10. Mai, Jerusalem, Al-Aqsa-Moschee: Die israelische Polizei nimmt einen Palästinenser fest
Foto: Laurent van der Stockt/Getty Images
Der vierte Gazakrieg in zwölf Jahren macht eines unmissverständlich klar: Ein politisches Ziel hat Israel mit der Operation „Wächter der Mauern“ nicht verfolgt, sondern stärker noch als in den drei Waffengängen 2008/09, 2012 und 2014 auf eine militärische Bestrafungsaktion gesetzt – und damit das Leid der seit Jahren von der Außenwelt abgeriegelten, unter unmenschlichen Bedingungen lebenden Bevölkerung in dem schmalen Landstrich am Mittelmeer weiter erhöht. Zugleich wurde die Hamas politisch gestärkt.
Denn wie viele der bis Wochenanfang auf 14.000 geschätzten Raketen der Islamisten-Organisation im Gazastreifen seit Beginn des Konflikts am 10. Mai tatsächlich zerstört wurden, bleibt offen. Auch die israelische
sraelischen Erfolgsmeldungen über getötete Funktionäre des palästinensischen Ablegers der Muslimbruderschaft, zerstörte Abschussrampen und Tunnel lassen kaum Rückschlüsse darüber zu, ob das die militärischen Strukturen der Hamas nachhaltig geschwächt hat. Schließlich haben die drei Kriege seit dem Rückzug Israels aus dem Gazastreifen im Jahr 2005 eines deutlich gezeigt: Jeder Kader kann ersetzt werden.Der Hamas hingegen ist es gelungen, ihren Einfluss innerhalb der palästinensischen Gebiete auszuweiten. Mit dem Ultimatum an Israel, bis zum Nachmittag des Jerusalem-Tages am 10. Mai seine Sicherheitskräfte in drei Stunden vom Tempelberg abzuziehen, eröffnete die Organisation einen neuen Kriegsschauplatz: Weil die amtierende Regierung von Premier Netanjahu dem nicht nachkam, folgte der Beschuss der geteilten Stadt – erstmals seit 2014. Noch in der Nacht flog die israelische Luftwaffe Angriffe auf den Gazastreifen, tags darauf schoss die Hamas so viele Raketen auf den Großraum Tel Aviv ab wie nie zuvor.Doch der Versuch, durch Hunderte Geschosse auf die Mittelmeermetropole das israelische Raketenabwehrsystem Iron Dome zu überfordern, misslang. Zwar gab es mehrere Angriffswellen, in denen die Hamas innerhalb von Minuten bis zu 130 Raketen abfeuerte, doch die israelische Hightech-Abwehr fing auch in diesen Phasen mehr als 90 Prozent der Flugkörper ab. Der asymmetrische Charakter des Konflikts, der schon die vorherigen militärischen Konfrontationen geprägt hat, bleibt bestehen: 198 Toten in den ersten acht Tagen auf palästinensischer Seite stehen zehn ums Leben gekommene Israelis gegenüber. In den 51 Kampftagen 2014 waren auf israelischer Seite 72 Opfer zu beklagen, in Gaza mehr als 2.100.Reichweite 200 KilometerDiese Asymmetrie zeigt sich übrigens auch in den Kosten, die der Luftkrieg mit sich bringt: Während die Qassam-Kurzstreckenraketen die Hamas zwischen 300 und 800 Dollar kosten, wird der Wert von Iron-Dome-Abwehrgeschossen mit 50.000 bis 100.000 Dollar pro Stück angegeben. Fachleuten zufolge fallen die höchsten Kosten bei der palästinensischen Raketenproduktion zudem nicht für die eigentliche Herstellung an, sondern beim Schmuggel für den Bau notwendiger Teile in den Gazastreifen. Im Sudan soll der Iran seine diplomatischen Verbindungen genutzt haben, um eigens eine Fabrik für die Hamas zu errichten, gab der Generalsekretär der libanesischen Hisbollah, Hassan Nasrallah, schon vergangenen Dezember bekannt: „Die meisten Waffen, Raketen und Einrichtungen palästinensischer Widerstandsgruppen in Gaza werden von der Quds-Einheit der Revolutionsgarden geliefert“, so der Anführer der schiitischen „Partei Gottes“ in einer Ansprache.Das ist vielleicht der wichtigste Grund, weshalb die Feuerkraft der Hamas in den vergangenen sieben Jahren deutlich gewachsen ist – und die Reichweite ihrer Langstreckenraketen vom Typ Fajr3, Fajr5 und R-160 inzwischen über 200 Kilometer hinausgeht. So wurden allein in den ersten acht Tagen des Konflikts mehr als 3.000 Raketen auf Israel abgefeuert – 2014 waren es nach sieben Wochen 4.500. Diesen Montag, knapp eine Woche nach Beginn der Operation „Wächter der Mauern“, gab die israelische Armee an, im Gazastreifen „mehr als 820 Terrorziele“ angegriffen und „mehr als 130 Terroristen neutralisiert“ zu haben. Zum Vergleich: 2014 beschoss die israelische Armee in den sieben Wochen der Operation „Schützende Klippe“ 5.200 Ziele, zwei Drittel des damals auf 10.000 Raketen geschätzten Arsenals der Hamas wurden zerstört. Der Aufrüstung setzte der seinerzeit vereinbarte Waffenstillstand kein Ende, ganz zu schweigen von den miserablen sozialen Zuständen im seit 2006 von der Hamas regierten Gazastreifen.Wie in den vergangenen Kriegen schweißen die israelischen Angriffe die Bevölkerung in dem dicht besiedelten Küstengebiet nur 70 Kilometer südlich von Tel Aviv zusammen – hinter der Hamas, ungeachtet ihrer von Korruption und autoritärem Führungsstil geprägten Herrschaft. Weil fast jeder in Gaza auch Verwandte in der Westbank, in Ostjerusalem oder Israel selbst hat, bewegt die abermalige Intervention die palästinensische Gemeinschaft überall zwischen Khan Younes, Haifa, Sheikh Jarrah und Hebron – aus Protest dagegen traten viele arabische Israelis in einen Generalstreik. Schon am vergangenen Wochenende hatten im Westjordanland Tausende gegen die anhaltende israelische Besatzung protestiert. Elf Menschen wurden getötet, Dutzende verletzt – die Bilder Steine werfender Jugendlicher erinnern an die Tage des Beginns der ersten und zweiten Intifada 1987 beziehungsweise 2000.Angesichts der ungleichen Machtverhältnisse zwischen Besatzern und Besetzten erscheint ein neuer Aufstand derzeit unwahrscheinlich, doch das Ausmaß von Ausweglosigkeit ist in den vergangenen Jahren weiter gewachsen. Die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Israel durch die Vereinigten Arabischen Emirate, Bahrein und Marokko 2020 hat das Gefühl verstärkt, von den einstigen arabischen Partnern im Stich gelassen zu werden, ebenso wie von der eigenen Führung, allen voran der abgehalfterten PLO um den Präsidenten der Palästinensischen Autonomiebehörde, Mahmud Abbas.Von dieser Enttäuschung profitiert die Hamas, die besonders im Westjordanland auf einen Sieg bei der Parlamentswahl gehofft hatte, die Abbas Anfang Mai absagte. Millionen von jungen Palästinenserinnen und Palästinensern wurden so um die Chance gebracht, zum ersten Mal in ihrem Leben zu wählen. Die drohende Zwangsräumung palästinensischer Wohnungen im Ostjerusalemer Stadtteil Sheikh Jarrah und die Erstürmung der Al-Aqsa-Moschee auf dem Tempelberg durch israelische Sicherheitskräfte im muslimischen Fastenmonat Ramadan sorgten für weitere Frustration, die sich die Hamas nun zunutze macht. Und das nicht nur kurzfristig: Der militärische Schachzug, den Rückzug israelischer Soldaten vom Tempelberg an ein Ultimatum zu knüpfen, hat dafür gesorgt, dass künftig jeder israelischen Regierung Zugeständnisse in Jerusalem als Schwäche ausgelegt werden und als Einlenken gegenüber der Hamas.Bibi ist wieder im SpielZurück ins politische Spiel gebracht hat das ausgerechnet Israels Regierungschef Netanjahu. Nur zwei Wochen ist es her, dass dieser sein Mandat zur Regierungsbildung verlor. Erstmals rekrutierte sich in der Knesset eine Mehrheit gegen den seit zwölf Jahren regierenden Likud-Vorsitzenden: Eine mögliche Koalition aus linken, liberalen und rechten Parteien mit der Ra’am, der Vereinigten Arabischen Liste des Politikers Mansour Abbas, zeichnete sich ab. Sie hätte allen Widrigkeiten zum Trotz eine historische Allianz werden können – die erste jüdisch-arabische Regierung in der Geschichte Israels.Wie siamesische Zwillinge haben dann jedoch Hamas-Führer Chalid Maschal und Netanjahu das Machtvakuum genutzt, das sich ihnen durch die Absage der Parlamentswahl in den palästinensischen Gebieten wie die stockende Regierungsbildung in Israel bot. An einer politischen Lösung des Konflikts um Gaza ist weder dem einen noch dem anderen gelegen: Netanjahu nicht, weil er mit Verweis auf die Spaltung zwischen Hamas und Fatah weiter Verhandlungen über eine Zweistaatenlösung ablehnen kann. Maschal nicht, weil immer neue Angriffe auf israelische Gemeinden den Mythos von der Wirksamkeit militärischen Widerstands gegen die Besatzungsmacht am Leben halten. Daran wird auch eine Waffenruhe auf Dauer nichts ändern. Das vermag nur eine die Menschenrechte aller Beteiligten, die israelische ebenso wie eine palästinensische Souveränität achtende internationale Konfliktlösung.
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