Keine Chance für die Würde

Report Deutschland schickt seine Flüchtlinge in die Länder Europas zurück, die sie zuerst betreten haben. Das nennt man Dublin-III-Verfahren, und es bedeutet: große Not
Ausgabe 28/2014

Am Morgen des 5. Juni 2014 zwangen drei deutsche Polizeibeamte den ghanaischen Elektriker Constantine Amissah* in eine Lufthansa-Maschine nach Sofia. Vier Jahre ist der 31-Jährige nun schon auf der Flucht. Sein Weg gleicht einer Odyssee: Er hat auf den Ladeflächen von Pick-ups die Sahara durchquert, als Lkw-Fahrer im Niger gearbeitet und als Schuhputzer im Tschad. Er hat den Krieg in Libyen erlebt und in Ägypten Fische ausgeweidet. Er ist in einem Holzkahn übers Mittelmeer gefahren und wurde Lastenträger in einer türkischen Teppichfabrik. Aber die Hoffnung, sagt Constantine Amissah, habe er erst verloren, als man ihn aus seiner Zelle in Berlin-Köpenick holte und nach Bulgarien schickte.

Die deutschen Behörden haben nämlich in der europäischen Flüchtlingsdatenbank Eurodac einen Fingerabdruck gefunden, den Amissah am 19. August 2013 im bulgarischen Aufnahmelager Banya abgegeben hatte. Damit war der Weg frei, ihn gemäß der EU-Verordnung Nr. 604/2013, der im Jahr 2013 erneuerten Fassung des Dubliner Abkommens, aus Deutschland abzuschieben. Dieses Dublin-III-Verfahren produziert eine grausame Wirklichkeit: Jeder Flüchtling darf nur in jenem EU-Land Asyl beantragen, dessen Boden er zuerst betreten hat. So ist Amissah ohne Geld und mit nichts als der Kleidung an seinem Körper im ärmsten Land der EU gelandet

Nach der ersten Nacht in einer Flüchtlingsunterkunft in Sofia wurde ihm ein Zettel mit kyrillischen Buchstaben in die Hand gedrückt und gesagt, sein Asylverfahren sei hiermit eingestellt. Zwei Wochen habe er Zeit zum Widerspruch, ansonsten müsse er das Land verlassen. Anschließend setzten ihn die Sicherheitskräfte vor die Tür der Unterkunft. Zwei Nächte schlief er in alten Kartons auf dem Marktplatz, dann traf er einen Mann aus seiner Heimat. Der führte ihn zu einem schmalen rosa Häuschen unweit der Fußgängerzone, in dem 20 Ghanaer, zehn Nigerianer und zwei Togolesen in drei Zimmern leben. Für rund 25 Euro im Monat und zwei Euro am Tag in die Gemeinschaftskasse. Constantine Amissah ist der elfte Ghanaer in Zimmer 1.

Jedes Jahr machen sich Tausende Menschen auf den Weg nach Europa. Sie suchen Zuflucht und Hilfe in Deutschland, Frankreich oder Schweden und landen schließlich in der europäischen Peripherie im Elend. In Ländern wie Griechenland, Italien oder Bulgarien haben sie kaum eine Chance auf ein Leben in Würde. Für Bulgarien fordern Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch und Amnesty International bereits seit Monaten einen Abschiebestopp. Doch während deutsche Politiker von globaler Verantwortung und humanitärem Engagement reden, schicken die Behörden die Menschen noch immer dorthin zurück.

Humanitätsrhetorik

Wer sich mit den Zuständen in Bulgarien beschäftigt, findet die ganze Unmenschlichkeit, Traurigkeit und Dummheit, die das europäische Flüchtlingssystem in sich trägt. Während der europäische Überwachungsapparat in den vergangenen zehn Jahren kontinuierlich aufgerüstet und vereinheitlicht worden ist, wurde kaum etwas unternommen, um die humanitären Standards in den Mitgliedsstaaten anzugleichen und damit zu verbessern.

Nun sind die aktuellen Flüchtlingszahlen so hoch wie seit 20 Jahren nicht mehr und sie steigen weiter. Die südlichen Länder Europas aber sind nicht in der Lage, diese Situation zu meistern: Während jährlich bisher etwa 1.000 Menschen Asyl in Bulgarien suchten, stieg die Zahl 2013 auf über 11.000. Es sind vor allem Syrer, die über die Türkei ins Land kamen. In Italien sind im ersten Halbjahr 2014 bereits mehr als 50.000 Flüchtlinge gelandet, mehr als im gesamten Jahr 2013.

Das technisch immer weiter perfektionierte Dublin-Verfahren dagegen bringt den Flüchtlingen mehr Leid als je zuvor. Die reichen Länder des Nordens, also wir und unsere unmittelbaren Nachbarn, sind die zahlenden Nutznießer dieses Systems. Wir profitieren davon und tun wahrscheinlich deshalb nichts gegen die Unmenschlichkeit von Dublin III.

Im Gegenteil, die Bundesrepublik brüstet sich gern mit ihrem Engagement in der Flüchtlingspolitik, gerade angesichts der Syrienkrise. Doch die Realität des europäischen Flüchtlingssystems – das maßgeblich von Deutschland befürwortet und unterstützt wird – straft jede Humanitätsrhetorik Lügen. Das hat sich im Kleinen in den vergangenen Tagen auch in Berlin gezeigt, wo der Senat eine Schule in der Kreuzberger Ohlauer Straße räumen ließ, in der 240 Asylbewerber wohnten und gegen die Flüchtlingspolitik protestierten.

Als die Innenminister der Länder am13. Juni 2014 bekannt gaben, 10.000 weitere syrische Flüchtlinge aufnehmen zu wollen, sagte Thomas de Maizière: „Deutschland steht zu seiner humanitären Verantwortung.“ Der nordrhein-westfälische Innenminister Ralf Jäger ergänzte: „Statt sich hinter Stacheldraht zu verschanzen, brauchen wir ein gesamteuropäisches Aufnahmeprogramm, das den Menschen schnell und wirksam hilft.“

Nur einen Tag später sperrten deutsche Polizisten den syrischen Straßenhändler Bassam Hussein* in Abschiebehaft. An einem verregneten Mittwoch im Juni, dem elften Tag seiner Haft, sitzt Hussein im Besucherraum des Abschiebegewahrsams Berlin-Köpenick, dort, wo Constantine Amissah auch schon saß. Hussein ist ein schmaler Mann im Trainingsanzug, erst 46 Jahre alt, doch schon ergraut. Ein hageres, hartes Gesicht. Mandelaugen, die von langer Mühsal erzählen.

Sein beinahe ganzes Leben ist Bassam Hussein in der Stadt Deir ez-Zor nahe der irakischen Grenze mit einem kleinen Karren durch die Gassen gefahren und hat Nüsse verkauft. Seinen drei ältesten Kindern hat er so ein Universitätsstudium ermöglicht. Doch der Krieg machte alles zunichte. Als die syrische Armee seine zwei Söhne einziehen wollte, machte er sich mit seiner Frau, den sechs Kindern und seiner 70-jährigen Mutter auf den Weg nach Deutschland. Dorthin, wo seine zwei Halbbrüder seit mehr als 20 Jahren leben.

Nun, ein knappes Jahr später, ist seine Familie vom europäischen Asylsystem zerrissen und seelisch zerrüttet. Sein Sohn Ali, 20, lebt in einem Flüchtlingslager in Sofia, er wurde aus Österreich dorthin abgeschoben. Seine kranke Mutter in einem Flüchtlingsheim in Trier; seine Frau und die restlichen fünf Kinder im Flüchtlingsheim Andernach. Und er steht selbst auch kurz vor der Rückschiebung nach Bulgarien. „Ich habe das alles nur für meine Kinder getan“, sagt er und weint dabei. „Ich wollte sie nur schützen. Ist das mein Verbrechen? Dass ich meine Söhne davor bewahren wollte, erschossen zu werden? Sitze ich deshalb im Gefängnis?“

Die Familie Hussein hat ebenfalls bereits sogenannten subsidiären Schutz in Bulgarien erhalten. Deshalb kann sie nach EU-Richtlinien hier kein Asyl mehr bekommen. Überall in Deutschland findet man solche Schicksale, man muss nur in ein x-beliebiges Flüchtlingsheim gehen. Familien, die nach monatelangem Leid hier ankommen und deren Asylverfahren dann nicht anlaufen können, nur weil sie Fingerabdrücke in Bulgarien oder Italien abgegeben haben.

Menschen, deren Fluchtroute durch diese Länder führte, berichten von Grenzpolizisten, die mit Gewehrkolben zuschlagen. Mit Kabelbindern fesseln. Frauen das Kopftuch herunterreißen. Fingerabdrücke mit Nahrungsentzug erpressen. Kleine Mädchen nackt durchsuchen. Sie berichten von rechtsradikalen Mobs, die durch die Straßen ziehen, Flüchtlinge bespucken und zusammenschlagen. Und selbst wer am Ende einen Aufenthaltsstatus wie Familie Hussein bekommt, landet in Armut und Hoffnungslosigkeit. Finanzielle Unterstützung oder andere Sozialleistungen gibt es nicht. Die Chance, einen Job zu finden, ist gleich null.

Tausende Flüchtlinge sitzen so derzeit in Bulgarien ohne Perspektive fest, außer der, auf der Straße zu landen. Ein Syrer hat auf Facebook über seine Schlafstätte auf dem Dachboden eines Restaurants in der bulgarischen Kleinstadt Plovdiv in stotterndem Englisch geschrieben: „i am thinking to back to syria, also if they kill me its better to live like slave.“ Diese Zeilen beweisen, wer in Europa Hilfe sucht, wird wie der letzte Dreck behandelt. Und wer am Ende wieder zurück an den Ort traumatischer Erinnerungen abgeschoben wird, für den ist das der letzte Tiefschlag am Ende eines Weges voller Demütungen.

Es gibt null komma null

Ich besuche Constantine Amissah in Bulgarien, um zu sehen, wie es ihm dort geht; um zu sehen, wohin Deutschland seine Flüchtlinge schickt. Amissah war einmal, das sehe ich auf Fotos, die er mir zeigt, ein stattlicher junger Mann. Er war eine Art Bezirksbürgermeister in seiner Heimatstadt Berekum, bis er Todesdrohungen erhielt und fliehen musste.

Aber drei Wochen nach seiner Abschiebung ist sein Körper dürr geworden. Er spricht langsam und leise, manchmal überschlägt sich seine Stimme und er verbirgt das Gesicht in seinen großen Händen. Nur schwer ist er zu überzeugen, etwas zu essen. Manchmal sind es die Folgen seiner Leistenhernie, eines Bruchs der Bauchwandschicht, die ihn vor Schmerzen nicht essen lassen. Oft sind es Angst und Kummer. Einmal sagt er, er faste freiwillig. „Vielleicht wird mir Gott dann einen Rat geben. Mir sagen, wohin ich gehen kann. Was ich in meinem Leben noch tun kann.“

Die Tage in dem Zimmer, das sich Amissah mit zehn anderen Ghanaern teilt, vergehen zäh und quälend. Sie liegen auf Matratzen herum und dösen. Starren teilnahmslos auf ihre Handys ohne Guthaben oder einen alten Fernseher, auf dem bulgarisch synchronisierte Hollywoodfilme vorüberziehen. Ab und zu kommt einer herein und kocht sich Reis auf dem verdreckten Elektroherd. Meist sitzt einer auf der Toilette in einem Nebenzimmer ohne Tür.

Wenn sie sich gegenseitig nicht mehr aushalten, gehen sie nach draußen spazieren, doch oft nur, um eine kleine Runde zu drehen. Es steht unfassbar viel auf dem Spiel. Diejenigen, deren Asylanträge bereits endgültig abgelehnt wurden, und die nun illegal hier sind, können bei einer Polizeikontrolle jederzeit verhaftet werden. Im schlimmsten Fall landen sie für bis zu 18 Monate in Abschiebehaft. In Bulgarien gibt es keine einzige Regelung für den Umgang mit Papierlosen. „Es gibt nichts. Null komma null“, sagt die Menschenrechtsanwältin Valeria Ilarova. „Diese Menschen befinden sich ganz und gar außerhalb der Rechtsordnung und es gibt keinen Weg, aus dieser Situation herauszukommen.“

Einige in dem Haus, in dem Constantine Amissah wohnt, befinden sich seit Jahren in diesem Kreislauf aus Versteck und Lagerhaft. Sie führen ein Leben, das aus kaum mehr als Essen und Schlafen besteht. Sie haben keine Perspektive in Bulgarien, aber auch keine Möglichkeit, das Land zu verlassen. Weder Richtung Westen, weil ihnen das Geld für Schleuser fehlt. Noch in ihre Heimatländer, weil ihnen dort Verfolgung droht oder sie aufgrund fehlender Papiere nicht einmal mehr legal aus Europa herauskommen. Die Männer hier können in diesem Haus nur deshalb überleben, weil Verwandte aus der Heimat ihnen monatlich Geld schicken. „Jeden Tag haben wir Angst, dass irgendwann nichts mehr kommt“, sagt ein Zimmergenosse Amissahs. „Dann werden wir hier alle sterben. Davon bin ich überzeugt.“

Constantine Amissah wurde von den deutschen Behörden in ein menschenunwürdiges Leben geschickt. In ein endloses Siechtum, aus dem er sich aus eigener Kraft nicht befreien kann. Im Jahr 2013 hat das Europäische Parlament beschlossen, 244 Millionen Euro in das Programm Eurosur zu investieren. Ein einheitliches, hochmodernes Überwachungsnetzwerk, das den Austausch von Drohnen- und Satellitendaten aus den Grenzregionen in Echtzeit ermöglicht. So kann jeder Eintritt nach Europa genauestens ermittelt werden. Doch bis heute gibt es keinen europaweiten Standard, der den Flüchtlingen auch nur eine einzige Mahlzeit am Tag ermöglicht.

Am Rand von Sofia, wo sich das Grau der Industrieanlagen in grünen Hügeln verliert, betreibt Mohammed Ali Ezz eine kleine Autowerkstatt. Ein sehniger Mann mit Schnauzer und akkurat gezogenem Scheitel. In der linken Hand ein Handy und eine Schachtel Zigaretten, in der rechten einen Schraubenschlüssel, führt er mich an einem aufgebockten Ford Mondeo vorbei in sein Büro. Mohammed ist vor über 20 Jahren aus Aleppo nach Sofia gekommen und mit einer Bulgarin verheiratet. Als der Flüchtlingsstrom aus seinem Heimatland einsetzte, gründete er eine Facebookgruppe. Mittlerweile hat sie über 6.500 Mitglieder. „Ich schätze, allein in Sofia gibt es im Moment 1.500 Syrer, die weder wissen, wo sie schlafen, noch wovon sie ihr Essen bezahlen sollen“, sagt er.

Die für sie hier alles entscheidende Frage ist, ob sie einen Aufenthaltsstatus für drei oder fünf Jahre bekommen. Ein Asylausweis gilt fünf Jahre; das Dokument für subsidiären Schutz muss hingegen alle drei Jahre erneuert werden. Sozialleistungen erhält man in keinem Fall, aber wer „fünf Jahre“ hat, der kann für 90 Tage legal als Tourist in den Westen reisen und versuchen, sich dort irgendwie zu halten. Wer „drei Jahre“ hat, muss illegal weiterziehen und dafür einen teuren Schleuser bezahlen – was viele nicht mehr können. „Wer drei Jahre hat, der ist hier gefangen. Und wer keine Familie hat, die Geld schickt, der verrottet“, sagt Mohammed. „Ich habe alles gesehen. Selbst wenn man vier Sprachen spricht, kann es sein, dass man am Ende Mülltonnen nach Essen durchsuchen muss.“ In ein paar Monaten, schätzt Mohammed, wird auch den Letzten das Geld ausgegangen sein. „Dann kommt es hier zu einer Katastrophe.“

In Berlin haben sich im Umfeld der Flüchtlingsberatung BBZ rund 30 syrische Familien in einem Arbeitskreis zusammengetan. Sie alle sind in Booten über das Mittelmeer gekommen, oder in Lkw über Bulgarien. Sie fürchten auch, wieder nach Italien oder Bulgarien abgeschoben zu werden. Bei einigen, sagen Seelsorger und Psychologen, hat allein diese Vorstellung zu post-traumatischen Symptomen geführt. An einem heißen Junitag zogen sie mit Bannern vor das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in Berlin-Spandau. Ein verzweifelter Versuch, für ihr Recht zu kämpfen. „Stop Dublin III!“ skandierten sie. Doch ihre Rufe wurden übertönt vom Höllenlärm der Ferienflieger, die im Minutentakt über den Stadtrand fliegen. Aus dem Backsteinbau kam keine einzige Reaktion. Auf Anfrage hieß es: „Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge wendet auch bei syrischen Staatsangehörigen die Kriterien der Dubliner Verordnung an.“

Blätter im luftleeren Raum

Wenn man mit Menschen aus der Verwaltung spricht, hört man am Ende sehr oft den Satz: „Dublin ist und bleibt geltendes Recht.“ Es ist nie ein gutes Zeichen, wenn man Recht auf diese Weise bekräftigen muss. Im Idealfall leuchtet ein Gesetz oder eine Verordnung von selbst ein, es deckt sich mit unserem Empfinden und unseren ethischen Überzeugungen. Wenigstens aber können wir seine Notwendigkeit rational nachvollziehen. Die Dublin-Verordnungen aber sind ein Blätterbündel im luftleeren Raum. Sie haben keinen Bezug zur Lebensrealität der Menschen. Es ist eine rein politische Verordnung, die es reichen Ländern ermöglicht, sich aus der Verantwortung zu stehlen. Einen anderen Grund gibt es nicht.

Dabei könnte alles auch ganz anders aussehen. Seit Jahren gibt es Diskussionen, Flüchtlinge in Europa beispielsweise nach einem Schlüssel zu verteilen, der nach Größe und Wirtschaftskraft Rücksicht darauf nimmt, wie viele Flüchtlinge ein Land aufnehmen kann. Stattdessen verweist man mit beispielloser Sturheit auf das „geltende Recht“ und schiebt weiter in Länder ab, die ohnehin vollkommen überfordert sind.

Für Deutschland ist das Verfahren äußerst bequem. Von den 80.978 Asylanträgen, die 2013 bearbeitet wurden, sind36,7 Prozent nicht einmal inhaltlich geprüft worden, weil im Rahmen der Dublin-Verordnung eine Verantwortung im Vorhinein ausgeschlossen wurde. 10.915 Menschen haben 2013 in Deutschland Asyl bekommen. 9.213 durften bis auf Weiteres bleiben, weil sie nicht in ihre Heimatländer abgeschoben werden konnten. In 35.280 Fällen jedoch stellte die Bundesrepublik ein Übernahmeersuchen an andere EU-Staaten. Meist wegen Treffern in der Fingerabdruckdatenbank Eurodac. Betroffen sind vor allem Tschetschenen, Roma, Somalier, Afghanen und Syrer.

Es gibt eine Reihe von Menschen in den Ämtern, die sich hinter vorgehaltener Hand gegen die gängige Praxis äußern. Es gibt engagierte Beamte im Hintergrund. Mit Hilfe von Anwälten, die Druck machen, schaffen es am Ende einige, sich durch Verzögerungstaktiken über sechs Monate im Land zu halten. Erst dann geht die Asylverantwortung wieder auf Deutschland über. Doch es darf nicht sein, dass Menschenwürde in juristischen Scharmützeln erkämpft werden muss.

Bassam Hussein, der Syrer, der in Berlin in Abschiebehaft sitzt, ist Analphabet und ohne jede Schulbildung. Er versteht nicht, was mit seiner Familie in Europa passiert und hat keine Chance, sich zu wehren. Einer seiner Halbbrüder habe ihm einen Anwalt besorgt, der Widerspruch gegen die Abschiebung eingelegt hat, erzählt er. „Zwei Männer waren da und ich habe etwas unterschrieben.“ Mehr wisse er nicht. Nicht einmal, wann genau er abgeschoben werden soll. Als wir ihn besuchen, ist das das erste Mal, dass er einen Dolmetscher zu Gesicht bekommt. „Bitte fragen Sie, ob ich wirklich einen Anwalt habe“, sagt er. „Und bitte sagen Sie den Wärtern, dass sie mir kein Schweinefleisch geben sollen. Gott möge mir vergeben, ich habe solche Angst, dass ich bereits welches gegessen habe.“

Noch einmal zurück nach Bulgarien: 20 Ghanaer sitzen im rosafarbenen Haus dicht gedrängt vor dem alten Röhrenfernseher. Es ist heiß und stickig, das Bild ist körnig und flackert. Fußballweltmeisterschaft: Deutschland gegen Ghana. Während die ghanaische Mannschaft gerade das Spiel ihres Lebens macht, entpuppen sich fast alle hier als Deutschland-Fans. Sie bejubeln ihre Tore, aber schwärmen von Mesut Özil und Manuel Neuer. Dann von Thomas Häßler und Andy Köpke. Von den Autos und der Ordnung, und irgendwann eigentlich von allem. Deutschland ist für diese Menschen das beste Land auf Erden. Aber irgendwann fragt einer fast schüchtern auf Englisch: „Bitte, sag uns, warum hat Deutschland unseren Bruder zurück nach Bulgarien geschickt? Wisst ihr nicht, wie sehr wir hier leiden?“

Was soll man in so einem Moment sagen? Weil er einen Fingerabdruck abgegeben hat? Weil die deutsche Volkswirtschaft keine unqualifizierten Arbeiter gebrauchen kann? Weil es uns nicht kümmert? Weil Dublin III geltendes Recht ist? Wie erklärt man einem Menschen, der sich nach langem Leid ein wenig Hilfe von dem Land erhofft, das er bewundert, dass dieses Land sich für ihn nicht im Geringsten interessiert? „Deutschland ist die stärkste Nation in Europa. Die müssen uns doch helfen“, sagt der Mann. „In Bulgarien weiß man nichts von Menschenrechten. Man schlägt und bespuckt uns hier. Man behandelt uns wie Tiere. Deutschland muss etwas tun!“

Aber Deutschland ist längst nicht mehr das Happy-Party-Land aus dem Jahr 2006. Die Welt zu Gast bei Freunden und so. Wir sind längst wieder zum Alltag übergegangen. Constantine Amissah hat keine Familie mehr, die ihm Geld schicken könnte. Nun hat er zu betteln begonnen, und die 25 Euro für die Miete doch nicht zusammenbekommen. Vielleicht, sagt er, wird er jetzt wieder in den Kartons auf dem Marktplatz schlafen.

* Die Namen der Flüchtlinge wurden von der Redaktion geändert

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