Seit November 1914 hatten sich die Fronten der Erzrivalen im Kampf um die Vormacht in Europa festgebissen in einem System von Schützengräben, Unterständen, Geschütznestern und Stacheldrahtverhauen. Es reichte von der Nordseeküste bis zur Schweiz. Jeder Vorstoß, von französischer wie deutscher Seite, scheiterte. Militärhistoriker haben für dieses Patt einen sehr unzulänglichen Begriff erfunden: „defensive Kriegsführung“ (Marc Ferro). Vom Bild her einprägsamer waren „Stellungskrieg“ oder „Materialschlacht“ – falls man den Menschen als zu vernichtendes „Material“ einbezieht.
Am 21. Februar 1916 gab Erich von Falkenhayn, Generalstabschef des deutschen Heeres, nach langem Zögern den Befehl zum Angriff auf Verdun. Mit einer Übermacht von 300.000 Soldaten sollte der gordische Knoten durchschlagen werden. Am 4. März musste sich die 2. französische Armee unter Philippe Pétain nach schweren Kämpfen aus dem Dorf Douaumont zurückziehen. Eine der grausamsten Schlachten des Ersten Weltkrieges nahm ihren fürchterlichen Verlauf.
Die Pariser Presse übertraf sich in patriotischen Berichten über die heldenhafte Verteidigung des Vaterlands und schäumte vor Wut über die „deutschen Barbaren“. Nicht weniger entlud sich der Zorn chauvinistischer Eliten auf einen Franzosen, der sich quasi zwischen den Fronten, weil in der Schweiz, zwar auch um Frankreich ängstigte, aber keinerlei Partei ergriff, sondern das sinnlose Gemetzel als das bezeichnete, was es war – ein „Verbrechen an Europa und an der Zivilisation, zu dem die Völker gebracht worden waren durch die Politik ihrer Regierungen“: der Schriftsteller Romain Rolland.
Im Schmerzfeld eines Epochenwandels
Dessen erste Notiz über Verdun findet sich in seinem Tagebuch der Kriegsjahre unter dem 9. März. Zu diesem Zeitpunkt hat er bereits 15 Hefte gefüllt mit Beobachtungen, Reflexionen, Briefauszügen, mit allem, was ihm „die Zeit diktiert“. 29 Hefte werden es am Ende sein. Zahlreiche Antikriegsartikel, zumeist in Schweizer Zeitschriften gedruckt, tröpfelten wie frisches Wasser in die „seelischen Wüsten“ der kriegführenden Nationen. Drei Monate vor Beginn des apokalyptischen Furors an der Maas war Rollands Essaysammlung Über dem Getümmel erschienen, die eine Hasswelle gegen ihn auslöste. „Im französischen Außenministerium brechen einige Patrioten sofort in Wut und Raserei aus, wenn sie nur den Namen Rolland hören“, vermerkt der Autor.
Da jüngst des 150. Geburtstages von Rolland zu gedenken war, hat der Verlag C.H. Beck eine Auswahl aus dem Kriegstagebuch herausgebracht. Der Titel: Über den Gräbern. Erstmals in deutscher Sprache, heißt es – ein fataler Werbetrick, denn seit 1963 bereits gab es die bei Rütten & Loening in Ostberlin edierte vollständige Ausgabe der von Rolland 1952 autorisierten Fassung in drei Bänden, die mehrmals aufgelegt wurden. Rollands Kriegsjournal ist in der gesamten Tagebuchliteratur an Umfang, Aktualität und Intensität bis heute beispiellos. Es bezeugt detaillierter, leidens- und gedankennäher als jedes Geschichtsbuch den Irrsinn, der in die Hölle von Verdun geführt hat.
Ein Nobelpreisträger lässt seine literarische Produktion ruhen, dokumentiert und reflektiert über vier Jahre und zehn Monate – vom 31. Juli 1914 bis April 1919 – allein Zeitereignisse. Er schreibt im Schmerzfeld eines Epochenwandels die „notwendigen Ergänzungen“ zur Moralgeschichte Europas. „Mit diesem Jahr 1914 erlischt die private Existenz Romain Rollands“, vermerkte Stefan Zweig.
Vom Ausbruch des Weltkrieges hatte Rolland in Veverey erfahren, wo er sich „wie ein Kieselstein in den heißen Wogen der Liebe“ fühlte (seine erste große Liebe war die US-Schauspielerin Elena Van Brugh de Kay, genannt Thalie) und wo er sich von den Anstrengungen seines Romanwerkes Johann Christof erholen wollte. Er liest dort von den gegenseitigen Kriegserklärungen und ist entsetzt: „Ich bin am Boden. Ich möchte tot sein. Es ist furchtbar, inmitten dieser wahnsinnigen Menschheit zu leben und ohnmächtig dem Bankrott der Zivilisation beizuwohnen.“
Mann der Aufklärung
Als Rolland von der Zerstörung der belgischen Kultur- und Universitätsstadt Löwen erfährt, verfasst er einen Offenen Brief an Gerhart Hauptmann. Zugleich an das Journal de Genève, die Times und La Voce in Florenz gesandt, war dies ein Appell an die Intellektuellen, gegen die Verbrechen der kaiserlichen Armeen zu protestieren. Aber Hauptmann antwortet: „Krieg ist Krieg“ und lobt die „herrliche Landwehr“, die den Feind zerschmettert. Alles in dem feinsinnigen französischen Schriftsteller sträubt sich gegen diese fatale Ergebenheit und gegen nationalistische Verblendung, die jede Kultur auslöscht und nur noch Rache kennt. „Sehr schnell wurde die Lage klar und eindeutig. Ich stand allein gegenüber einer von Hass und Kriegsbegeisterung besessenen Welt“, schreibt er im November 1916 an die späteren Leser seiner Aufzeichnungen. „Ohne es gewollt zu haben“, sei er zum „Dolmetsch“ der Sache Europas geworden, was ihm die Pflicht auferlege, „Tag um Tag die Geschichte der Prüfung schriftlich festzuhalten ...“
Doch er verweilt nicht in der Rolle des Chronisten, er ist auch Akteur. Rolland versucht, die kleine, erst mit zunehmender Ernüchterung wachsende Schar vernünftiger Geister um sich zu sammeln. Und er will, soweit er es vermag, praktisch eingreifen, zieht nach Genf, beginnt in der Auskunftsstelle des Internationalen Roten Kreuzes für Kriegsgefangene zu arbeiten. Bis in die Nächte, trotz Krankheit und Erschöpfung, beantwortet er Tausende von Briefen – die genaue Zahl wird nie ermittelt. Vieles davon fließt in die Tagebücher ein. Er verfasst Pamphlete und Aufsätze gegen das „Phänomen kollektiver Psychose“, die das Gros der regierungstreuen Adepten gegen ihn aufbringen. Er wird des Verrats bezichtigt und bedroht. Was erregt die Fanatiker beider Seiten so sehr? „Ich habe – nach und nach, mit Entsetzen – die Entdeckung gemacht, dass Deutschland nicht allein log“, schreibt er am 11. Januar 1915. „Ich bemühe mich, aufmerksam alles zu betrachten“, und zwar „nicht als Franzose, als Engländer oder Deutscher, sondern als Europäer.“ Gegenüber den französischen Verfehlungen zeige er sich strenger, weil er Frankreich liebe. Das macht ihn in den Augen der Franzosen zum Antipatrioten. Selbst bei seinem Vater stößt er auf Ablehnung. Deutschland, den Erbfeind, liebe er nicht weniger, auch das wird ihm vorgeworfen (und die deutschen Geistesgrößen danken es ihm nicht); sein Johann Christof ist ein Hohelied auf die deutsch-französische Versöhnung; als Musikwissenschaftler hat er über Beethoven und Händel geschrieben. Das Amt des Schriftstellers, Gerechtigkeit walten zu lassen, gebietet, sich „mitunter ein wenig auf die Seite des Gegners“ zu stellen. Zwar scheint ihm das deutsche Vorgehen im Krieg am verbrecherischsten. Aber weil die Verantwortung der Mächte „in verschiedenem Maße geteilt“ sei, habe er Deutschlands „Rechtfertigung übernommen“.
Ein Mann der Aufklärung, gewiss von idealistischen Vorstellungen geprägt. Im Verlauf des ersten Kriegsjahres kamen ihm wiederholt Zweifel: Sollte er den Kampf um die Befriedung Europas fortführen? „Aber es musste gesprochen werden“, erinnert er sich später. „Warum? Weil keiner sprach.“
Das Gemetzel vor Verdun leitet einen neuen Abschnitt in seinen Aktivitäten gegen den Krieg ein. Romain Rolland vollzieht „den völligen Bruch ... mit der alten Gesellschaft“ und zeigt „den wahren Friedenstöter an – das Geld ...“, wie das im Essay Der freie Geist geschieht. Er hat neue Kampfgenossen gewonnen, trifft sich mit Anatoli Lunatscharski, korrespondiert mit Maxim Gorki, der Name Lenin taucht im Journal auf und verschwindet nicht mehr von den Seiten. Am 19. Dezember 1916, zwei Tage bevor der französische Generalstab die Attacken um Verdun (vorerst) aufgibt, schreibt Rolland in seine individuelle Chronik: „Soziale Revolutionen bei Friedensschluss vorauszusehen.“ Die Russen werden nicht so lange warten.
Kommentare 4
Danke für die Erinnerung an Rolland (den fast Vergessenen). Man kann in diesen Zeiten nicht genug an die Tradition des Pazifismus erinnern.
Übringens hat nicht nur Hauptmann auf Rolland reagiert. Auch Thomas Mann fühlte sich angegriffen. In den "Betrachtungen eines Unpolitischen" setzt er sich mit Rolland (negativ) und Hamsun (positiv) auseinander. Unter anderem so:
Der Franzose von Geburt heißt Romain Rolland, und dass er Franzose ist, Franzose mit Haut und Haaren und also im Grunde ganz ohne kosmopolitische Begabung, das lehrt sein unendlich wohlmeinendes Kriegsbüchlein, dessen Paris skandalisierende Wirkung nicht recht verständlich ist.... und:
Sie sind Schriftsteller, Romain Rolland, und Sie haben meinen Artikel gelesen und interpretiert wie ein begriffsstutziger, im Geistigen unbewanderter Spießer ihn gelesen und interpretiert haben würde...
Ich stelle mir gerade Thomas Mann auf Facebook vor.
"Johann Christof" ist nicht nur ein Buch über deutsch/französische Freundschaft. Es ist ein Buch über die Entwicklung eines Menschen durch Einflüsse in anderen Ländern. Italien/Frankreich. Über das Anderssein der Menschen in anderen Ländern. Über Begegnung mit diesem Anderssein und dadurch Erweiterung des eigenen Wesens. Ein wunderbares, großartiges Buch. Aktuell wie damals.
"schreibt Rolland in seine individuelle Chronik: „Soziale Revolutionen bei Friedensschluss vorauszusehen.“ Die Russen werden nicht so lange warten."
Die russische Oktoberrevolution 1917 bleibt mit der Hypothek des Ersten Weltkrieges 1914- 1918 als Massenmordveranstaltung auf allen Kontinenten behaftet und belastet und scheitert letztendlich waffenklirrend an dieser als einem Stahlbad irrlichternd identitätsstifendem Mythos 1991 am Schussakkord des Kalten Krieges
https://www.freitag.de/autoren/joachim-petrick/gottfried-benn-edith-cavell-egon-e-kisch
JOACHIM PETRICK 08.01.2014 | 01:44 21
Gottfried Benn, Edith Cavell, Egon E. Kisch
Thomas Mann 1918 "Die Weltöffentlichkeit beplärrt Erschießung Edith Cavells. Warum?, man entehrte sie nicht, man ehrte sie, indem man sie, wie einen Mann, vor die Flinte stellte,"
Das ist ein interessanter Hinweis - auch in der Perspektive der Rezeption.
In seiner Jüngerbiographie setzt sich Helmuth Kiesel mit dem Entsetzen auseinander, das eine Passage der "Strahlungen" uns abgebrühten Lesern noch heute bereitet. Es geht um die akribische, für mich gefühlskalte Beschreibung der Hinrichtung eines Deserteurs im Mai 1941. Jünger war zur Exekution als "Leitender befohlen" worden. Zur "Entlastung" Jüngers führt Kiesel nicht Mann, sondern genau diesen Bericht Benns aus dem Jahr 1915 an. Und - oh Wunder! Das Ergebnis:
Aber ist Benns Bericht dem Jüngerschen überlegen? (Ist das die Frage?). Fehlen ihm nicht gerade die Genauigkeit und Empathie, die Opfer verdient hätten und um die Jünger sich bemühte?
Davon abgesehen, dass den Opfern Berichtgenauigkeit über ihre Exekution ziemlich egal ist, frage ich mich, wo im Jüngertext Empathie aufblitzt. Vielleicht hier?
Ich möchte wegblicken, zwinge mich aber, hinzusehen, und erfasse den Augenblick, in dem mit der Salve fünf kleine dunkle Löcher im Karton erscheinen, als schlügen Tautropfen darauf.