Nichts sagen können

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Eine fiktive Gedanken-Collage eines Teenagers zwischen Kindheit und Pubertät in einem Dorf in den 70ern:

Ihr haltet Euch für superklug, und mich für ein dummes Kind. Warum habt Ihr mir das Buch weggenommen, Euer Buch. Es ist interessant, es geht da um Perversionen. Meint Ihr, das was ich da gelesen habe, schadet mir? Dazu brauche ich Euer Erwachsenenbuch nicht, ich bin doch schon pervers.

Gescheit bin ich, das gebt Ihr zu, aber sonst bin ich doch nur Dreck für Euch. Nicht so, wie Ihr mich gern gehabt hättet. So werde ich auch nie sein. Ihr könnt mir nicht in den Kopf schauen, auch nicht mit dem blöden Apparat. Ich habe jetzt keine Kopfschmerzen, ich fühle mich wohl. Weil Ihr nicht da seid, ich brauche jetzt keine Angst haben. Ich kann mich entspannen.

Ich kann allein auf das Haus aufpassen, Ihr werdet es sehen. Ich habe es versprochen, ich werde es halten. Aber das, was ich aus meinem Kopf hervorhole, das geht Euch nichts an. Ihr werdet es nicht merken. Der Arzt merkt auch nie was.

Eure brave Tochter werde ich sein. Nein, Ihr wisst nicht, was ich träume. Vorhin, im großen Spiegel, da habe ich es gesehen. Fast hätte es auch jemand anderes gesehen, gestern auf dem Feldweg. Die sind vorbeigefahren, ich habe mich normal verhalten. Haben dann angehalten. Puh, wie mein Herz geklopft hat. Sind dann aber weitergefahren. Und danach noch die aus meiner Klasse, da sah ich aber schon wieder normal aus. Haben mich gerufen, ich bin einfach weitergefahren. Hat wieder geklappt.

In der ersten Klasse haben sie gelacht. Wegen etwas anderem, was mir passiert ist. Ist schon lange her. Zur Strafe dann noch in den nassen Sachen weiter im Unterricht hocken. Und dann ewig lang verspottet werden. Aber es gibt Schlimmeres. Ich will jetzt nicht daran denken.

Im Augenblick geht es mir gut. Wenn sie wieder da sind, dann muss ich wieder der Sohn sein. Ja, pervers.

Sport mag ich nicht. Nicht so wegen dem Sport, sondern wegen den anderen.

In der Volksschule hat ein Lehrer mal gesagt, dass ich wie ein Mädchen werfe, beim Ballwerfen. Hätte mich eigentlich ärgern sollen, hat es aber nicht wirklich. Bewertet worden bin ich dann aber wie ein Bub. Das hat mich dann tatsächlich geärgert. Ich kann halt nicht so weit werfen.

Jetzt in der Realschule gibt es keine Mädchen. Knabenrealschule. Die Mädchen haben ihre eigene Realschule. Was wir im Sportunterricht machen, das kommt auch immer drauf an, welchen Lehrer wir haben. Fußball ist schlimm. Volleyball geht noch. Als Feldspieler tauge ich nicht, beim Auswählen bleibe ich eh immer übrig. Irgendwer muss ins Tor, da stehe ich dann meistens.

Das Umziehen. Ich weiß noch, in der Grundschule, wenn da einer eine Strumpfhose anhatte. Keine Mädchenstrumpfhose. Was der sich von den anderen anhören musste. Ich habe immer noch eine im Kleiderschrank. Interessiert mich aber nicht so. Die alten von meiner Mutter schon, da steht im Keller ein Sack mit aussortierten Sachen. Merkt keiner, wenn ich mal eine herausnehme. Zerrissen habe ich noch keine, wenn sie noch in Ordnung war, ich weiß ja, wie man die richtig anzieht.

Ach, das Umziehen in der Schule beim Turnen. So schnell, wie es geht. Ja, ich weiß, dann miefe ich. Aber ... die anderen. Und aufpassen muss ich auch auf meine Sachen. Meine schönen, neuen Turnschuhe. Geklaut haben sie mir die. Hat natürlich keiner herausgefunden, wer es war.

Radfahren mag ich. Ich habe so ein Bonanzarad, gelb, mit 3-Gang-Schaltung. Manchmal fahre ich damit in die Schule, statt den Bus zu nehmen. Das Absperren vergesse ich nicht. Wenn mir das auch gestohlen würde. Dann müsste ich das alte Rad von meiner Mutter nehmen. Das fährt nicht so gut, aber einen Vorteil hat es: Da kann man auch mit einem längerem Rock fahren.

Rollschuhfahren mag ich eigentlich auch. Aber das wird einem vermiest. "Rollschuhfahren ist nur was für Mädchen und für kleine Buben", sagen die anderen. Aber Schlittschuhfahren im Winter, das geht. Ich weiß nicht, wo da der große Unterschied sein soll.

Immer vernünftig sein. Es gibt da einen Mann, der war im Irrenhaus. Damit haben mir meine Eltern Angst gemacht: "Wenn Du nicht vernünftig wirst, dann kommst Du dorthin". Früher mit dem Heim, aber das zieht nicht mehr. Inzwischen wäre ich froh, wenn ich wegkäme. Ich will keine Angst haben, aber... Meine Cousine ist mal überfallen worden von einem Mann. Hat auch eine Gerichtsverhandlung gegeben. Ist getratscht worden im Dorf. Meine Cousine mag das Dorf nicht, ich auch nicht. Ich kann sie voll verstehen. Als ob sie schuld gewesen wäre. Weil sie anders ist. Ich bin auch anders. Im Irrenhaus - die Männer. Wenn sie mich da einsperren. Was die mit mir machen.

Ich habe schon wieder Kopfweh. Gehirnströme aufzeichnen - EEG, weil ich immer wieder Kopfschmerzen habe. Finden aber nichts. Ich sage auch nichts. Im Zeugnis steht immer wieder, dass ich zu ruhig bin, dass ich im Unterricht nicht mitarbeite. Meine Noten sind auch nicht gut. Ich bin aber nicht dumm, und ich lese viel. Aber der Stoff in der Schule interessiert mich nicht wirklich. Und Mathe. Meine Mutter kann gut Kopfrechnen, aber sie kann mir nicht helfen bei dem ganzen Algebra-Zeug.

Die Lehrer sind streng, aber sie schlagen niemanden. Wenn ich an die Volksschule denke. An die zweite, wo ich war. Der Direktor dort ist angezeigt worden, weil er einen Schüler, der am Boden gelegen ist, getreten hat. Ich weiß nicht, wie es ausgegangen ist. Das Alltägliche dagegen erregte kein Aufsehen. Da gab es einen brutalen Lehrer, der hat gern Watschen verteilt. Mich hat es auch mal erwischt. Der hat richtig fest zugeschlagen, danach hat er mich zum Direktor geschleppt. Der hat mich dann ausgeschimpft. Nur weil ich mal im abgesperrten Teil des Kellerraums war. Unser Klassenraum war auch im Keller. Daheim habe ich nichts gesagt, hätte auch nichts genutzt.

Daheim ist es schlimmer, viel schlimmer. Mein Vater hat mir erzählt, wie es früher bei ihm war. Wie das Blut geflossen ist, wirklich. Wie der Nachbar seine Buben verprügelt. Auch wenn sie gar nichts getan haben, oder wegen Kleinigkeiten? Wie bei mir. Da wird keiner angezeigt. Meine Schwestern schlägt er nicht. Mädchen darf man nicht anfassen.

Ich schaue aus dem Küchenfenster. Das kleine Haus der Familie sehe ich. Die Familie, mit der die Leute nichts zu tun haben wollen. Warum genau, weiß ich nicht. Als ob die alte Frau eine Hexe wäre, wie im Mittelalter. Meine Eltern haben mir den Umgang mit ihrer Enkelin verboten. Ist schon einige Zeit her. Sie ist in meinem Alter, mit ihr habe ich mich gut verstanden. War früher in der gleichen Klasse wie ich. Wir sind beide Außenseiter, sie wegen ihrer Familie, ich, weil ich so seltsam bin. Wenn ich nach links schaue, dann sehe ich das Haus, wo ein anderes Mädchen wohnt, mit ihr habe ich auch keinen Kontakt mehr. Auch sie in derselben Klasse in der Grundschule, bevor sie aufs Gymnasium gegangen ist. Ist irgendwie komisch, die Mädchen sind aufs Gymnasium oder auf die Realschule gegangen wie ich, die Buben sind auf der Hauptschule geblieben, ich meine die aus meiner Jahrgangsstufe im Dorf.

In der Mädchenrealschule haben sie drei Zweige: Technisch, wirtschaftlich und sozial. In der Knabenrealschule gibt es keinen sozialen Zweig. Ich bin im wirtschaftlichen. Die Mädchenrealschule ist ein altes Schloss, wirklich. Ich denke, es wäre schöner dort. Aber ich bin ja kein Mädchen.

Knabe, blödes Wort. Klingt wie aus dem Mittelalter übriggeblieben, wie das Kaff, in dem ich leben muss. Da kommt man nicht weg. Außer man ist mutig, wie meine Cousine. Die ist aber schon ein paar Jahre älter als ich. Die hatte Bilder von irren Rockbands. Ich glaube, wären die Bandmitglieder hier im Dorf aufgetaucht, dann wären sie mit Mistgabeln und Fackeln empfangen worden.

Mutige Mädchen, ich bin nicht mutig. Dann wäre ich schon weggelaufen. Aber allein sollte man da nicht sein, ich bin allein. Ein Kind bin ich nicht mehr, ich weiß, dass es auch gefährlich sein kann. Ich traue mich nichts. Es ist gar nicht so lange her, da hatte ich Angst vor Geistern im Keller, bin immer geschwind die Kellertreppe von unten hinaufgelaufen, damit mich ja keiner erwischt. In den Alpträumen erwischt mich aber immer etwas. Er erwischt mich immer. Ich bin zu schwach, zu langsam.

Zu schwach. Stark sein und viel aushalten können soll ich. Seinen Sport treiben, Kraftsport. Ich will es nicht. Ich will nicht so sein. Meine Schwestern müssen doch auch nicht so sein. Klar, sind ja Mädchen. Ich habe ihnen nichts getan, wie meine Schwestern und Cousinen mal beim Spielen geschrien haben, mein Onkel und meine Tante, die auf Besuch bei uns waren, haben es extra gesagt. Trotzdem hat er auf mich eingeprügelt. Ich muss ja schuld sein, wenn ich der einzige Bub bin. Ich bin immer schuld. Und dann hätte ich es eh wieder mal gebraucht.

Ich kann besser schreiben und lesen als er. Und dann macht er sich wieder lustig über mich, dass ich so schwach bin, wie dünne Ärmchen ich habe. Ich muss den Rasen mähen, mit dem schweren mechanischen Rasenmäher, den großen Rasen.

Die sind weg, ich bin allein daheim. Die haben Ruhe vor mir, ich habe Ruhe vor denen. Ich bin ja vernünftig, die wissen, dass ich nichts anstelle. Jedenfalls nichts, was sie etwas anginge. Also ehrlich gesagt, ruhig bin ich nicht. Ich war vorhin unter der Dusche, habe einfach das Wasser aufgedreht, nur das kalte. Wie kann etwas gleichzeitig schön und eklig sein?

Es war toll, zuerst. Ich ging im Hausflur elegant in den Stöckelschuhen, die mir passen, hatte diese Sachen an, die meine Mutter früher getragen hatte, als sie jung war, hatte mich hübsch gemacht. Wie ein Model auf dem Laufsteg, oder wie die Frauen, die früher Rock'n'Roll getanzt haben. Ich hatte mich hineingesteigert, dann auf meinem Bett gewälzt. Irgendetwas ist in meinem Kopf explodiert und überhaupt. Ich glaube, das war auch so ein Zustand, wie ein paar dieser Leute in diesem Buch es erlebt haben.

Mir ist es im Augenblick egal, ob ich nun völlig durchgedreht bin.

Wie es ist zu sterben, habe ich schon als Kind gewusst. Weil ich fast mal gestorben wäre. Da haben sie sich Sorgen gemacht. "Es ist echt knapp gewesen" haben sie gesagt. Ich hatte früher Anfälle, wo mir die Luft weggeblieben ist. Wäre niemand dagewesen, dann wäre es aus gewesen. Es ist grausam, wenn man keine Luft mehr bekommt. Aber irgendwann wird es friedlich. Ich erinnere mich noch, dass ich zuerst alles wieder verschwommen gesehen habe, nachdem sie mich zurückgeholt hatten, dann die Leute klarer, die um mich herumstanden.

Meine Eltern sind jetzt im Urlaub weit weg, ich hüte das Haus. Ich denke, es ist weniger Vertrauen, sondern mehr die Heiligkeit des Urlaubs, und dass sie mich hassen. In einem vorherigen Urlaub war ich noch dabei. Da wurde ich krank, hatte Fieber. Sie sind einfach weggefahren zu einem Ausflug und haben mich im Zelt liegenlassen. Die Campingnachbarn haben gesagt, ich habe geschrien. Hassen meine Eltern mich so? Einfach ihr krankes Kind im Zelt liegen lassen und sich einen schönen Abend machen? Den heiligen Urlaub haben sie auch nicht abgebrochen.

Das habe ich genutzt. Ich habe sie überzeugt. Der Urlaub war für mich jedes Mal eine Qual. Die lange Fahrt nach Jugoslawien, meiner Schwester ist es immer schlecht geworden, dann hat sie gespeit. Wir saßen zu Dritt hinten, zwischen Gepäck. Ich durfte nur wenig mitnehmen. Am Campingplatz war es langweilig für mich. Ich mag das Wasser nicht, das Meer. Was da alles herumschwimmt. Die Sonne mag ich auch nicht. Jedes Mal habe ich einen Sonnenbrand bekommen, am ganzen Körper. Es hat so weh getan. Aber beklagen durfte ich mich nicht. Ich habe eine so helle Haut, die ist empfindlich. Ich habe dann die meiste Zeit im Zelt verbracht.

Ins Schwimmbad gehe ich schon länger nicht mehr. Ich vertrage das Wasser nicht, die Sonne auch nicht. Es spart ja auch Geld. Das sage ich. Dass ich mich schäme, halbnackt herumzulaufen, das sage ich nicht. Frühers haben auch die Männer Badeanzüge getragen. Die Frauen sind fast voll angezogen ins Wasser gegangen. Hätte mir nichts ausgemacht, ich mag das Wasser eh nicht, ich gehe lieber spazieren.

Im Urlaub meiner Eltern bin ich auch lieber herumgelaufen, auf der kleinen Insel. Eine FKK-Insel, ganz nackt in der Sonne. Nein, ich nicht, auch nicht meine Eltern. Es war so anders als im Dorf. Die Leute haben sich ganz normal verhalten ohne etwas an. Die haben die Angezogenen nicht so gemocht. Ich bin wenig im Wasser gewesen, sondern bin auf der Insel herumgeklettert. Habe mir die Zehennägel abgebrochen auf den Steinen trotz der Sandalen. Ist aber immer noch besser als im Meer auf einen Seeigel treten. Seeigel, Seewürmer, Seespinnen. Mich gruselt es vor Spinnen. Seespinnen sind keine echten Spinnen, es sind große Krabben, aber sie sehen gruselig aus. Eine echte Spinne war mal im Boot, eine große. Ich habe mich aufgeführt. Ich Angsthase.

Dafür kann ich die Namen der Ortschaften richtig aussprechen. Er nicht. Ich habe im Wörterbuch gelesen und gelernt. Serbokroatisch, Srpsko-Hrvatski. Zungenbrecher, die anderen brechen sich die Zunge, ich nicht.

In der Schule sollen alle möglichst gut sein. Ich bin sitzengeblieben. Das erste Mal. Nochmal die Achte. Hockenbleiber. In der ersten Klasse damals, ich habe mal gerechnet, da war ich gerade erst sechs Jahre alt geworden. Ich hasse die Schule. Linkshändig bin ich auch. Ich habe aber nicht mit der linken Hand schreiben dürfen. So ein dummes Kind, weiß nicht einmal, mit welcher Hand man schreibt. Eher ein Baby, das noch Windeln braucht. Wenn ich das Schulfoto aus der ersten sehe. Ich hatte da die gleiche Hose an wie an dem Tag, wo mich der Lehrer nicht aufs Klo gelassen hatte. "Ein schönes Foto", sagen sie. Nein.

Ich weigere mich, Fotos von mir machen zu lassen. Da brauche ich aber keine Angst haben, die fotografieren mich eh kaum mehr. Auf einem anderen Foto sind die aus meiner Klasse. Ich im Anzug, als einziger. Sehe ich da bescheuert aus. Aber damals habe ich wirklich schöner ausgesehen, jetzt entwickle ich mich regelrecht zum Monster, ha ha. Die Mädchen auf dem Foto haben alle Kleider und Röcke an. Sind mir aber zu kurz, die langen von meiner Mutter früher gefallen mir besser. Die Freundin meiner Schwester muss die abgelegten Hosen vom älteren Bruder anziehen, die findet das blöd, sagt meine Schwester. Ich habe keine ältere Schwester, aber wenn, dann müsste ich trotzdem nicht ihre abgelegten Sachen anziehen. Dürfte sie nicht anziehen. Wie käme ein Bub dann daher. Außer im Fasching.

Meine Mutter hatte mich da mal gefragt, ob ich nicht als Mädchen auf die Kinderfaschingsfeier gehen möchte. Ich bin erschrocken und habe nein gesagt, auf keinen Fall. Weiß sie was von meinem Geheimnis? Einmal war es echt knapp, aber ich habe die Nerven behalten. Ich bin ins Bett gesprungen, die Decke bis an den Hals.

Ich weiß nicht, was er machen täte, wenn er mich mal so sieht. Wahrscheinlich mich erschlagen. Dann wäre es vorbei. Ich weiß ja schon, wie das ist. Irgendwann tut es nicht mehr weh, es wird dann friedlich. Einmal, da hatte ich mir einen Fingernagel abgerissen, das tat höllisch weh. In der Nacht habe ich dann geweint, zu laut. Ich habe ihn aufgeweckt. Er ist in mein Zimmer gestürmt und hat auf mich eingeschlagen. Meine Mutter musste ihn dann zurückhalten, weil er nicht mehr aufgehört hat. Aber sie war danach nicht bei mir. Es war dunkel, nur das Kreuz über meinem Bett hat geleuchtet. Es hat aber nichts genutzt.

Ich zittere jetzt wieder, ich kriege Kopfweh. Ich will nicht mehr daran denken. In der Kirche hängt vorn ein riesiges Kreuz. Ich musste immer mit. "Sonst kommst Du in die Hölle", sagen sie. Bin ich doch schon. Im Fernsehen ist mal ein Bericht gekommen über eine Frau, die die Wunden von Jesus hatte. Ich schaue meine Hände an, noch nichts zu sehen. Ich habe Angst, dass ich auch mal so werde. Ich habe geträumt, dass Jesus zu mir kommt. Aber nicht, um mich zu trösten, sondern weil ich nun ans Kreuz muss.

Meine Mutter wollte mich mal in den Arm nehmen, ich war ganz starr, ich habe nichts gefühlt. In der Nacht, wo ich sie so sehr gebraucht hätte, da hat sie mich nicht in den Arm genommen. Sie ist mit ihm zurückgegangen. Ich glaube nicht, dass meine Mutter mich hasst, sie hat ihn ja zurückgehalten. Aber sie ist nicht zu mir gekommen, hat mich nicht getröstet. Auch kein Gott, niemand.

In der Grundschule, da hatte ich einmal jemanden verprügelt. Ausgerechnet denjenigen, mit dem ich mich am besten verstanden hatte. Auch wieder ein Außenseiter. Die anderen haben mich aufgehetzt, dann standen sie im Kreis um uns herum und feuerten mich an. Später habe ich mich so geschämt. Ich bin nicht bestraft worden dafür. Die Lehrer sehen sonst alles, aber das haben sie nicht gesehen. Für alles Mögliche wird man bestraft, aber nicht für das. Er wird auch nicht dafür bestraft. Ich will nicht so werden wie er. Niemals.

Für Sünden wird man bestraft. So wie der Mann, der meiner Cousine etwas angetan hat. Es ist eine schwere Sünde. Dass Buben verprügelt werden, das ist normal. Man darf auch nicht weinen, sonst gibt es noch mehr. Mädchen dürfen weinen. Es ist unfair.

Ich wünschte, ich wäre schon älter, wie meine Cousine. Die ist jetzt endgültig weggegangen. Wenn ich älter wäre, dann ließe ich mir von keinem Mann etwas gefallen. Wie die Frauen in der Großstadt. In der Großstadt lässt sich wohl eh niemand etwas gefallen. Dass es dort brutale Jugendbanden gibt. Wenn er einer solchen in die Hände fiele, ich täte ihm nicht helfen. Könnte ich eh nicht, ich bin ja eine ängstliche und schwache Heulsuse. Und eine besserwisserische Spinnerin. Wie meine Cousine. Sie ist mutiger als ich. Und sie mag keine Kleider. Tragen ja eh immer mehr Mädchen Jeans. Ich muss nicht wie eine Prinzessin aussehen. Ich kann auch als Mädchen mutig und stark sein. Und dazu muss ich nicht prügeln. Ich lasse mich von keinem Mann unterkriegen.

Sie sind wieder da. Das Haus ist noch in Ordnung. Ich nicht, ich habe wieder Angst. Ich hätte weglaufen können, als ich allein daheim war. Jetzt geht es nicht mehr. War doch nur ein Wunschtraum mit der Großstadt. Die Nachfolger von Aschenputtelträumen, wenn man kein Kind mehr ist. In der Wirklichkeit kommt kaum jemand weg von hier. Es geht immer weiter. Wir leben in der Siedlung, es wird gebaut und gebaut. Die Bauern leben auf ihren alten Höfen, einer hat sogar noch ein Pferd, die anderen alle schon Bulldogs. Die meisten Nachbarn haben Kinder, die meisten zwei, drei. Die Bauern auch mehr. Das Dorf wächst. Mehr Häuser, immer größere. Mehr Autos, immer größere. Aber die Leute sind immer noch dumm und brutal. Das sage ich natürlich nicht. Ich sage überhaupt kaum etwas. Ich kann auch nichts sagen. Ich kann nicht mal mehr weinen. Ich kann auch immer weniger spüren. Außer wenn ich wieder mal einen Anfall habe. Nein, nicht so einen wie früher, wo man ersticken kann, sondern einen perversen. Da spüre ich noch etwas. Aber es ist irgendwie eklig, und ich muss mich anstrengen und die eine oder andere Sache zusätzlich machen. Am liebsten ist es mir, wenn ich allein bin, wenn sie mal fort sind, zum Einkaufen in der Stadt oder so. Wenn ich dann ganz normal in meinem Zimmer sitze. Die Mädchenkleider, oder eigentlich Frauenkleider, die Sachen meiner Mutter und die meinen Schwestern zu großen passen mir komischerweise genau, also die Kleider helfen mir beim Entspannen und beim Träumen, wie es wäre, ein echtes Mädchen zu sein.

Niemand kann in meinen Kopf schauen. Außer vielleicht meine Mutter. Es kann eh nicht sein, dass ich alles so gut verstecke. Aber sie sagt nichts. Ich auch nichts. Ich wollte, ich könnte irgendwem alles sagen, was mich bedrückt. Aber es geht nicht.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Red Bavarian

Die Vergangenheit analysieren, die Gegenwart gestalten, die Zukunft erdenken.

Red Bavarian

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