das ist nicht tragisch nur buchstäblich sehr umfangreich - und das können und sollten nicht alle richtig sortieren. Mental, kulturell, politisch.
Zu einer innerjüdischen Debatte kann & will ich natürlich nichts beitragen. Wie sollte ich. Zuständig wäre ich allenfalls noch für eine innerkatholische Debatte - obwohl ich auch der längst fern stehe....;)
Die Probleme sehe ich selbstverständlich auch.
Also bleibt mir nur, die Aspekte beizutragen, die mir (dennoch) wichtig erscheinen. Und die aus meinem Erfahrungshorizont stammen, also z.B. die Erfahrung, was alles anders wird, wenn aus einer Komilitonin plötzlich ein Mitglied einer jüdischen Familie wird, die aus Deutschland flüchten musste. Oder wenn aus einer etwas zurückhaltenden Schülerin plötzlich eine Jüdin wird.
Dann ist plötzlich nichts mehr wie es war. Und alles unendlich kompliziert und voller innerer Klippen. Da möchte ich dann das deutsch-jüdische Verhältnis am liebsten auf Neustart setzen.....
Was die Geschichte betrifft, so ist das ein anderes Thema. Auch wenn es nicht direkt die Geschichte der Juden ist, die jetzt neu einwandern, so ist es doch die Geschichte der Deutschen und gleichzeitig eine Möglichkeit der neuen Zuwanderer aus dieser Gruppe, einen Anknüpfungspunkt für Integration & Identifikation zu finden.....?
Für mich selbst ist es ein Thema, weil mir scheint, dass der Versuch der Ausrottung des jüdischen Teils der Bevölkerung sich zumindest während meiner Kindheit & Jugend auch da als weißer Fleck fortschrieb. Als ob es diese Gemeinschaft & Bereicherung nie gegeben hätte.
werte/r @Bul
ab der gewissen Tonanlage ist eine sinnvolle Kommunikation ziemlich erschwert. Das ist keine Strafe oder ähnlich, sondern nur eine kleine selbstschützende Präferenz...
@Angnaria
akzeptiert, weil ich selber aus einer Gesellschaft stamme, in der nicht die schlechtesten Menschen so dachten. doch ich behalte einfach meine etwas andere Meinung bei mir. und lach natürlich auch, weil ich trotzdem dieses Zitat Johanna's Grossmutter sehr mag ;)
Ich meide dieses Thema mittlerweile, da es regelmäßig zu wechselseitiger frucht- und freudloser Nabelschau gerät.
Meine Eltern & Geschwister sind auch Flüchtlinge. Und ich habe als Nachgeborener den Geschichten meiner Mutter durchaus zugehört.
Ich höre auch den Geschichten anderer zu, sofern gewünscht.
Ich bin durchaus ein Verteidiger des alten, mittlerweile fast abgeschafften deutschen Asylrechts und Gegner einer teilweise faschistoiden Ausweisungspraxis.
Ich habe überdies Schüler gehabt, die aus dem Ostblock kamen oder vor dem Bürgerkrieg im damaligen Jugoslawien flohen. Und, soweit es möglich war, habe ich das meine dazu getan, dass sie es an der Schule nicht unnötig schwer hatten. Weil ich mich als Flüchtlingskind ein Stück weit mit Flüchtlingen & Migranten solidarisch fühlte.
Ihre Erfahrungen kenne ich nicht. Aber ich bin natürlich nur für mich & mein Verhalten verantwortlich. Wie andere sich verhalten, mag anders aussehen?
Der Punkt der deutsch-jüdischen Geschichte ist allerdings nicht nur, was angetan wurde, sondern dassdie Deutschen es getan haben.
Und da liegt ein Unterschied.
Was mir nun, entlang der Threads, noch auffiel. Teil der jüdischen Tradition ist und das schon sehr früh, das Bestehen auf ein generationenübergreifendes Gedächtnis. Kabbalisten und auch Idealisten, die es unbedingt in allen Kulturen braucht, bezeichnen das gar als eigentliches Geheimnis der Erlösung.
Seltsam, dass gerade erzkonservative und radikale Deutsche und ebenso Israeli in der gleichen Spur gegenüber der eigenen Geschichte und der der immer viel zahlreicheren Fremden auf dieser Welt nun neuerdings wieder zu einem absichtlichen Vergessen neigen.
Unter nationalen und konservativen Deutschen lautet die Formel, was können die nachfolgenden Generationen für die Zeit des Nationalsozialismus. - Nichts können sie dafür! -Aber schon etwas, für den falschen Mut zu vergessen. Denn wer sich nicht erinnert, der wehrt sich auch nicht gegen die Wiederholung der Geschichte oder ist nicht in der Lage Ähnlichkeiten bei anderen kritischen, gesellschaftlichen Entwicklungen überhaupt zu erkennen.
"Bibi" Nethanjahu, Israels Premier, machte das sogar vor der UN vor und zeigte so, dass diese Mentalität nicht einseitig in der Welt verteilt ist.
Seinen Vornamen fand er, vor undenklichen Zeiten im Stein eingeritzt, an dem Ort, den er als das alleinige Eigentum seines Volkes ansieht. Das genügt ihm und vielen Rechten in Israel volllauf, aber es genügt jüdischen Menschen und allen aufgeklärten Menschen nicht, zu rechtfertigen, in welcher Perspektivlosigkeit und Subalternität die Palästinenser leben müssen, die ihre eigene Geschichte auf dem gleichen Boden haben, aber weniger einritzten und weniger aufschrieben und auch weniger Gelegenheit bekamen, mit Worten und würdigen Handlungen auf ihre Anerkennung und Gleichberechtigung hinzuweisen.
"Ich gebe es dir, mit Brief und Siegel", nutzt nur, wenn man das Dokument und das unverbrüchliche Siegel darauf, in Händen hält, vor Augen sieht und wenn es nicht mutwillig zerstört wurde. Wer sollte das besser wissen als Juden.
Wer also anderen keine eigene und eigenständige Geschichte und Kultur zubilligt, die genau so viel oder so wenig wert ist, wie die eigene, der macht die Anderen zum Objekt.
Die Entscheidung, alle Dinge die man selbst oder die eigene Religion und Kultur für wichtig erachtet nur unter sich zu betrachten, zu besprechen und dementsprechend zu handeln, ist letztlich ein sehr grausamer und gefühlloser Akt, weil es in diesen Denkgebäuden den Anderen/die Anderen, als Personen mit unbedingtem und ebenso starkem Recht, gar nicht gibt.
Der Heilsplan, die Dezision, nur dem eigenen Denken und der eigenen Kultur zu folgen, führt einmal zur inneren Abschottung und nach außen, gegen andere, sehr sicher in eine aggressive Radikalität. - Derzeit lehrt die aktuelle Weltgeschichte genau das.
Es spricht auch gegen das Ansinnen des Talmuds, des neuen Testaments und des Korans, es spricht aber auch gegen die lange Tradition des aufgeklärten, säkularen und bürgerlichen Denkens in Europa, wenn nun das Vergessen eingeübt oder für gut erklärt wird, weil es so einfach scheinbefreit, von der Differenzierung und von der Verantwortung.
Eine ebensolche, eher fatale, Dezision (Entscheidung) ist, immer wieder davon zu reden, alle Menschen seien doch gleich. Wer das denkt, der hat doch nur einen kurzen Weg dahin, zu sagen, wir machen und fordern Gleichheit in diesem Sinne, aus Prinzip. Das wäre mir kein angenehmer Gedanke.
Damit vestanden wird, was ich sagen will: Als die ersten repräsentativen Moscheen in Deutschland gebaut wurden, entstanden die Pro- Bewegungen, gegen die Muslime, und PI hetzte, diese Bauten sähen einfach nicht aus, wie Gebäude in unserem Kulturkreis auszusehen hätten. Sie sollten zumindest angepasst werden oder auf ewig in den Gewerbegebieten, irgendwo in der Nähe einer Zubringerabfahrt verschwinden, wenn nicht gar gleich, wie es in Köln, sogar von alternden Intellektuellen geschehen ist, das Aussehen der Fremden, die nun aber zugleich Bürger waren, als unerträglich empfunden wurde und ihnen attestiert wurde, sie könnten aus religiösen Gründen prinzipiell, kategorisch, nicht rational und kritisch denken.
Auf dieser Ebene gibt es aber nur einen weiteren Weg in verbale und bald auch tätliche Gewalt.
Radikale Minderheiten nutzen seit jeher diese Art Ablehnung der vermeintlichen Mehrheit, der Silent majority, der beredt schweigenden, die Straßenseite wechselnden Bürger, die nicht gerne über ihre Vorurteile Auskunft geben, sie aber im Alltag häufig praktizieren, als Rechtfertigung für ihre recht komplementäre Antwort. Es funktioniert bei ihnen, wie der gefundene Schlüssel, der endlich in sein einziges, passendes Schloss passt. Endlich habe ich einen veritablen Gegner/Feind und er ist nicht in mir, sondern außerhalb.
Man muss in der christliche Domstadt nur mit entsprechender Hautfarbe oder Kleidung auf Wohnungssuche gehen und wird es sofort erleben, wie die Begründung für die Isolation wechselseitig produziert wird.
Die Abschottung und Einigelung im eigenen Milieu ist also fast immer ein Prozess der von äußeren und inneren Beweggründen gleichermaßen getrieben ist. Identitätswahrung steht dann so sehr im Vordergrund, fast um jeden Preis, dass die Vorteile größerer Mischung, die Anreicherung der Kulturen, von der doch ein großer Teil der eigenen Kreativität und der eigenen Bestimmung auch lebt, gar nicht mehr wertgeschätzt wird.
Angesichts der Einwanderung von Juden und anderen Gruppen aus dem ehemaligen Ostblock Europas könnte sich doch auch die eigentlich sinnvolle Frage anschließen, was deren Wissen und Tradition uns als Gesellschaft einbringen könnte, wenn es z.B. um die Beziehungen und Verständigungen in diese Räume hinein geht. Eine russische Kultur in Berlin und anderswo, kann doch als kulturelles Kapital verstanden werden. Sollen die neuen Bürger das vergessen und verdrängen, sollen sie sich völlig anpassen? Nein!
Besser wäre es, sie könnten häufiger das auch zufällig erworbene Wissen, wer hat schon den Ort seiner Geburt unter Kontrolle, und die daher genommenen Kulturkenntnisse nutzen. - Analoges ließe sich zu den 3,5 Millionen Muslimen sagen oder über rumänische und postjugoslawische Zuwanderer.
Beste Grüße
Christoph Leusch
Anregende Lektüre, danke für den Artikel - aber bei einem Satz bin ich zusammengezuckt, obwohl ich nicht sicher bin, seinen Sinn erfasst zu haben:
"Der Holocausttourismus wurde in Deutschland zu einem Markenzeichen der Globalisierung."
Klingt in etwa danach, als wenn man aus dem Holocaustgedenken einen prosperierenden globalen Tourismuszweig gemacht hätte. Stimmt womöglich auch (aus allem einen Benefit machen...).
Ich kann mir nur zweierlei vorstellen: Entweder habe ich den Satz überhaupt nicht begriffen, oder er ist genau so gemeint.
@Rüdiger Grothues
Danke, eine berechtigte Frage. Weiß nicht ob Sie in Berlin wohnen, wenn ja, ist es ein Miniausflug. Wenn nicht, machen Sie das bitte bei einem Berlin Besuch. Gehen Sie bitte zum Holocaust-Mahnmal (Denkmal für die ermordeten Juden Europas) und schauen Sie sich den Flügel links vom Eingang an. Da ist bereits etwas entstanden, was nicht wenige Berliner nicht ohne eine bittere Ironie "Ballermann" nennen: Bistros, Cafés, Imbisse, Souvenir Shops: alles bunt und lustig und international... Genau das meinte ich.
Verstehe - und listig untergebracht am Ende eines eher positiv gestimmten Absatzes.
Ich habe das Mahnmal kurz nach seiner Eröffnung und zu einer relativ "günstigen" Zeit besucht, bin dem entstehenden "Ballermann" so wohl aus dem Weg gegangen.
Werde mir das beim überfälligen nächsten Berlin-Aufenthalt mal ansehen.
Dem Autor einen herzlichen Dank für diesen Artikel. Hierzu möchte ich ihm eine erlebte Geschichte erzählen: vor ca. 30 Jahren war ich oft in Tambov, um den Baufortschritt einer von meinem Arbeitgeber geplanten Fabrik im Rahmen eines Joint-Venture zu begleiten. Ich aß zu Abend, als unser Bauleiter, ein nach Deutschland ausgewanderter Russlanddeutscher, uns seinen alten russischen Pass zeigte. Dort stand unter "Nationalität" der Eintrag "deutsch". Daraufhin holte meine russische Dolmetscherin Tamara, eine junge Frau von etwa 20 Jahren, ihren russischen Pass aus der Handtasche. Dort stand unter "Nationalität" der Eintrag "jüdisch". Dies überraschte mich. Fünf Jahre später erhielt ich von Tamara einen Brief, in welchem sie mir mitteilte, ob ich ihr behilflich sein könne, für sie einen Arbeitsplatz in Deutschland zu finden, sie würde demnächst nach Deutschland auswandern. Ich konnte ihr helfen. In einer westfälischen Mittelstadt angekommen nahm sie Kontakt zur dortigen jüdischen Gemeinde auf. Statt mit Wohlwollen fühlte sie sich dort mit Misstrauen, fast Ablehnung aufgenommen, weswegen sie den Kontakt abbrach. Wieder einige Jahre später folgte sie ihrem nichtjüdischen französischen Freund in die französische Provinz, heiratete und gebar zwei Kinder. Von ihrer vormaligen jüdischen Nationalität ist ausser Geschenken an die Kinder zu Hanuschka nichts übrig geblieben. Dazu muss gesagt werden, dass sie selbst nie religiös war, auch schon ihre Eltern nicht, welche sich als Marxisten ansahen.
@Frank Linnhoff
Danke. Eine schöne leicht melancholisch stimmende Geschichte. Weil der Traum wäre natürlich, dass der erste Kontakt zu einer Gemeinde nicht gleich der letzte ist, was durchaus vorkommt. Entscheidend ist, Tamara ist in Ordnung, schön wäre's, wenn das Jüdische da nicht 100% weg fällt. Was natürlich jedem/r komplett überlassen ist.