Es hatte zwar eine Zeit gedauert, bis der breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde, was Google mit den Daten anfängt, die bei der Benutzung seiner Dienstleistungen anfallen. Doch mittlerweile ist daraus eine Art Volksweisheit geworden: Gebt dem Internetkonzern nur persönlichen Informationen, wenn es unbedingt sein muss!
Einen vorläufigen Höhepunkt bildet die Debatte um den Straßenbilderdienst Street View. Hunderttausende haben Widerspruch gegen die Abbildung ihrer Hausfassade eingelegt, Minister und Kommunalpolitiker warnten vor Missbrauch. In der netzpolitischen Szene entbrannte eine Debatte über Persönlichkeitsrechte und die Freiheit, den öffentlichen Raum zu zeigen.
Vergangene Woche hat nun auch die Bundesregierung reagiert: Man sei sich einig, s
sei sich einig, so Verbraucherschutzministerin Ilse Aigner, „dass wir bei der Erhebung, Nutzung und Verknüpfung von Geodaten rote Linien ziehen müssen“. Wo diese liegen werden und was gesetzlich verboten werden soll, bleibt weiter offen – Schwarz-Gelb setzt auf eine Selbstverpflichtung der Unternehmen. Ein entsprechender Kodex solle bis zum IT-Gipfel Anfang Dezember vorliegen, parallel werde man auch einen entsprechenden Gesetzentwurf erarbeiten. Er erwarte, sagte Innenminister Thomas de Maiziére, dass sich die Unternehmen zu „datenschutzrechtlichen Regeln verpflichten“.Aber geht es nur um Datenschutz? In einer Welt, in der eine Mehrheit nicht sehr viel von Informationstechnik versteht, haben Institutionen, die sich auf die Verarbeitung digitaler Daten spezialisieren, einen enormen Vorteil, den man auch Macht nennen könnte. Die Bevölkerung sollte also nicht mit den Firmen auf eine Stufe gestellt werden. Das tut allerdings, wer in einem Konflikt wie dem um den Dienst Street View nur die Freiheitsrechte beider Seiten abwägt.Durchökonomisierung des LebensDie Kritik müsste einen Schritt weitergehen und die Durchökonomisierung der Lebenswelt in den Blick nehmen. Wer nur Freiheitsrechte einander gegenüberstellt – einerseits das Recht auf informationelle Selbstbestimmung und auf Privatheit, andererseits das auf Abbildung des öffentlichen Raumes –, muss Google letztendlich gewähren lassen. Das Problem ist, dass sich unsere Freiheitsrechte eben auch auf reine Profitinteressen beziehen. Die kapitalistische Konzentration der Produktivkräfte und die damit verbundene Technikentwicklung hat ein Ausmaß an Macht und Kontrolle ermöglicht, das es vorher nicht gab. Sind die Bürger, die ihr Wohnhaus nicht im Netz sehen wollen, mit der Narrenfreiheit des Kommerz’ einverstanden?Fakt ist: Die Art von Aufnahmen, Bilder von allen größeren oder touristisch interessanten Städten, um die es im Google-Streit geht, wurden schon vor zehn Jahren gemacht – von der Firma Tele-Info. Zielgruppe der vom Unternehmen gespeisten Datenbank „CityServer“ sollten vor allem kommunale Stellen sein, aber auch Banken und Versicherungen. Die Vermarktung von Geo-Daten beschäftigt längst eine riesige Branche. Der Ditzinger Werbedienstleister Schober etwa brüstet sich, viele Milliarden Daten über die Konsumgewohnheiten der Deutschen in seiner „Geo MarketBase“ mit geographischen und Markt-Informationen verknüpft zu haben. Schober hat nach eigenen Angaben „nahezu 100 Prozent aller Häuser Deutschlands selbst bewertet“. Die firmeneigene Software „ergänzt jede Adresse um ihren exakten individuellen Geoschlüssel“.Mit anderen Worten: Unser Wohnumfeld ist längst von hinten bis vorne ausgespäht und kategorisiert. Die Nationalität der Nachbarn, die Einkommensverteilung im Kiez, die durchschnittliche Verschuldung in den Querstraßen, das äußere Erscheinungsbild des Viertels – dafür interessieren sich unter anderem Firmen, die mit Immobilien spekulieren oder im „Scoring“ das wahrscheinliche Vertragsverhalten von Menschen aus vergleichbaren Gegenden errechnen. Andere in der Geo-Daten-Branche aktive Unternehmen bieten Dienstleistungen für Geheimdienste und Militär an – nicht zuletzt Google."Gesamte Wertschöpfungskette"Anfang Oktober wird sich die Branche auf der Intergeo, der laut Eigenwerbung weltweit größten „Kommunikationsplattform im Bereich Geodäsie, Geoinformation und Landmanagement“ über die „gesamte Wertschöpfungskette“ austauschen. Über den Tagungsort Köln erfährt man beim Veranstalter, dass es sich um die viertgrößte Stadt Deutschlands handelt und im Umkreis von 500 Kilometern 40 Prozent des EU-Bruttoinlandsproduktes erwirtschaftet werden. Auf der Agenda der Intergeo steht alles „von der Erhebung geobasierter Daten über die Veredelung bis zur systemintegrierten Applikation“.Wer nicht möchte, dass Dank „veredelter“ Bilder seiner Wohnumgebung und damit verknüpfter Daten Firmen und Vermieter rein wirtschaftliche Entscheidungen treffen, sollte über die Datenschutzkritik an Google Street View hinausdenken. Schlimm sind nicht die Bilder im Internet – wer jetzt aufschreit, weil eine Hausfassade im Gegensatz zu Daten etwas handfestes, alltägliches ist, hat Lernbedarf –, sondern deren kommerzieller Hintergrund: die Ausbeutung unserer gesamten Lebenswelt.