Zwischen Himmel und Erde

Mensch Gedanken zu Sittenstrenge, Gerechtigkeit und Menschlichkeit im Lichte von Dao-De-Jing und Bibel

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Hiermit schreibe ich weitere meiner Überlegungen nieder, was auch eine lockere Fortsetzung meines Blog-Artikels 'Wer sucht, wird finden' ist.

Heute fällt ein Schnürlregen. Manch eine_r ist verstimmt darüber, dass wie so oft ausgerechnet am Wochenende — wo die meisten freihaben — ein schlechtes Wetter herrscht, während doch wie so oft unter der Woche — wo die meisten arbeiten müssen — noch ein gutes Wetter geherrscht hat.

Da fällt mir 'der Baum der Erkenntnis des Guten und Schlechten' aus der Genesis in der Bibel ein. Kanonisch-christlicherseits wird 'gut und schlecht' gern im sittlichen Sinne interpretiert, deutlich ausgedrückt als 'gut und böse'. Eine neuere Interpretation findet sich in der Gute Nachricht Bibel, wo der Ausdruck als 'der Baum der Erkenntnis, dessen Früchte das Wissen schenken, was für den Menschen gut und was für ihn schlecht ist' kommunikativ übersetzt ist, was in einer Fußnote als 'umfassendes Wissen von allem, was für das menschliche Leben nützlich oder schädlich ist' erläutert wird. Das kommt der Bedeutung des original hebräischen Begriffs näher, wo 'gut und schlecht' eigentlich 'alles' bedeutet.

Ich sage einfach 'der Baum der (universellen) Erkenntnis'. Diese ist — von Gnosis bis Bodhi schon im antiken Philosophie-Gürtel von Griechenland bis China wohlbekannt — gut, denn die Erkenntnis ist eine natürliche Fähigkeit des menschlichen Geistes, um sich in der Welt zurechtzufinden.

Die Welt ist dem Menschen gegenüber eigentlich indifferent, oder einmal so, einmal so — was auch im oben genannten Beispiel zum Regen drinsteckt. Im Dao-De-Jing, Abschnitt 5, heißt es entsprechend (man lese die Erläuterungen zum Text via Link): "Himmel und Erde sind nicht freundlich: so (wie) sie auch abertausend Geschöpfe behandeln wie Stroh- [*und] Hunde. Auch weise Menschen sind nicht freundlich: so (wie) sie alle Leute behandeln wie Stroh- [*und] Hunde."

Einen anderen Blickwinkel nimmt in der Bibel die Bergpredigt ein. Dort heißt es in Matthäus 5,44-45: "Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und betet für alle, die euch verfolgen. So erweist ihr euch als Kinder eures Vaters im Himmel. Denn er lässt seine Sonne scheinen auf böse Menschen wie auf gute, und er lässt es regnen auf alle, ob sie ihn ehren oder verachten." — entsprechend auch in der Predigt am Berg in Lukas 6,35: "Nein, eure Feinde sollt ihr lieben! Tut Gutes und leiht, ohne etwas zurückzuerwarten! Dann bekommt ihr reichen Lohn. Ihr werdet zu Kindern des Höchsten. Denn auch er ist gut zu den undankbaren und schlechten Menschen." (Übersetzungen aus der Gute Nachricht Bibel)

Auch im Dao-De-Jing, Abschnitt 62, heißt es aus einem ähnlichen Blickwinkel: "Dào – aller Wesen Andachtsort: guter Menschen Schatz, nicht-guter Menschen Zufluchtsort! Schöne Worte kann man gebrauchen beim Tauschhandel, ehrenvolle Taten kann man gebrauchen zum Fördern der Menschen. Menschen, die nicht gut sind – warum verwirft man ihr Dasein?" — und im Abschnitt 67: "Wahrlich, ich besitze drei Schätze, bewahre und schütze sie: der erste heißt Nächstenliebe, der zweite heißt Genügsamkeit, der dritte heißt: „nicht dreist handeln allen voran“. [„Bescheidenheit“] ... Wahrlich, die Nächstenliebe: im Kampf wird sie siegen, in der Verteidigung wird sie widerstehen. Der Himmel, mag er jemanden retten, durch Liebe schützt er ihn."

Das widerspricht manchem Gerechtigkeitsempfinden. Es geht um die Thematik von Gerechtigkeit versus Nächstenliebe versus Natur. Erstere nach dem Motto: "Wenn du richtig handelst, wirst du belohnt; wenn du falsch handelst, wirst du bestraft". Zweitere nach dem Motto: "Egal wie du handelst, du wirst nicht fallengelassen". Letztere nach dem Motto: "Es ist so wie es ist"

Vergleiche in der Bibel auch Paulus & Co im 2. Thessalonicherbrief 3,10: "Wir haben es euch ja auch ausdrücklich gesagt, als wir bei euch waren: Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen." versus Jesus in der Bergpredigt bei Matthäus 6,25-34 und bei Lukas 12,22-32: Das Gleichnis von den Vögeln und den Blumen, die ohne zu säen, ohne zu ernten, ohne Vorräte zu sammeln, ohne zu arbeiten, ohne sich Kleider zu machen, von Gott versorgt werden, wie der Mensch analog von Gott versorgt werden wird.

Das Dao-De-Jing, Abschnitt 34 geht noch weiter in diese Zielrichtung: "Das große Dào ist allüberströmend, ach, es kann links wie rechts sein; abertausend Geschöpfe vertrauen ihm und gedeihen und werden nicht abgewiesen; Verdienste werden erworben – keineswegs nennt es sie „Besitz“. Es kleidet und nährt abertausend Geschöpfe, doch keineswegs macht es sich zum Herrn; beständig ohne Begehren: so kann es bezeichnet werden als „klein“. Abertausend Geschöpfe laufen hier zusammen, doch keineswegs macht es sich zum Herrn: so kann es bezeichnet werden als „groß“. Weil es schließlich nicht sich selbst gilt als „groß“, daher kann es vollenden seine Größe."

Das Dao-De-Jing legt explizit eine Abstufung dar; im Abschnitt 38 heißt es (man lese den gesamten Abschnitt via Link): "Daher: verliere Dào, und es folgt Innere Kraft, verliere Innere Kraft, und es folgt Menschlichkeit, verliere Menschlichkeit, und es folgt Gerechtigkeit, verliere Gerechtigkeit, und es folgt Sittenstrenge. Wahrlich: Sittenstrenge lässt Treue und Aufrichtigkeit ausdünnen und ist der Verwirrung Anfang."

Der Ethik in der Bergpredigt wird mitunter der Vorwurf gemacht, für Menschen nicht erfüllbar zu sein, weil sie zu hohe Anforderungen stelle. Jedoch geht es um ein Streben zum Höchsten, wobei die meisten Menschen zwar das Ziel wohl nicht erreichen, allerdings gehört der Weg schon mit zum Ziel dazu. Wer Dào anstrebt, doch nicht erreicht, kommt trotzdem bis zur Menschlichkeit. Wer hingegen nur Gerechtigkeit anstrebt, doch nicht erreicht, der fällt auf die Sittenstrenge zurück.

Wer Dào anstrebt, der erkennt, dass die Welt nicht 'fressen und gefressen werden' bedeuten muss, sondern 'leben und leben lassen' bedeuten kann, indem man den Weg der Natur mit dem Dé (der inneren Kraft) und dem menschlichen Geist kombiniert, der sich nach dem Dào und dem Geist Gottes richtet. Wer hingegen nur Gerechtigkeit anstrebt, der legt in die Welt das hinein, wo er letztendlich steckenbleibt.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Red Bavarian

Die Vergangenheit analysieren, die Gegenwart gestalten, die Zukunft erdenken.

Red Bavarian

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