Wenn ich mir die weltweiten Entwicklungen in den letzten drei Jahrzehnten anschaue, dann verstärkt sich bei mir zunehmend der Eindruck, dass die Religion eine Renaissance erlebt.
Die große politische Wende in den 80ern war die Auflösung des Ostblocks. Bekannte Stichwörter sind Glasnost und Perestroika (in der ehemaligen Sowjetunion), die Gewerkschaft Solidarność (in Polen), die Wende (in der ehemaligen DDR).
In den sozialistischen und kommunistischen Staaten des 20. Jahrhunderts wurde den Religionen vielfach repressiv-autoritär anti-religiös begegnet, während der Sozialismus und der Kommunismus in den Rang von Ersatzreligionen erhoben wurden. Dabei ist der Kommunismus, wie ihn Karl Marx vertreten hat, lediglich nicht-religiös ausgerichtet gewesen, mit dem Hintergrund, dass durch die Verwirklichung des Kommunismus die Religion überflüssig werde. Die Kernpassagen zitiert: »Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volkes.« (Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, Einleitung, Abschnitt 378) - und: »Die Aufhebung des Religion als des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glücks.« (dito, Abschnitt 379).
In dem Sinn ist der Kommunismus und der Sozialismus als der Weg hin zum Kommunismus eine Fortsetzung des Humanismus und der Aufklärung. Alle drei Strömungen stehen in der Tradition des Säkularismus, und haben in Europa zur Ablösung der politischen Ordnung von geistlich-religiöser Bestimmung beigetragen.
Diese herzlose Welt des 19. Jahrhunderts, von der Karl Marx spricht, habe ich in meinem Blog-Artikel 'Linksbewegt' erwähnt. Es ist die Welt des liberalistischen Kapitalismus, wo die Arbeiter von den bürgerlichen Kapitalisten ausgebeutet werden und von kommunaler und staatlicher Seite in Stich gelassen werden, sodass die Arbeiterschaft in Not, Armut und Elend versinkt.
Seit dem 19. Jahrhundert hat es vielfache arbeits- und sozialrechtliche Fortschritte zur Verbesserung der Verhältnisse der Arbeiter und der Beschäftigten überhaupt gegeben, erwachsen aus dem Kampf der Beschäftigten, der Gewerkschaften und der sozialen Bewegungen, sowie auch aus der Erkenntnis der Notwendigkeiten bei den Herrschenden.
Im 21. Jahrhundert ist praktisch das 19. Jahrhundert in neuer Form mit dem Neoliberalismus endgültig zurückgekehrt, wo die Errungenschaften nach und nach rückgängig gemacht werden. Bekannte Stichwörter sind Lissabon-Strategie (der EU), Agenda 2010, Hartz IV, Finanzkrise, Bankenrettung, Sparpaket.
Der Neoliberalismus kommt mir als Ersatzreligion vor, wie es im Song-Video 'Geld/Money' so schön dargestellt ist. Der unbedingte Glaube an das Geld. Zudem der unbedingte Glaube an das eigene Ich. Man verwirklicht sich durch das Geld. Ich habe, also bin ich.
Der Liberalismus ist eine der großen Strömungen des 19. Jahrhunderts, neben dem Sozialismus (Kommunismus) und dem Konservatismus. Alle drei kann man als verschiedene Folge-Ergebnisse des Humanismus und der Aufklärung sehen. Nur stellt der Sozialismus die Gesellschaft in den Mittelpunkt, während der Liberalismus das Individuum in dem Mittelpunkt stellt. Wie oben festgestellt, können beide als Ersatzreligionen auftreten.
Der Konservatismus demgegenüber hat die traditionelle Religion beibehalten, wenn auch abgeschwächt. Wie stark jedoch die christlich-abendländischen Grundwerte in konservativen Staaten und Bundesländern wie Bayern noch verwurzelt ist, kann man an dieser Entscheidung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofes sehen. Der Neokonservatismus aus den USA zeigt sogar fundamentalistisch evangelikale Elemente.
Der wachsende Antimuslimismus im Westen und der Krieg des Westens im Irak und in Afghanistan seit 2001 haben ja etwas Kreuzzugsartiges. Da kann man sich die Frage stellen, inwieweit es Religionskriege sind, wo islamische, christliche und atheistische Fundamentalisten aufeinanderprallen.
Mein Blog-Artikel 'Kommunismus und Christentum' endet mit dem Satz: »Ich verstehe auch die Muslime, die sich heute stärker dem Islam zuwenden, auch dem politischen Islam - Zuflucht suchend im Glauben und in der Gemeinschaft. Analog zur christlichen Befreiungstheologie.«
Die lateinamerikanische Befreiungstheologie, wie sie von Ernesto Cardenal in einer Grußansprache vor dem Bundeskongress Der Linken skizziert wurde. Die Linke trennt übrigens Staat und Kirche, siehe im Programmentwurf 'Kirchen und Religionsgemeinschaften'. Es liegt an den einzelnen Parteimitgliedern, ob sie einer Religion angehören oder nicht. Es gibt auch die 'AG Christinnen und Christen bei der Partei Die Linke'. Siehe deren Positionspapier.
In den letzten 30 Jahren hat sich die Welt schier auf den Kopf gestellt. Der Sozialismus hat nun die sozialen und ethischen Werte für die Menschen aufgenommen und trägt sie weiter. Die Verbindung von einem Reformierten Ursozialismus und Urchristentum ist eine interessante These für die Zukunft.
Was die Religion überhaupt betrifft, so stellt sich die Frage, in welchem Maße und in welcher Art sich die Menschen ihr wieder stärker zuwenden angesichts der härteren Zeiten mit fortlaufendem Sozialabbau, Umverteilung von unten nach oben, fortschreitender sozialer Kälte, zunehmender Entsolidarisierung, verstärkter Ellenbogengesellschaft und gravierender Finanzkrisen.
In unserem Substadtteil soll kirchlicherseits eine Tafel eingerichtet werden. Die Kirchen und ihr Engagement werden wieder stärker gebraucht. Es sollte aber die Aufgabe des Staates sein, dafür zu sorgen, dass seine Bürger ausreichend zu essen haben. Im Artikel 20 des deutschen Grundgesetzes steht: »(1) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.«
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Kommentare 6
Lieber Red Bavarian
Die von Dir aufgegriffenen Fragen werden im Moment ein bisschen ignoriert. Es liegt an der Jahreszeit, an aktuellen events und vielleicht auch daran, dass es in anderen Ordnern höchst theoretische Streitereien um linke und philosophische Themen gibt, die mir das Interesse am Gedankenaustausch ein bisschen verhagelt haben.
Die Zusammenarbeit von Christen und Marxisten - wie sie ja auch von Ernesto Cardenal verfolgt wurde - hat eine längere Tradition als man denkt. Und bei den Katholiken war es ja nicht nur Ernesto Cardenal, sondern viele andere, die sich "linken" Ideen zuwandten.
Aufbruch nach Nikaragua heißt z.B. ein Buch, das sich mit dem deutsch-deutschen Systemwettstreit in diesem Zusammenhang beschäftigt.
Vielleicht nur für Historiker interessant. Spannend daran ist ja nicht so sehr die DDR-Angelegenheit, sondern die Chance, die sich bei Cardenal aus dem Widerstehen dieser Vereinnahmung ergab. Der Kardinal Romero hat sein Engagement gegen die Diktatur mit dem Leben bezahlt.
Es gab noch den viel berühmteren Leonardo Boff, der mit einem Bußschweigen durch den Papst bestraft wurde. Die Bewegung der Basisgemeinden in vielen lateinamerikanischen Ländern hat eine lange Tradition, ist aber jetzt wohl aufgrund der Politik des Vatikans ziemlich zum Erliegen gekommen.
Überhaupt die Auseinandersetzungen innerhalb der gesamten christlichen Welt sind interessant und dramatisch. Ein bisschen ist das auch in Deutschland zu spüren.
"In den letzten 30 Jahren hat sich die Welt schier auf den Kopf gestellt. Der Sozialismus hat nun die sozialen und ethischen Werte für die Menschen aufgenommen und trägt sie weiter. Die Verbindung von einem Reformierten Ursozialismus und Urchristentum ist eine interessante These für die Zukunft."
Eine These oder eine Utopie. Egal, ich fände es auch gut, wenn sich die Grundintentionen vereinigten ohne dass es wechselseitige Versuche gäbe, die anderen zu vereinnahmen.
Noch eine Anmderkung:
"Aufbruch nach Nikaragua" heißt ein Buch, das sich mit dem deutsch-deutschen Systemwettstreit in diesem Zusammenhang beschäftigt.
Vielleicht nur für Historiker interessant. Spannend daran ist ja nicht so sehr die DDR-Angelegenheit, sondern die Chance, die sich bei Cardenal aus dem Widerstehen dieser Vereinnahmung ergab.
Er blieb und ist unabhängig.
Entschuldigung, eine Passage hat sich "verdoppelt". Ich hab nicht aufgepasst, weil ich mehrere Sachen im Editor zusammengetragen habe.
:_))
»... höchst theoretische Streitereien um linke und philosophische Themen ...«
Über linke, philosophische und theologische Themen könnte man urlang theoretisieren. Mein Ziel ist es, mich mehr an der Praxis zu orientieren. Anders gesagt: Wie kann man das, was die Menschheit über die Jahrhunderte erkannt hat, in die Praxis umsetzen.
»Die Zusammenarbeit von Christen und Marxisten - wie sie ja auch von Ernesto Cardenal verfolgt wurde - hat eine längere Tradition als man denkt. Und bei den Katholiken war es ja nicht nur Ernesto Cardenal, sondern viele andere, die sich "linken" Ideen zuwandten.«
Richtig. Nur hatte ich mich bisher eigentlich nicht mit dieser Verbindung beschäftigt. In meinem eigenen Leben waren die zwei Themenkreise getrennte Stränge.
»Aufbruch nach Nikaragua heißt z.B. ein Buch, das sich mit dem deutsch-deutschen Systemwettstreit in diesem Zusammenhang beschäftigt.
Vielleicht nur für Historiker interessant. Spannend daran ist ja nicht so sehr die DDR-Angelegenheit, sondern die Chance, die sich bei Cardenal aus dem Widerstehen dieser Vereinnahmung ergab. Der Kardinal Romero hat sein Engagement gegen die Diktatur mit dem Leben bezahlt.«
Interessant ist, welche Auswirkungen die Idee der Befreiungstheologie in der Zukunft hat.
»Es gab noch den viel berühmteren Leonardo Boff, der mit einem Bußschweigen durch den Papst bestraft wurde. Die Bewegung der Basisgemeinden in vielen lateinamerikanischen Ländern hat eine lange Tradition, ist aber jetzt wohl aufgrund der Politik des Vatikans ziemlich zum Erliegen gekommen.«
Da steckt eine über 1.600-jährige machtkirchliche Tradition des katholischen Christentums drin, seit der römische Kaiser Theodosius das Christentum zur Staatsreligion des Römischen Reiches erklärt hatte.
»Überhaupt die Auseinandersetzungen innerhalb der gesamten christlichen Welt sind interessant und dramatisch. Ein bisschen ist das auch in Deutschland zu spüren.«
Nicht nur ein bissel seit die ganze Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in kirchlichen Einrichtungen ans Tageslicht gekommen ist. Wobei das Problem ein gesamtgesellschaftliches ist. Aber das ist ein anderes Thema, um das es hier nicht geht.
»Eine These oder eine Utopie. Egal, ich fände es auch gut, wenn sich die Grundintentionen vereinigten ohne dass es wechselseitige Versuche gäbe, die anderen zu vereinnahmen.«
Ich empfinde es auf der individuellen Ebene als eine Synthese. Ich bin kein spirituell-religiöser Mensch, darum geht mir die religiöse Dimension der christlichen Lehre nicht so ein, im Gegensatz zur sozialen Dimension. Die klassische Theologie legt die Bibel mehr religiös aus, während die Befreiungstheologie sie mehr sozial auslegt. Das führt bei mir zu einem Aha-Effekt. Das bisherige Materialistisch-Weltliche wird durch das Spirituell-Weltliche ergänzt. Es ist ein anderer Schlüssel zur Bibel und zur christlichen Lehre, der eine innere Tür bei mir aufsperrt.
Was die gesellschaftliche Dimension betrifft, so sehe ich noch nicht klar. Wenn ich mir die Vergangenheit in Lateinamerika anschaue, dann haben sich die Verbindungen recht komplex ausgewirkt.
»Ich glaube eher: Ich konsumiere, also bin ich.«
Ja, das auch. Wobei man zum Konsumieren im Kapitalismus Geld braucht. Ich habe mich besonders auf die "Dagobertisten" bezogen, die jeweils x Millionen bis x Milliarden an Vermögen ansammeln. So viel kann man gar nicht konsumieren, da kann man höchstens Bäder in seinem Geldspeicher nehmen.
»Das die Religiosität wieder an Bedeutung gewinnt, hat vielleicht auch damit zu tun, dass wir in einer immer rationaleren Welt leben, in der wir immer stärker als Arbeitskraft (übertrieben: wie Maschinen angesehen werden) und nicht mehr als Menschen wahrgenommen werden.«
Ja, das auch. Wir erleben heute, dass dieser Materialismus überhand nimmt. Mit dem Begriff rational bin ich vorsichtiger geworden, denn es ist ja nicht irrational, wenn man den Menschen als mehr seiend als den Körper versteht. Also als Einheit von Körper und lebendigem Bewusstsein, oder in mehr biblischen Begriffen als Einheit von Fleisch und Seele.
»Zudem braucht der Mensch vielleicht das Übernatürliche; das Unerklärliche, das ja zusehends verschwindet.«
Vielleicht ist es einfach die Wiedererkenntnis des Spirituellen, das so viele Menschen heute in unserem Kulturkreis aus den Augen verloren haben. Also nicht eine Dualität Natürliches vs. Übernatürliches, sondern ein fließender Übergang.
tinyurl.com/2b6axbq
Dies ist ein Link zu einem interessanten Foto: Die Dominikaner in den Niederlanden - viel progressiver als hier - haben 1985 das verhängte Bußschweigen gegen Boff stark kritisiert.
Damals war Karl Derksen (mit dem Bart) -Vizeprovinzial der Dominikaner - oft in der DDR zu Friedensveranstaltungen. Es ist ihm nach der Wende übel bekommen.
Korrektur: Also als Einheit von Körper und lebendigem Bewusstsein, oder in mehr biblischen Begriffen als Einheit von Leib und Seele.