Ein Jahr ist es jetzt her. In Hanau war dieses Jahr so kurz wie ein Tag und so lang wie ein Leben. Seit einem Jahr kämpfen die Hinterbliebenen und Betroffenen des rassistischen Anschlags vom 19. Februar für ihre Forderungen und erhalten dafür große Unterstützung. Sie kämpfen auch dafür, dass es nicht noch einmal so läuft wie unzählige Male zuvor. Nach Mölln, Solingen, der Kölner Keupstraße, in Kassel, Halle und an unzähligen anderen Orten des rassistischen Mordens.
Bereits jetzt haben sie mit ihrem Kampf diese Gesellschaft verändert. Sie haben sich durch öffentlichen Druck zu Hauptakteuren der Aufarbeitung gemacht und ins Bewusstsein gerufen, was in den letzten Jahrzehnten versäumt wurde: die Perspektive der Betroffenen und Hinterbliebenen ins Zentrum zu rücken; die Namen und Geschichten der Opfer zu erzählen statt die der Täter; die Logik der Tat, die Opfer zu Fremden zu machen, zu unterbrechen.
Und dennoch sind viele zentrale Forderungen der Familien noch längst nicht erfüllt. Es darf jetzt keinen Schlussstrich geben. Der Wunsch der Politik, nun zur „Normalität“ zurückzukehren, ist offensichtlich, und einen Prozess gegen den Täter wird es wegen seines Suizids nicht geben. Die Sorge besteht, dass dieses Mal nicht das Schweigen, sondern das Reden darüber hinwegtäuscht, dass es keine politischen Konsequenzen geben wird.
Der Ermittlungsbericht der Generalbundesanwaltschaft hat keine Aufklärung geschaffen. Im Gegenteil: Eine Reihe neuer Widersprüche ist hinzugekommen. Kleine und große Fehler, die sich in ihrer Summe als Kette des Versagens rekonstruieren lassen, eine Systematik polizeilicher Versäumnisse, die nur durch die Recherche der Angehörigen und Unterstützer*innen offenbar wurde. Beispiele gibt es Dutzende: Der Täter besaß mehrere Waffen. Er war 2002 in psychiatrischer Behandlung, gegen ihn liefen mehrere Ermittlungs- und Strafverfahren. Doch offensichtlich kam nichts davon bei der zuständigen Waffenbehörde an. Seit 2013 besaß Tobias R. eine Waffenbesitzkarte, die später verlängert wurde. Das fiel scheinbar auch nicht auf, als er 2019 wiederholt Anzeige bei der Staatsanwaltschaft Hanau erstattete. Die Anzeige bestand aus einer Aneinanderreihung von rassistischer Ideologie und wirren Verschwörungsmythen. Sein Gefechtstraining in der Slowakei oder sein tausendfach besuchter Internetauftritt, auf dem sein rassistisches Gedankengut monatelang, sein „Manifest“ tagelang frei verfügbar war, führten ebenfalls zu keiner Aufmerksamkeit.
Bereits im März 2017 kam es zu einer bewaffneten Bedrohung von Bewohnern in Hanau-Kesselstadt, dem Wohnort des Täters und dem zweiten Tatort des 19. Februar. Zeugen beschrieben, dass vor dem Jugendzentrum ein Mann in voller militärischer Tarnkleidung, mit Gesichtsmaskierung und Sturmbrille und mit einem Sturmgewehr ausgerüstet, eine Gruppe migrantischer Jugendlicher bedroht hatte: „Verpisst Euch, ihr Scheiß Kanaken. Hier wird es Tote geben“. Die Polizei kam, nachdem der Täter bereits verschwunden war. Die weiteren Ermittlungen – wenn es denn welche gab – blieben ergebnislos, den Jugendlichen wurde nicht geglaubt und mit Anzeige gedroht. In der Folgezeit fahndete man nicht etwa nach einem bewaffneten Nazi, sondern widmete sich weiter der rassistischen Schikane der im Viertel lebenden Jugendlichen.
Diese Gleichgültigkeit hat in Hessen Tradition. Seit Jahrzehnten organisieren sich hier unbehelligt rechtsterroristische Netzwerke. In Zeiten der AfD kommt nun ein weiterer Tätertyp hinzu. Bei rechtsterroristischen Anschlägen wurden in den vergangenen zwei Jahren Walter Lübcke, Ferhat Unvar, Gökhan Gültekin, Hamza Kurtović, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Sedat Gürbüz, Kaloyan Velkov, Vili-Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu ermordet. Viele weitere wurden angegriffen und verletzt.
Der kürzlich verurteilte Mörder von Walter Lübcke, Stephan E. aus Kassel, hatte im Jahr 1992 zum ersten Mal einen dokumentierten Mordanschlag auf einen Imam mit einem Messer begangen. Im Jahr 1993 versuchte er, eine selbst gebaute Rohrbombe in einer Flüchtlingsunterkunft zu zünden. 26 Jahre später erschoss er Walter Lübcke. Politische Konsequenzen? Keine. Genauso wie nach dem NSU-Mord an Halit Yozgat in Kassel. Und nach dem Attentat von Hanau?
Das Versagen der Sicherheitsapparate in Hessen besteht nicht nur aus technischen Fehlern, es trägt eine deutlich lesbare Handschrift. Es ist die Handschrift einer Polizei, die im Deutschland von AfD und Pegida, nach dem NSU und nach Chemnitz nichts Besseres zu tun hatte, als migrantische Jugendliche beim Autofahren oder beim Rumhängen zu schikanieren, anstatt die rassistische Mobilisierung als Nährboden für neue Formen des Rechtsterrorismus ernst zu nehmen. Die Handschrift einer Politik, in der migrantische Communitys und Familien zum Sicherheitsproblem gemacht werden, statt sie vor rechtem Terror und Rassismus zu schützen.
Die Angehörigen und Überlebenden in Hanau fordern ein angemessenes Erinnern, an dem sich die gesamte Gesellschaft beteiligt. Sie fordern, dass dieses Erinnern eine Mahnung bleibt. Sie fordern Aufklärung, Gerechtigkeit und politische Konsequenzen. Warme Worte sind keine Entschädigung, ein angemessener Opferfonds wäre ein Anfang. Und die Wahrheit. Das Eingeständnis politischer Verantwortung. Dies mag sich für viele wie eine Selbstverständlichkeit anhören, doch die Durchsetzung dieser Forderungen wäre ein Novum. Die große Unterstützung darf daher nicht abreißen. Hanau muss einem jahrzehntelangen politischen Skandal ein Ende setzen. Damit nach Hanau nicht nur Schmerz und Wut bleiben. Der Ruf der Angehörigen und Überlebenden wird nach dem 19. Februar nicht verstummen.
Kommentare 17
Die Podcastserie "Rechter Terror - Vier Jahrzehnte rechtsextreme Gewalt in Deutschland" ist sehr interessant und aufschlussreich, um zu verstehen, warum es in Deutschland leider so ist, wie es ist.
Ein Jahr Hanauer Attentat zeigt für mich zwei Dinge:
erstens das systematische Versagen der entsprechenden Unsicherheitsorgane, zweitens die Beharrlichkeit und Courage der Angehörigen und Freunde der Opfer. Für Erstes habe ich nur Verachtung übrig, für Zweites allergrößten Respekt.
Dass eine direkte Linie von Kassel (NSU) über Hofgeismar (Lübcke) nach Hanau führt, zeigt die geografisch-politische Linien. Augenfällig, dass türkischstämmige Menschen vielen ur-deutschen Micheln ein Vorbild geben muss.
Schön, dass in gut drei Wochen hessische Kommunalwahlen sind.
Danke für den Beitrag !
Noch ein sehr lesenswerter Artikel aus der Perspektive des Bruders, Cetin Gültekin, von Gökhan Gültekin, einer von vielen, der sein Leben bei diesem Hassverbrechen verloren hat.
https://www.zeit.de/gesellschaft/2021-02/hanau-anschlag-rassismus-deutschland-cetin-gueltekin-bruder-opfer/komplettansicht
"Wir müssen über die Gesellschaft reden, die diesen Mörder möglich macht."
(Zitat aus dem fraglichen ZEIT-Artikel)
JA, unbedingt.
Hier und jetzt beginnen.
Würden sie sagen, daß die Fremdenfeindlichkeit in Deutschland eine andere ist als z.B. die in der Türkei oder dem Libanon oder Südafrika?
Menschen mit gewalttätigen ethnozentrischen Einstellungen gibt es in jedem Land, mehr oder weniger. Wobei nicht alle ethnozentrisch denkenden Menschen gewalttätig sind. Ich denke das Aufklärung und Prävention durch Bildung, als ein wesentlicher Baustein, gut helfen würden die ethnozentrik zu übersteigen hin zu universellen/weltzentrischen Haltungen. Dazu bräuchten wir in den Schulen kleinere Klassen und mehr Sozialarbeiter, die den Kindern und Jugendlichen, die so dringend benötigte Aufmerksamkeit, bieten würden. Das wäre schon mal ein grosser Schritt in die richtige Richtung. Das ist auch das grosse Anliegen der Opferfamilien.
Gerne beantworte ich Ihre Frage.
Im Gegensatz zu manch anderem Mitschreiber äußere ich mich am liebsten über Sachverhalte und Personen aus meinem näheren Umfeld, das ich noch mit meinen alterstrüben Augen überblicken kann.
Die Türkei, Libanon und andere Länder kenne ich nicht genau genug, um mir eine fundierte Meinung zu bilden. Der Libanon scheint mir aus einem wichtigen Grund kein geeignetes Vergleichsobjekt zu sein: mir ist kein anderes Land bekannt, das auf einer derart kleinen Fläche so vielen "Fremden" Schutz gibt.
Conclusio: Ehe Du daran gehst, die Welt zu verändern, gehe dreimal um dein eigenes Haus. Meines steht nun mal mitten im Kartoffel-Land. Das ist innere Verpflichtung.
Service: gerne.
Als großer Freund von Differenzierungen stimme ich Ihnen gerne zu. Gewalt ist in der Tat kein singulär deutsches Phänomen, sondern ein nahezu globales (quantitativ mit vermutlich unterschiedlicher Ausprägung ... doch das müsste ich noch überprüfen ...).Dass Bildung und Soziales außerhalb der Sonntagsreden unserer "Granden" zu den Stiefkindern des NeoLiberalismus gehören, habe ich in jahrzehntelanger ehrenamtlicher und beruflicher Arbeit hautnah erlebt.Ich habe den Glauben an die Reformierbarkeit dieses Systems aufgegeben - auch wenn tief in mir einer sitzt, der sich über das Gegenteil freuen würde.So leben wir alle im Spannungsfeld innerer und äußerer Widersprüche. ^.^
Alos vom "Versagen" der Sicherheits- und Justizorgane in Hessen und überhaupt in dieser Republik möchte ich nicht reden. Unterlassene Hilfeleistung ist eine Straftat !!!
Müssen Sie ja auch nicht.
Ich schrieb weiter oben von "Unsicherheitsorganen", Sie hier von "Sicherheits- und Justizorganen".
Nach Ihrem Einwand korrigiere ich meine frühere Aussage. Die fraglichen Institutionen haben Ihren Dienst als Unsicherheitsorgane voll und ganz erfüllt. Ein Versagen läge nur dann vor, wenn Ihr Auftrag in der Wahrung oder Schaffung von Sicherheit läge.
Mit Bezug auf Hanau: dabei könnten die Nachfahren der Brüder Grimm als Märchensammler tätig werden.
:-)
Dem Artikel ist der - an sich löbliche - Anspruch vorangestellt, unter anderem durch das Erzählen der "Namen und Geschichten der Opfer ... die Logik der Tat, die Opfer zu Fremden zu mavhen, zu unterbrechen".
Das kann m.E. aber kaum gelingen (und wirkt sogar eher kontraproduktiv!), wenn man alles "Fremdartige" der Opfer total auszublenden oder zu beschönigen versucht, indem man (wie im "Wochenthema") z.B. bezogen auf Hanau-Kesselstadt vom "Leben wie in einer großen Familie", vom "irgendwo auf irgendeiner Parkbank Chillen" oder von den "Träumen und Wünschen der Kids, die sich dafür anstrengen und abstrampeln" spricht - und pauschal nur die Lehrer, die "einem Steine in den Weg" legen oder die Polizisten, die "migrantische Jugendliche beim Autofahren oder beim Rumhängen schikanieren", für die Schwierigkeiten im eigenen Leben verantwortlich macht.
Rassismus ist alles andere als leicht zu überwinden, am ehesten jedoch, wenn man nicht immer bloß mit dem Finger auf andere zeigt, sondern gemeinsam prüft, wie man auf breitester Basis den Nährboden für immer bedrohlicheren Terrorismus austrocknen kann.
Danke für ihre Meinung!
Ich sehe Paralellen zwischen der Fremdenfeindlichkeit in Deutschland und der in anderen Ländern.Zwar hat der Libanon oder auch die Türkei im Verhältnis sehr viele Flüchtlinge aufgenommen, aber es sich auch Menschen aus den Nachbarländern, aus demselben Kulturkreis. Auch in Südafrika kommen die meisten Einwanderer aus unmittelbaren Nachbarländern.
Ich sehe die Fremdenfeindlichkeit in Deutschland erster Linie als ein Produkt des Politikversagens an, nämlich des Drückens der Politiker davor, den Menschen reinen Wein einzuschenken über die Tatsache, daß die Eliten Deutschland als Einwanderungsland definieren und entsprechend sich vor der Notwendigkeit zu drücken, genaue Regeln und Voraussetzungen für die Einwanderung festzulegen.
Dazu kommt, daß man diese Entscheidung, Deutschland zum Einwanderungsland zu machen gänzlich undemokratisch in stillen Kämmerlein getroffen hat und der Bevölkerung keine Wahlmöglichkeit oder Abstimmung ermöglichte.
Topdown-Politik generell und dazu auch noch schlecht gemachte Topdown-Politik
missachtet die Demokratie und die Bevölkerung gleichermassen.
Zwar hat der Libanon oder auch die Türkei im Verhältnis sehr viele Flüchtlinge aufgenommen, aber es HANDELT sich auch UM Menschen aus den Nachbarländern, aus demselben Kulturkreis.
Es würde vielleicht für ein besseres Verständnis zwischen Eingewanderten und deren Nachfahren und den "Einheimischen" sorgen, wenn die Eingewanderten darüber aufgeklärt würden, daß die vorhandene Bevölkerung kein Mitspracherecht bei den Einwanderungsregeln hat.
Natürlich nicht.
Ich bin da etwas zwiegespalten. Natürlich ist es schlimm was passiert ist. Aber ich kenne auch nicht die Namen der Menschen, die Anis Amri totgefahren hat. Ich kenne keine Interviews von Opferangehörigen, die erzählen, das Der oder- Diejenige eine moralische Instanz gewesen seien, immer hilfsbereit etc etc. Aber lass Denjenigen, der Hilfe braucht schwul sein, oder lesbisch, oder eine Frau sein, die das Leben geniesst und sich nimmt was sie will. Dann wird es schwierig.
Bin selbst kein Deutscher, habe aber seit 1991 eine deutschen Pass, habe mich aber nie als Deutscher gefühlt und habe auch kein Problem damit. Jedes Volk hat seine Eigenheiten. Ich kann mich erinnern, dass ich in der Kindheit auch eine gewisse deutsche Überheblichkeit mir gegenüber erfahren habe. Aber das hat sich gelegt bzw. ich bin damit klargekommen. Meine Tochter ist hier geboren, deutsche Mutter, selbst Sie empfindet sich nicht als richtige Deutsche und findet es gut, weil sie immer eine Ausrede hat welche Nationaltät schuld sein. Daher finde ich diese Rufe danach, wann man denn als Deutscher akzeptiert werde vollkommen fehl am Platz. Wenn Mutter und Vater Ausländer sind, dann ist man eben kein Deutscher, fertig. Aber ist das so schlimm?? Für mich nicht.Das Problem was ich sehe, dass zwei toxische Männlichkeitsformen aufeinandertreffen: eine rechtsnationale und eben, man muss es sagen eine muslimische. Die Nazis leben eine mittelalterliche Lebensweise und muslimische junge Männer auch. Einmal überfährt Anis 55 Menschen und tötet 11, ein anderes Mal erschiesst Tobias 9 Menschen. Jeweils stört den einen die Lebensweise des/der anderen.Ich weiss es nicht, haben damals Muslime gegen Amri demonstriert?Deutsche haben sich jedenfalls solidarisch gezeigt. Es ist nunmal so, dass jede Gesellschaft 10-25% Nazis hat, das heisst aber nicht, dass die schweigende Mehrheit mit ihnen symphatisiert.
Ich emfinde es so: eine gewisse Anzahl der Ausländer lebt eine mittelalterliche Lebensweise an der sich eine kleine Anzahl Biodeutscher sehr stört, aber eben nicht alle. Andererseit stören sich die Ausländer mit mittelalterlicher Lebensweise an der freiheitlichen Lebensweise der Deutschen. Mal gibt es ein Attentat von deutsch-rechts, mal von mulimisch-rechts. Deswegen zu sagen die deutsche Gesellschaft ist ausländerfeindlich ist übertrieben. Und wenn jetzt von der einen Seite Fragen auftauchen wie: Was müssen wir den tun um in dieser Gesellschaft akzeptiert zu werden: Schwule und Lesben akzeptieren, Sex vor der Ehe in allen seinen Formen akzeptieren, andere Ernärungsgewohnheiten akzeptieren ohne über sie herzuziehen etc etc....
Soweit ist aber weder die eine noch die andere Gemeinschaft/Gesellschaft, also wird es immer so weitergehen.
Warum die Polizei versagt hat? Wahrscheinlich, weil es auch hier einen gewissen Prrozentsatz an Nazis gibt.
Als altmodischer Mensch mein Bekenntnis, mich zunächst über "Topdown"-Politik kundig machen zu müssen.Ihre Bewertung von fehlender Offenheit im Diskurs teile ich begrenzt: auf die etablierten Parteien, also fast alle, trifft dies sicher zu, Funktionäre von Industrie und Wirtschaft hingegen betonen häufiger die - aus ihrer Sicht - notwendige Einwanderung einer größeren Zahl von Menschen.Was mir in diesem Kontext zu kurz kommt, ist eine ausführlichere Debatte darüber, ob ein Weiter-Wirtschaften wie bisher - quasi naturwüchsig - notwendig ist.Ich finde: nein.