10 Jahre Freitag

JUBILÄUM Von hier aus ...

Von hier aus

Manchmal glaubt man den eigenen Erlebnissen nicht mehr, wenn rundum alle sie leugnen. Seltsamer Weise war schon vor zehn Jahren, als wir - die Redaktionen von Sonntag und Volkszeitung - uns zusammentaten, dieses Gefühl da, Erfahrungen gegen die Maschine der Uminterpretation verteidigen zu müssen. Nur ein Jahr war die Öffnung der Mauer her, und schon zeichnete sich der künftige, inzwischen tief sitzende Dissens zwischen Ost und West ab. Das Jahr 1990 war im Osten das beste, das offenste, das Jahr, in dem viele Menschen eine Sprache fanden und das Denken über die betonierten Ufer trat. Die kleine Redaktion der wieder gegründeten Volkszeitung war angesteckt davon. Vielleicht war da sogar ein Unterschied zu vielen Linken in Westdeutschland. Sie erlebten alles anders. Im Westen bewegte sich ja nichts. Das ist beim Lesen des Artikels von Wolfgang Ullmann in der ersten Freitag-Ausgabe plötzlich wieder erschreckend präsent! Mit tausend Argumenten kämpfte er in jenen Monaten um eine neue Verfassung für das vereinigte Deutschland, aber aus der Bundesrepublik gab es kaum ein Echo.

Mit Verwunderung lese ich in der selben Nummer die eigenen Sätze: »Nicht gering schätzen: die Augenblicke, in denen erstmals etwas ausgesprochen wird, das vorher nur verdruckst gedacht wurde. In einem Fragebogen mit der Rubrik: Was ist für Sie Glück? könnte gerade das als Antwort stehen: Freigesetztes Denken.«

Dieses Glück konnte bald nur noch schwer verteidigt werden angesichts der nicht erwarteten Entwicklungen: der Kriege, des Nationalismus und Rassismus, angesichts des Abbaus der sozialen Standards unter dem Zeichen eines sogenannten Neoliberalismus, um die dürrsten Stichworte zu nennen. Für Journalisten war es niederschmetternd mitzuerleben, wie es gelang, auch eine Ideologie zu etablieren, die diese Verhältnisse rechtfertigt und die bis in die menschlichen Beziehungen greift.

So viel Wandel konnte leicht zur Überforderung werden. Ich war immer froh, diese Prozesse vom Freitag aus zu erleben und zu interpretieren. Das war der Ort, der uns - die Redaktion - zwang, jede Woche zu einem Urteil über die Ereignisse zu kommen. Auf Gedeih und Verderb musste man eine Haltung einnehmen, oft noch unsicher, darum auch mit der Bereitschaft, sich zu korrigieren. Eine Über-Instanz gab es nicht. Sich wegducken ging nicht. Ebenso wenig konnte man sich die Resignation leisten und die Klage über die Unübersichtlichkeit der Welt, obwohl immer auch die Momente des Nicht-Verstehens, des emotionalen Nicht-Akzeptierens auftauchten. Entsetzen, Enttäuschung, Argumentationsnot - alles gab es in den zehn Jahren oft genug. Auch die Atemnot. Das Bild vom Zug, dem man immer hinterher rennt, blieb nicht aus. Aber einfach auf der Strecke Pause zu machen, aufzuhören mit dem Rennen, das eben war nicht drin. Es konnte einem geschehen, dass man von Geschehnissen überwältigt war und ratlos, ohne Urteil aus der Redaktionssitzung ging. Die eigene Meinung entstand oft erst in der Kontroverse, als Gegenbild zur Meinung von Kollegen. Es sind zehn Jahre eines phantastischen Lernprozesses, wozu auch die Sitzungen mit Günter Gaus beitrugen, dem mit so »vielen Wassern gewaschenen« Zeitungsmacher, der uns immer wieder aus zu schmaler Spur holte.

Wie viele Leute haben wir kennen gelernt durch die Arbeit am Freitag, bei Interviews, Begegnungen, Gesprächen, unter den Autorinnen und Autoren, auch den Leserinnen und Lesern. Freundschaften mit den engagierten, kritischen, eigenwilligen Leuten sind entstanden, von denen oder durch die der Freitag lebt. Als wir anfingen, waren die Kollegen vom Sonntag die versierteren Zeitungsprofis als wir von der Volkszeitung, von denen einige im Januar 1990 als Seiteneinsteiger dazugekommen waren, auch ich. Die Sonntag-Kollegen kannten jedoch den Westen, die dominante neue Realität, weniger. Und sie hatten keinen direkt politischen Journalismus in ihrer Zeitung betrieben. Eine eigentümliche Balance.

Nach einigen Wochen, am 21.12.1990, veröffentlichten wir unter dem Titel »Selbstversuch« ein Gespräch unter den neuen Kolleginnen und Kollegen, Ost und West. »Wollen wir ganz ehrlich reden? Ich meine, wollen wir uns das leisten?« war der Einstieg von Jutta Voigt. Ja, wir wollten über Vorurteile und Missverständnisse reden, über Ironie, die nicht als solche ankam, Wutausbrüche von Sonntag-Kollegen wegen des ewigen Diskutierens, über die Verunsicherung der Volkszeitungs-Kollegen, weil ihr Neubeginn 1990 kaum als solcher zur Kenntnis genommen wurde und die DVZ (Deutsche Volkszeitung, Düsseldorf) als Vorgängerin gar nichts galt. Das Gespräch berührte linkes Getue, Qualitätsmaßstäbe, politische Urteilskraft im Journalismus. Dass wir diese Prozesse unserer Annäherung nicht von Anfang an festgehalten haben, bedauerten wir. Dann kam ein Brief unserer Autorin Erika Runge: Seid Ihr verrückt geworden? fragte sie. Ihr betreibt Nabelschau, während ein Krieg vorbereitet wird!

Später tat es ihr leid, dass sie diese zwei Dinge einander gegenübergestellt hatte. Aber der Golfkrieg setzte ganz neue Konstellationen in Gang, da war nichts mehr aufzuhalten. Die Linke fand hier ihren Stoff für eine innere Abrechnung. Natürlich ging das auch am Freitag nicht vorbei, warum auch. Wenn man das Blatt als Teil einer linken oder kritischen Öffentlichkeit (unser Problem mit der Selbstdefinition) betrachten will, dann ist der Freitag in diesen zehn Jahren deren Spiegel, der auch die schwierige Orientierung wiedergibt. Alles, alles fand hier seinen Niederschlag, beutelte die Redaktion, Autoren, die Leser, veränderte den Freitag, stärkte ihn auch immer wieder.

Und der Reiz der Anfangszeit - soll der vergessen sein? Als in fliegendem Wechsel, ohne eine Pause, die beiden Redaktionen den ersten Freitag gemeinsam produzierten, da verstreuten sich im Blatt etliche Fehler, manche, die alle sehen konnten, andere, die nur die Insider erkannten. Wolfgang Sabath, einer der alten Profis vom Sonntag, zählte morgens triumphal alle entdeckten Fehler auf. Ich, die übernächtigte Schlussredakteurin dieser Ausgabe, hielt einen Becher mit darin direkt aufgebrühtem Kaffee in der Hand, und plötzlich fiel der Becher auf die Kacheln zu unseren Füßen, und der Kaffeesatz floss zwischen den Scherben auseinander. War es nur Müdigkeit? Oder Protest? Ich wusste es selbst nicht. Auf jeden Fall konnten wir lachen, wenn auch verlegen, ein wenig erschrocken, aber wir lachten.

Marina Achenbach

Vorruhestand

Seit Februar 1990 war ich dazu übergegangen, in der Frankfurter Kommune nicht mehr Aufsätze zu veröffentlichen, sondern monatliche Beiträge über Aktuelles unter dem Titel »Tastende Schritte«. Das war meine Reaktion auf die Wende-Ereignisse. Unter meinen damaligen politischen Freunden überwog eine Euphorie, die ich nicht fassen konnte. Sie glaubten, nun würden bald auch in Moskau von vielen Menschen viele Bananen gekauft werden. Warum waren denn aber die Brasilianer arm, wenn es nur darum ging, sich zur »Globalisierung« zu befreien? Die politische Wende begrüßte ich, aber wegen dieser Denk-Einsamkeit wurde ich depressiv und musste schreiben. Erlebte ich die Entstehung einer neuen Ideologie? Zehn Jahre später fürchte ich, etwas noch weit Schlimmeres könnte passiert sein, nämlich der so altmodischen »Urteilskraft« ganz generell - dass sie sich gedrängt fand, in den Vorruhestand zu treten. Unter den tastenden Schritten hatte einer die ökologischen Probleme anvisiert. Daraufhin wurde ich von zwei Redakteuren der Volkszeitung eingeladen, auch dort zu schreiben, und als die Volkszeitung wenig später mit dem Sonntag fusionierte, war ich selbst als Redakteur dabei. Hier waren nun lauter Leute versammelt, die ihre Urteilskraft nicht abgegeben hatten. Aber ungeschoren kamen auch wir nicht davon. Zur Strafe dafür, dass wir Überzeugungstäter geblieben waren, hingen unsere Überzeugungen in der Luft und wandten sich gegeneinander. Es gab kein gemeinsames Band außer dem inhaltsleeren »Linkssein«. Anfangs wurde darüber nicht einmal gesprochen. Dann kam der Golfkrieg. Nun sprachen wir, aber wie unversöhnlich, wie egoistisch! Der Zeitung tat es gut, sie war spannend während dieser Streitmonate, aber dass die Redaktion zusammenblieb und bald sogar einen gemeinsamen Diskurs fand, ein Netz kompatibler Perspektiven - etwas ganz Bodenloses, leicht Zerstörbares -, war fast ein Wunder. Solcher Wunder wird es immer wieder bedürfen.

Michael Jäger

Abgegessen?

Erfolgsgeschichten sind es nicht, weder zehn Jahre deutsche Einheit, noch zehn Jahre Freitag. Der Rausch des Aufbruchs hatte nicht weit genug getragen. Wir (vom Sonntag und von der Volkszeitung) spürten die Mühen der Ebene, lange bevor wir wirklich in dem neuen Land angekommen waren. Die konsequent kritische Begleitung der deutschen Einheit versammelte weniger Leser hinter sich, als uns lieb gewesen wäre. Viele im Osten schielten neugierig nach den neuen bunten Seiten der Hochglanzpresse oder den bewährt bekannten Zeitungen, made in West, die bislang nicht zu haben waren. Der Ruf des Ost-Journalismus war auch für Kollegen vom Sonntag nur bedingt unbeschadet. Und Treue ist eine sehr altdeutsche Eigenschaft, vor allem, wenn der neue Liebhaber um so vieles attraktiver sein kann, jedenfalls solange er um die Braut wirbt.

Die Kollegen der Volkszeitung hatten den ersten Zusammenbruch schon hinter sich und in Berlin neu begonnen. Gemeinsam versuchten wir uns zu strecken, aber die Decke war sehr hoch. Dennoch war uns kritisch solidarische Begleitung des Einheitsprozesses als unverzichtbar erschienen. Nach unserer Analyse war die DDR auch an ihrer Schönfärberei zu Grunde gegangen, daran, dass niemand geduldet wurde, der Fehlentscheidungen benannt, andere Wege im Bewusstsein gehalten, Politik auf Ursache und Wirkung überprüft hatte. Nie wieder beschönigen war Gründungsmotto des Freitag. Die Dinge beim Namen nennen, aufdecken, was schief läuft, Politikern auf die Finger sehen. Wenn wir auch bald feststellten, dass diese Möglichkeiten im einheitlichen Deutschland begrenzt blieben.

Geduldet waren wir jetzt, mehr nicht. Die wirtschaftlichen Probleme der Einheit schlugen bald bis in die Geldbeutel von Lesern durch, (das jedenfalls stand in den Schreiben an die Redaktion). Eine Zeitung wie der Freitag war für viele ziemlich teuer. Denn das Blatt war als Werbeträger von Unternehmen nicht gerade geschätzt und musste vom Aboerlös existieren. Die Folgen waren voraussehbar: Ebbe in der Kasse trotz hoher Preise, Einschränkungen bei Recherche, Werbung, Vertrieb ...

So gesehen ist das zehnjährige Jubiläum, das der Freitag trotz allem feiern wird, eine Hommage an die Leser, die dabei geblieben oder hinzugekommen sind. Denn die guten Vorsätze aller Beteiligten waren das eine, die verschiedenen Erwartungen etwas ganz anderes. Die zusammenzuführen, schien auf dem Papier ganz einfach, tatsächlich unterschieden sich Linke West und Linke Ost auf ganz unerwartete Weise.

»Abgegessen«. Diese Welt war abgegessen, als wir vom Sonntag unsere Ostberliner Hausvogtei verließen, um zusammen mit den Kollegen der Volkszeitung in der Kreuzberger Oranienstraße den Freitag zu produzieren. Die Auseinandersetzung mit den Entwicklungen in der neuen Welt hatte im Bewusstsein unserer westlichen Kollegen längst stattgefunden. Unser heiß geliebtes und maßlos überschätztes Kulturprodukt Sonntag war in seinen Mängeln entlarvt. Künftig würden wir eine »Vollzeitung« herstellen. Fragen der Demokratie, wir hatten sie gerade entdeckt und wollten darüber reden, wie man sie ausformen konnte. Verfassung, es gab einen Entwurf, wir wollten ihn abklopfen auf Vor- und Nachteile. »Abgegessen«, alles längst abgegessen, durchgehechelt nach allen Regeln der Kunst. Damit, so die neuen Kollegen, konnte man keinen mehr hinterm Ofen hervor locken. Erster Reinfall (tatsächlich?), dem noch eine Menge anderer folgten.

Was beide Seiten als kritische Begleitung werteten, war so unterschiedlich wie ihre Erfahrungen.

Vergleichbare Zeitungsprojekte hatte es in der Vergangenheit nicht gegeben und ähnliche in der vereinigten Presse erst, nachdem wir unsere ersten Schritte mehr oder weniger erfolgreich hinter uns hatten.

Was also tun? Nach den ersten tastenden Vorstößen überließen wir die hastige Nivellierung der Unterschiede von Ost und West den Politikern. Wir wollten nicht so tun, als seien mit einem Federstrich unterschiedliche Sozialisationen wegzustreichen.

Wie einer in durchaus vergleichbaren Situationen reagiert, hat mit Erfahrung und Herkunft zu tun. Wir hatten entdeckt, dass unsere Stärke die Verschiedenartigkeit war und setzten auf Authentizität statt Einheitsbrei. Die Debatten um den Golf- und Kosovo-Krieg werden in der Erinnerung bleiben, ebenso wie die Reportageserie: »Mir geht es gut«.

Am Objekt, nicht in krampfhafter Vereinheitlichung entstand das Wir-Gefühl. Eigentlich ein ausgezeichnetes Rezept für den Prozess der deutschen Einheit: Gemeinsame Arbeit für alle. Der Auflagen steigernde Beifall ist allerdings auch nach zehn Jahren noch viel zu gedämpft.

Regina General

Familienbande

»Du kannst wohl mit dem Wort ›Geborgenheit‹ nicht viel anfangen?«, fragte eine längst entschwebte Ostredakteurin einmal provokativ einen Kollegen aus dem Westen. Der Angesprochene wand sich gequält, druckste, nein, bloß kühle Reserviertheit ohne emotionale Grundierung mochte er sich nicht nachsagen lassen, zumal während einer »Familienfeier«, wo gerade wieder einmal ein Abschied (Ost) zu feiern war und der Wodka die Nostalgieschleusen öffnete. »Die ›Familie Sonntag‹«, notierte ich damals für mich privat, »fällt endgültig auseinander.« Und setzte hinzu: »Manchmal bin ich froh, dass es eine ›Westfamilie‹ in dieser Form nie gab.«

Im Spätsommer 1991, als diese Szene sich ereignete, hatte die neu gegründete Freitag-Familie bereits einiges hinter sich: Die politischen »Entmischungen« anlässlich des Golfkrieges, das Ringen im journalistischen Alltag - wie schwer hatte es die weitläufige, erzählende Hintersinnigkeit der Ostler, sich gegen den neuen Anspruch knapper, »schlagender« Analytik durchzusetzen - und nicht zuletzt die erste ökonomische Krise der Zeitung, die kräftig an unseren Nerven zerrte.

Dabei war die Fraktionierung in Ost hie und West da schon damals fiktiv. Wie einfach wäre es doch gewesen, wenn sich ein ideologischer Limes hätte ziehen lassen zwischen der Oranienstraße in SO 36 und dem Hausvogteiplatz in Mitte, um unter Versuchsbedingungen zu beweisen, dass West und Ost (Männer und Frauen? ach, wie angefeindet war damals die Frauenseite, die meinen Kolleginnen als Inbegriff gescheiterter Emanzipation erschien!) eben nicht zusammenpassen.

Tatsächlich verliefen schon damals die Mentalitäten und Interessen kreuz und quer und wurden nicht zuletzt über einen eigensinnigen Markt reguliert. Doch während die Anpassungspirouette an den kapitalistischen Westen wenig simultane Schleifen drehte, gab es auch dieses trotzige Zusammenrücken, diese beharrende Heimeligkeit, eben diese von »uns« Westlern misstrauisch beäugte »Geborgenheit« in der »Herkunftsfamilie Ost«.

Über die internen Verhältnisse der »Ostfamilie« hatte ich damals wenig Ahnung, auch wenn es an Tratsch nicht mangelte. Meinem Kalender entnehme ich, dass am Tag nach dem großen Besäufnis ein Termin anberaumt war: »Treffen ›Westfraktion‹«, steht da. Worum es damals ging, weiß ich heute nicht mehr genau, doch es spricht immerhin für die politische Kultur dieses Landes - und vielleicht auch dieser Redaktion -, dass heute kein Mensch mehr auf die Idee einer solchen Fraktionssitzung käme.

Ulrike Baureithel

Niemandsland

Eines schönen Vormittags liefen wir im Spätsommer 1990 von der Sonntagsredaktion am Hausvogteiplatz, Berlin-Mitte, zur Volkszeitung in die Oranienstraße, Berlin-Kreuzberg. Der Weg ging über die Brache des Grenzstreifens, auf dem noch Mauerreste herumlagen und Wachtürme standen. Als ich probierte, bei einem die Leiter im Innern hinaufzusteigen, gab ich den Versuch schnell auf, denn jemand hatte die Metallsprossen sorgfältig mit Scheiße eingerieben.

Später entstand an einem Betonrest das erste gemeinsame Foto der fusionierten Kolleginnen und Kollegen des Freitag. Ich rutschte etwas nach unten, um mit den anderen auf Schulterhöhe zu sein. Die dadurch entstandene Breitbeinigkeit wurde mir anschließend von aufmerksamen Leserinnen als demonstrativer Machismo vorgeworfen. Eine neue Erfahrung. Unsere Blicke gehen auf dem Foto geradeaus, was uns erwartete, konnten wir nicht einmal ahnen. Am Tag, als wir unsere gemeinsame Arbeit begannen, holten Katja Maurer (West) und ich (Ost) ein großes Kuchenpaket aus einer Bäckerei in der Naunynstraße. Ein schöner Anfang. Wir waren alle neugierig, nervös und wussten nur ungenau, wohin die Reise des Freitag gehen würde. Wir versuchten, unsere bisherigen unterschiedlichen Berufserfahrungen zu koordinieren. Als die erste Ausgabe der Zeitung am 9. November 1990 erschien, fehlte ihr die Nummer. Das merkten wir erst, als es zu spät war. Dem Glücklichen schlägt keine Stunde oder der Charme der Improvisation. In der Hektik des ersten Redaktionsschlusses hatte Marina Achenbach, die erste Chefin vom Dienst, eine Tasse an die Wand geschmissen. Am nächsten Tag brachte ihr Wolfgang Sabath eine neue Tasse mit, die aus Plaste war, wie die Ostler gesagt hätten, oder aus Plastik, wie es in Westdeutsch hieß. Mit solchen Interpretationsübungen haben wir uns zum Glück nicht erschöpft. Die Unterschiede kannten wir auch so, die Gemeinsamkeiten allerdings auch. Vielleicht hat es deshalb bis heute ganz gut geklappt mit dem Fifty-Fifty-Team vom Hausvogteiplatz und der Oranienstraße. »Ihr habt gebrochene Ideale, wir haben gebrochene Ideale«, hatte Jutta Voigt einst zum Auftakt den gemeinsamen Beziehungskleister für den Freitag beschrieben, der erstaunlicherweise noch klebt.

Detlev Lücke

Muse des Staunens

Wir wollten nur kurzzeitig unsere Hausvogtei, den Sitz der Sonntags-Redaktion, verlassen, um später gemeinsam mit den Redakteuren der Volkszeitung als Freitag wieder einzuziehen. Daraus ist nie etwas geworden. Erst erlaubte die Logistik kein Dortbleiben, später ungeklärte Eigentumsverhältnisse kein Rückkehren; Worte, die im Leben der Sonntagsredakteure bis dato kaum eine Rolle gespielt hatten. So fielen wir aus unserem Nest (ohne heißen Draht in den Westen) und landeten mitten in Kreuzberg.

Ich glaube, zu diesem Zeitpunkt ging es los. Ich fing an zu staunen: über die bunt-schmuddlige Hunde-Mensch-Ansammlung am Kottbusser Tor, die fröhlichen und die bedrohlichen Hastemalnemark-Geschichten, über die mir sehr fremden, kleinen Männer, die in ihren Teestuben alle Zeit der Welt zu haben schienen, während ihre unförmig verpackten Frauen mit einer Schar quengelnder Kinder durch die Straßen zogen. In unseren neuen, den alten Redaktionsräumen der Volkszeitung gab es Technik, von deren Existenz ich vielleicht schon mal gehört hatte. Aber wie funktioniert ein Fax, wie gelingt eine beidseitige Kopie, warum gibt mir keiner die Hand? Alle sagen Hallo, keiner Guten Morgen. Das war neu, aber nicht schlimm. Schlimm waren für mich die ersten Redaktionssitzungen. Auf die Frage, wer führt die Rednerliste, reagierte ich panisch. Sollten hier Reden gehalten werden? Wie sehnte ich mich plötzlich nach unseren gemütlichen Redaktionskonferenzen beim Sonntag, wo jeder aus- und gleichzeitig dazwischen reden durfte, wo sich der Chefredakteur bei Bedarf mit einem spitz ausgestoßenen »Kuckuck« in Erinnerung brachte, wo ich die Hintergründe gelegentlicher Scheingefechte kannte.

In der neuen Redaktion wurde ganz offen gefochten, West gegen Ost, West gegen West, selten Ost gegen Ost, aber alle gemeinsam gegen die Verleger. Dass die westdeutsche Linke keine homogene Gemeinde war, hatte ich mir gedacht, aber warum jeder die Leiche im Keller des anderen aufzuspießen versuchte, war mir denn doch eine eher unangenehme Überraschung. Und wie staunte ich erst, als versprengte Redaktionsmitglieder hinter vorgehaltener Hand beschlossen, sie müssten fraktionieren. Keine Ahnung, was sie nun wieder vorhatten.

Mit der Zeit gewöhnte ich mich ans Staunen, und heute möchte ich es nicht mehr missen. Der Freitag ist die Muse, die dieses Staunen befördert. Wie ein Steh-auf-Männchen produziert er sich von Woche zu Woche, als Zeitung des zweiten und noch vieler weiterer Gedanken, kein Papagei, aber dennoch ein bunter Vogel im Blätterwald. Längst hat sich der alte Stamm zu den verschiedensten Ufern aufgeschwungen, nur ganz wenige blieben oder kamen wieder an Bord. Gestritten wird immer noch, offen und versteckt, in wechselnden Fraktionen. Gehen wir an einem Wochenende gemeinsam in Klausur, um über uns und das Blatt zu diskutieren, gibt es auch Rednerlisten. Erst kürzlich kündigte bei der Gelegenheit ein Redakteur am Sonnabendvormittag, Sonntagabend übernahm er eine leitende Funktion. Hab wieder nur ich gestaunt?

Renate Rammelt

Freiwillig vereinigt

Es muss den Redakteuren beiderseits ziemlich schwer gefallen sein damals, sich gegenseitig freundlich und rücksichtsvoll zu behandeln, als wäre das das Natürlichste der Welt, 40 Jahre Mentalitätsunterschied im Handumdrehen wegzutun, anzufangen, zusammenzuleben. Volkszeitungs- und Sonntagsmitarbeiter gehörten zu den ersten sozialen oder beruflichen Gruppen, die sich im vereinigten Deutschland freiwillig vereinigten. Deshalb finde ich es eine großartige Leistung; ich bewundere nachträglich die Geduld, die sie miteinander hatten, zumal wenn man bedenkt, dass wir selbst nach zehn Jahren nach wie vor mit Vorurteilen zu tun haben. Die Geduld der Kollegen war also auf eine harte Probe gestellt. Natürlich gab es diverse Reibereien, die mir jetzt im Nachhinein als Tändelei beziehungsweise als Abtesten erscheinen. Zurückblickend ist es für mich ausgesprochen spannend, so einen Prozess aus einer unbefangenen Perspektive - nämlich weder Ost noch West angehörend - hautnah erlebt zu haben. Eine Phase, in der beide Gruppen sich manchmal sogar heimlich bewunderten und irgendwie doch nicht zusammenkamen. Wie sie aufeinander zugingen, das waren vorsichtig-kritische, aber gleichzeitig liebevolle Schritte.

Dies alles zu beobachten war eine reizvolle Erfahrung, die nicht jedem gegönnt war. Ob die Kollegen aus Ost und West im Anderen immer noch den etwas Fremden sehen, weiß ich nicht. Diese Frage zu beantworten ist schwieriger denn je. Klare Trennungslinien gibt es allerdings immer noch: Neun Zehntel der ostdeutschen Kollegen sind Eltern, und neun Zehntel der westdeutschen kinderlos. Zum Beispiel.

Gülcin Wilhelm

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