Der falsche Türke

Migration Hat sich das Verhältnis der Deutschen zu Zuwanderern tatsächlich gewandelt? Unser Autor hat andere Erfahrungen gemacht
Der Münchner Dennis Yücel
Der Münchner Dennis Yücel

Foto: Kevin Mertens

Mein erster Chef war ein milder, kluger Mann mit einem merkwürdigen Hang zum Absurden. Manchmal, wenn man ihn auf den Bürofluren traf, groß und schlaksig, das weiße Haar zu einem bübischen Scheitel gekämmt, fing er plötzlich an, seine dürren Beine nach vorn zu stechen, wie ein Storch. Auf diese Weise stolzierte er einem direkt vors Gesicht und blieb mit fragendem Lächeln stehen. Zu mir sagte er nach einem ziemlich langen Augenblick peinlicher Stille immer: „Merhaba, Arkadas.“ „Hallo, Freund.“

Ich glaube, er mochte mich ziemlich gern. Auch wenn ich ihn immer wieder enttäuschen musste. Mehrmals ließ er mich in sein Büro kommen und sagte: „Ich brauche Sie jetzt! Sie können doch Türkisch!“ Jedes mal musste ich verneinen, woraufhin er seine Hände immer mit großer Geste in die Höhe schießen ließ und mit zitternder Stimme in den Himmel rief: „Ja, um Gottes Willen! Raus! Raus! Verlassen Sie mein Büro!“

Zu Weihnachten hat er mir trotzdem eine Kaffeetasse geschenkt, auf der mit einem Bier und einem Teeglas angestoßen wird, auf die „Deutsch-Türkische Freundschaft“. Trotz meiner Abneigung gegen alles, was mit irgendwie humoristisch gemeinten Motiven bedruckt ist, habe ich die Tasse aufgehoben. Als Symbol für all die Situationen, in die ich immer wieder gerate, weil ich mein ganzes Leben für jemanden gehalten werde, der ich nicht bin: ein Türke.

Zwar stammt mein Vater aus der Türkei. Weil sich meine Eltern aber scheiden ließen, als ich zwei Jahre alt war, habe ich davon nie viel gemerkt. Von meinem Vater habe ich meinen Nachnamen und meine schwarzen Haare. Alles andere habe ich von meiner Mutter. Und die kommt vom Ammersee.

Ich bin in einer Münchner Reihenhaussiedlung aufgewachsen, mit Tagesschau und Wetten, dass..?, Schweinsbraten und Spaghetti Bolognese und Weihnachtsfesten, die mal besinnlich waren und mal an der Grenze zum Familienstreit. Mit der Türkei hat mich nie etwas besonders verbunden. Außer eben, dass ich mich daran gewöhnen musste, ständig gesagt zu bekommen, ich sei Türke.

Kein Paradebayer

Es ist ein bisschen so, als liefe ich permanent in einer Art Wallraff-Verkleidung durch die Gegend. Man kann eine Menge über Deutschland dabei lernen.

Bis auf einen tyrannischen Grundschullehrer, den man nach einigen Vorfällen aber gefeuert hat, ist mir sehr selten wirkliche Feindseligkeit entgegengeschlagen. Im Gegenteil: Besonders seit Istanbul in den erlesenen Zirkel sogenannter Trend-Metropolen aufgenommen wurde, höre ich zunehmend, wie faszinierend meine vermeintliche Heimat doch sei.

Dennoch finde ich es bemerkenswert, wie sehr die Herkunft meines Vaters ins Gewicht zu fallen scheint. Es hat mich verwundert, dass mein Professor in einem Empfehlungsschreiben auch mein „akzentfreies Deutsch“ für erwähnenswert hielt. Und seit ich aus München weggegangen bin, fällt mir auf, wie wenig Menschen sich mit dem Verweis auf diese Stadt begnügen, wenn sie mich fragen, wo ich herkomme. „Nein, ich meine, wo kommst du wirklich her?“, ist eine Frage, die mir ziemlich oft gestellt wird.

Bayerische Prägung

Ich unterstelle diesen Menschen keinen bösen Willen. Aber ich frage mich manchmal, ob es nicht doch problematisch ist, wenn mein Name und mein Aussehen mehr zu zählen scheinen, als meine gesamte kulturelle Prägung, die vollkommen deutsch – oder um genau zu sein: bayerisch ist.

Als ich einmal mit Kollegen der Süddeutschen Zeitung über eine bayerische Redewendung diskutierte, die ich nicht kannte, sagte einer der Autoren zu mir: „Tja. Du bist eh nicht so der Paradebayer, oder?“ und drehte sich weg.

Persönlich trifft mich so etwas kaum. Ich habe so wenig Verbindung zur türkischen Kultur, dass sich mir überhaupt nicht die Möglichkeit zur Identitätskrise stellt. Ich habe das alles immer locker gesehen, als interessanten Zusatz meiner Biografie. Vor einigen Jahren habe ich sogar mal angefangen, Türkisch zu lernen und es einigermaßen weit gebracht. Aber daraus ist etwas geworden, was mich im Alltag oft nervt und manchmal hemmt. Weil ich mich ständig dafür erklären muss, ganz normal deutsch zu sein.

Reste des Aberglaubens

Und ich frage mich, wie man Migrantenkinder, die so sozialisiert wurden, dass sie sich auch im Heimatland ihrer Eltern zuhause fühlen könnten, dazu bringen soll, ein selbstverständlicher Teil der deutschen Gesellschaft zu werden, wenn selbst mir das nicht vollends zu gelingen scheint.

Ich habe keine Ahnung, was für ein Verhältnis man zur deutschen Gesellschaft entwickelt, wenn man hier in einem türkischsprachigen Elternhaus aufgewachsen ist. Aber ich habe ein Gefühl davon, was für ein Verhältnis die Gesellschaft zu solchen Menschen entwickelt. Es macht einem nicht leicht, sich als ein Teil von ihr zu fühlen.

Manchmal scheint es, als ob es selbst nach all den Jahren, in denen wir uns die Zungen wund diskutiert haben, wie wir das hinkriegen sollen mit dem „Zuwanderungsland Deutschland“, noch immer Reste eines biologistischen Nationaldenkens gibt. Reste eines Aberglaubens, die sich wider allen besseren Wissens einfach nicht ganz loswerden lassen, wie die Vorstellung, die Sonne würde sich um die Erde drehen.

Die Frage nach meiner „wirklichen Herkunft“ impliziert nichts anderes, als dass jenseits aller kulturellen Sozialisation meine eigentliche Heimat irgendwo anders liegt, nämlich dort, woher meine Gene stammen.

Das Paradoxe ist, dass ich selbst so deutsch bin, dass ich das alles selber kenne. Die feinen Unterschiede, die man manchmal zieht, reflexartig, schwer einzugestehen und kaum zu benennen. Denken wir nicht alle manchmal, wenn wir etwa beim Public Viewing einen dunklen Typen im Deutschlandtrikot sehen: „Ach, wie schön! Ein Türke in Schwarz-Rot-Gold! Das nenne ich gelungene Integration!“ – Aber sollte das, was wir „gelungene Integration“ nennen, nicht auch eine Leistung von „uns“ beinhalten, nämlich dass wir den „Türken“ in diesem Menschen gar nicht mehr sehen?

Es ist eine Gratwanderung. Ich bin nicht für die Einebnung aller Unterschiede. Im Gegenteil. Ich lebe in Neukölln und bin froh, dass ich dort Dinge sehe, die es nicht genauso auch in Ebersbach an der Fils gibt. Und mir ist es egal, ob die Menschen hier wissen, dass die Partitur der deutschen Nationalhymne eigentlich für den österreichischen Kaiser geschrieben wurde.

Sie san Türke?

Die Bindung von Land an eine bestimmte Kultur scheint mir ein fragiles Konstrukt, und gerade die Phrase „historisch gewachsen“ unterstreicht, dass sie nie Endgültigkeit beanspruchen kann. Ich kann gut damit leben. Dennoch kann ich Menschen verstehen, die sich ein Land wünschen, das weiterhin von dem geprägt ist, was wir „deutsche Kultur“ nennen. Nur muss für Migranten und deren Kinder, die bereit sind, deutsch zu sein, die Möglichkeit existieren, als Deutsche akzeptiert zu werden.

Ich glaube aber, wir sind auf einem guten Weg. Als ich mein Geld noch als Lokalreporter verdient habe, habe ich einmal einen älteren Herren besucht, der in seinem Garten ein Modell des berühmten Oktoberfest-Fahrgeschäfts „Menzels Münchner Zugspitzbahn“ aus Teilen seines Metallbaukastens gebaut hatte. Ich saß bei ihm im Garten, gefangen bei Kaffee und Kuchen, und der Mann sagte: „Sie san Türke, ge? Sauber. I hob in meim Lebm immer nur gute Erfahrungen mit eich g‘mocht!“ Und ich weiß noch, wie er seiner Frau, die gerade mit einem Tablett angelaufen kam, quer über den Garten zurief: „Ge Marianne, mir ham nur gute Erfahrungen mit Türken!“

Ich habe eigentlich auch ganz gute Erfahrungen mit Deutschen.

Dennis Yücel wurde 1989 geboren und lebt seit zwei Monaten als Münchner in Berlin

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