Was zwischen dem 25. Juli und dem 20. August 1935 auf dem VII. und letzten Weltkongress der Kommunistischen Internationale (Komintern) in Moskau verabschiedet wird, ist nicht weniger als ein radikaler Paradigmenwechsel. Erzwungen hat den ein weiter erstarkender europäischer Faschismus. Entgegen der bis dahin vorherrschenden Sozialfaschismus-These, nach der Sozialdemokratie und Faschismus zwei Seiten derselben Medaille seien (Josef Stalin dazu 1924: „Das sind keine Antipoden, sondern Zwillingsbrüder!“), schließt die Idee der Volksfront nicht mehr nur die einstmals verhasste Sozialdemokratie ein. Teile der liberalen Bourgeoisie sollen ebenfalls zum antifaschistischen Bollwerk gehören. Die KPD billigt die unerwartete Wende vorbehaltlos. Wilhelm Pieck, spät
8;ter erster und einziger Präsident der DDR, notiert: „Wir hätten unseren Kampf gegen die Sozialdemokratie in einen realen Zusammenhang mit dem Kampf gegen den angreifenden Faschismus bringen müssen. Dies ist unser schwerster Fehler.“Der Schulterschluss für den vereinten Widerstand entfacht für Europa eine Aufbruchsstimmung in weiten Teilen der Arbeiterbewegung, ebenso unter Intellektuellen. Doch es ist keineswegs so, dass erst die Volksfrontwende der Komintern entsprechende Initiativen begünstigt. Vielmehr bestätigt sie nachträglich eine bereits in Westeuropas praktizierte Volksfrontpolitik. Besonders weit gediehen sind die Verhältnisse in Frankreich, wo es 1934 als Reaktion auf eine erstarkende Rechte zu einer eigentlich der Sozialfaschismus-Theorie entgegenstehenden, aber von Moskau abgesegneten Einheitsfront aus Kommunisten und Sozialisten kommt. Das neue Bündnis bringt bei den Kommunalwahlen im Oktober 1934 beiden Parteien einen enormen Stimmenzuwachs. Dieser Erfolg ermutigt schließlich die KPF, ein erstes Volksfrontprogramm zu entwerfen. Unter ihrem einflussreichen Parteichef Maurice Thorez versteht man im Unterschied zu Deutschland recht früh, das Kleinbürgertum nicht den Rechten überlassen zu dürfen. Thorez gilt neben dem Komintern-Vorsitzenden Georgi Dimitrow als entscheidender Inspirator der Komintern-Wende ein Jahr später. Endgültig wird der Volksfrontmythos in Frankreich am 14. Juli 1935 geboren, als in Paris über eine halbe Million Menschen für die Verteidigung der Demokratie und die Entwaffnung der faschistischen Verbände demonstrieren. Die Führungsriegen der Kommunisten, Sozialisten und bürgerlichen Demokraten bekennen sich dabei gemeinsam zu Demokratie und antifaschistischen Idealen. Bei den Parlamentswahlen Anfang Mai 1936 wird die Volksfront schließlich an die Regierung gewählt. Getragen von den Arbeitermassen, die durch die gewaltigste Streikbewegung in der Geschichte Frankreichs den Anspruch auf eine eigene Regierung erheben, übernimmt der Sozialist Leon Blum das Amt des Premierministers. Schnell fallen erste Entscheidungen, die auf soziale Verbesserungen zielen. Die 40-Stunden-Woche wird eingeführt, es gibt kollektive Tarifverträge und das Recht auf Urlaub. Die organisierte französische Arbeiterschaft erlebt einen exorbitanten Aufschwung, was den Gewerkschaften, aber auch Kommunisten einen gewaltigen Mitgliederzuwachs beschert.Im Nachbarland Spanien stehen zu diesem Zeitpunkt die Zeichen schon auf Bürgerkrieg. Am 18. Juli 1936 nehmen faschistische Militärs unter General Francisco Franco strategische Zentren auf dem Festland ein. Der faschistische Putsch beginnt. Ein Jahr zuvor hat die spanische KP ähnlich wie in Frankreich zur Abwehr der faschistischen Gefahr die Bildung einer Volksfront aus den Arbeiterparteien und republikanischen Kräften vorgeschlagen. Bei der Wahl am 16. Februar 1936 erringt das Volksfrontbündnis einen klaren Sieg, auch dank der Unterstützung durch die Anarchisten, die zum ersten Mal ihren Wahlboykott aufgeben und weitgehend für die Volksfrontkoalition stimmen. Obwohl die Arbeiterparteien in der Minderheit sind und die stärkste Fraktion der spanischen Arbeiterbewegung – die Anarchosyndikalisten mit ihrer Gewerkschaft CNT – gar nicht im Parlament vertreten ist, versetzt der Wahlausgang die Anhänger der Volksfront in einen Zustand der Euphorie. Wie vor der Abstimmung vereinbart, übernehmen die bürgerlichen Republikaner die Regierungsgeschäfte, doch können sie die Linke nicht zufriedenstellen. Der linke Flügel der Sozialisten wie die Anarchosyndikalisten drängen auf den revolutionären Wandel. Dies führt zwar zu keinem Umsturzversuch, aber dazu, den offensichtlichen Bürgerkriegsvorbereitungen der Rechten nicht die nötige Aufmerksamkeit zu schenken.Auch innerhalb und außerhalb von Nazi-Deutschland entstehen – ermutigt durch Frankreich und Spanien – zwei Volksfrontinitiativen, wie sie unterschiedlicher nicht sein können. Im Frühjahr 1935 gründen im Berliner Untergrund die ehemaligen SPD-Politiker Otto Brass und Hermann Brill die Deutsche Volksfront bzw. Zehn-Punkte-Gruppe. Sie operiert relativ undogmatisch und kann als eine der wenigen Widerstandsgruppen ein überregionales Verbindungsnetz unabhängig vom Exil aufbauen. Im Dezember 1936 erarbeitet die Gruppe ihr Manifest, eben den Zehn-Punkte-Plan, der sowohl allgemein-demokratische, freiheitliche und sozialpolitische als auch erkennbar antikapitalistische Leitsätze enthält. Parallel dazu gründen im Pariser Exil Mitglieder des Schutzverbandes deutscher Schriftsteller um Heinrich Mann und Kommunisten um Willi Münzenberg den Pariser Volksfrontausschuss, auch „Lutetia-Kreis“ genannt. Federführend sind linksintellektuelle Persönlichkeiten, es fehlt an Präsenz aus anderen bürgerlichen Kreisen sowie von Emigranten aus der Arbeiterschaft. Nach einer von Differenzen geprägten Programmdebatte und überschattet von den politischen Säuberungen in der Sowjetunion tagt der Ausschuss im April 1937 zum letzten Mal. Die Berliner Widerstandsgruppe pflegt zum „Lutetia-Kreis“ nur sporadischen Kontakt. Was trennt und den Austausch behindert, sind völlig unterschiedliche Realitäten – hier das Exil, dort die konspirativen Gesetze des inneren Widerstandes im Nazi-Staat. Durch die Gestapo bespitzelt, wird die Zehn-Punkte-Gruppe 1938 ausgehoben. Otto Brass überlebt im Zuchthaus Brandenburg, Hermann Brill wird ins KZ Buchenwald verschleppt und gründet dort wieder ein illegales Volksfrontkomitee. Nach der Befreiung aus dem Lager im April 1945 arbeitete er 1948/49 am BRD-Grundgesetz mit.In Frankreich scheitert die Volksfrontregierung unter Leon Blum im Juni 1937 an einer desaströsen wirtschaftlichen Situation mit einer nie da gewesenen Staatsverschuldung und besorgniserregenden Kapitalflucht. Maßnahmen wie die Abwertung des Franc tun ein Übriges, um die Verhältnisse derart abstürzen zu lassen, dass sogar der soziale Ertrag der Volksfrontzeit in Teilen wieder verloren geht. In Spanien sorgt nach einer vorübergehenden Lähmung durch den Franco-Putsch eine neue Volksfrontregierung unter kommunistischer und linkssozialistischer Beteiligung zunächst für ein wenig Stabilität. Durch sowjetische Waffenlieferungen kann 1936 eine Offensive der Franco-Truppen gegen Madrid abgewehrt werden. Allerdings bekämpfen sich ab Mai 1937 Anarchosyndikalisten wie Trotzkisten auf der einen und Stalin-treue Kommunisten auf der anderen Seite in Barcelona auf das Heftigste. Letztlich soll die Zersplitterung der Linken – neben dem militärischen Beistand der faschistischen Achsenmächte Deutschland und Italien für Franco – ein Grund dafür sein, dass die spanische Republik im März 1939 besiegt ist und untergeht.Es ist dann der Hitler-Stalin-Pakt vom August 1939, der die Volksfrontpolitik der Komintern definitiv beendet. Sie löst sich im Juni 1943 selbst auf, damals auch eine Konzession Stalins gegenüber den westlichen Partnern der Anti-Hitler-Koalition Großbritannien und USA. Die Volksfrontidee behauptete sich insoweit, als ihre Werte Eingang finden in so manche Verfassung der Nachkriegszeit.