Zeitgeschichte In New York hat der Film „Casablanca“ Premiere. Was heute als Gefühlskino erinnert wird, sollte vor allem die Not von Menschen zeigen, die vor den Nazis fliehen müssen
„Verhaften Sie die üblichen Verdächtigen“ („Arrest the usual suspects“). Den Spruch kennt man, diesen kalten Befehl eines Polizeichefs. Und zwar aus dem zeitlosen Schwarz-Weiß-Film Casablanca mit den legendären Humphrey Bogart und Ingrid Bergman. Das Werk hatte Premiere vor gut einem Dreivierteljahrhundert in New York City. Eine Geschichte von Liebe (natürlich), Zynismus, viel Ambivalenz bei den Protagonisten und dann am Ende von überraschender Selbstlosigkeit, ein Film über fliehende Menschen in Not. Total aktuell.
Die Handlung spielt in Casablanca Anfang der 40er Jahre. Die nordafrikanische Stadt steht unter der Kontrolle der französischen Vichy-Regierung. Diese ist nominell unabhängig, hat sich jedoch arrangiert mit der
arrangiert mit der deutschen Gestapo, der SS und der Wehrmacht, die seit Juni 1940 mehr als die Hälfte von Frankreich besetzt hat. Casablanca ist Ort der Hoffnung für Menschen aus ganz Europa, die vor den Nazis geflohen sind und über die Hafenstadt irgendwie in ein freies Land entkommen wollen, bis hin nach Amerika. Im Film begegnen sich manche dieser Verzweifelten im Nachtclub und Kasino „Rick’s Café Américain“. Eigentümer ist der coole und smarte Amerikaner Rick Blaine (Humphrey Bogart), ein Mann mit einer Anti-Nazi-Vergangenheit, wie man im Laufe des Films erfährt. Aus ungeklärten Gründen lebt er in Nordafrika und behauptet, er halte seinen Kopf für niemanden mehr hin. Blaine gibt sich zynisch, verdient gutes Geld, macht Deals mit dem korrupten Polizeichef Louis Renault (Claude Rains), der mit den Nazis zusammenarbeitet.Ein Nazi-Offizier fragt Blaine nach seiner Nationalität und kriegt die Antwort: „Ich bin ein Trinker.“ Rick lebt offenbar mit einer großen Schwermut, deren Ursache der Zuschauer erst versteht, als Ilsa Lund (Ingrid Bergman) den Club betritt. Ilsa war Ricks große Liebe in Paris, ein paar glückliche Wochen lang, kurz vor dem deutschen Überfall auf Frankreich, zeigt eine Rückblende. „Here’s looking at you, kid“, sagt Bogart voller Liebe diesen nur notdürftig übersetzbaren Satz der Innigkeit („Ich seh dir in die Augen, Kleines“). Als die Wehrmacht im Juni 1940 in Paris einmarschiert, Rick den letzten Zug aus der Stadt nimmt, und Ilsa erfährt, dass ihr tot geglaubter Ehemann, der tschechoslowakische Freiheitskämpfer Victor Laszlo (Paul Henreid), noch am Leben ist, verlieren die beiden einander. Ilsa kehrt ohne Erklärung an Rick zu Victor zurück. Rick ist tief verletzt.Als Casablanca am 26. November 1942 uraufgeführt wurde, trafen sich filmische und „wirkliche“ Realität. Das Fachblatt Hollywood Reporter schrieb gar, die Produktionsfirma Warner Bros. habe Glück gehabt, dass Weltereignisse „den Namen Casablanca auf jedermanns Lippen gebracht haben“. Unter dem Oberkommando von US-General Dwight Eisenhower war am 8. November die „Operation Torch“ angelaufen – die angloamerikanische Invasion in Nordafrika mit den Zielen Casablanca, Algier und Oran im heutigen Algerien, um die Region gegen das deutsche Afrika-Korps zu verteidigen und eine Landung alliierter Truppen auf Sizilien vorzubereiten. Mit hunderten Schiffen und mehr als 100.000 Soldaten sollte die „Operation Torch“ zur bis dahin größten amphibischen Militäraktion der Weltgeschichte werden. Im November 1942 waren die Vereinigten Staaten erst seit knapp einem Jahr Kriegspartei. Mehrere Tage nach der Landung marschierten die Soldaten in Casablanca ein. Warner Bros. soll sogar überlegt haben, die Invasion noch in den Spielfilm einzubeziehen.Die Casablanca-Premiere fand zwei Tage nach einer großen Pressekonferenz in Washington statt. Der Präsident des Jüdischen Weltkongresses, Rabbiner Stephen Wise, konfrontierte die US-Medien am 24. November mit einem Bericht des Genfer Büros seiner Organisation. Daraus ging hervor, die Nazis hatten mit der Deportation und Ermordung der Juden in den besetzten Gebieten begonnen. Wise hatte den Bericht bereits drei Monate zuvor erhalten, wollte aber noch auf die „Bestätigung“ vom US-Außenministerium warten, um ihn danach publik zu machen.Amerikaner wussten zu jener Zeit relativ wenig über die Verfolgung der Juden und den Massenmord. In der jüdischen Presse und einigen anderen Zeitungen habe es zwar Informationen dazu gegeben, doch die meisten Blätter hätten wenig berichtet über den sich abzeichnenden Genozid, und wenn, dann häufig ohne Dringlichkeit, urteilt die Historikerin Deborah Lipstadt in ihrem Buch Beyond Belief (Unfassbar) über die US-Medien und den Holocaust. Das Holocaust Memorial Museum in Washington betreibt gegenwärtig ein Crowdsourcing-Rechercheprojekt zum Thema US-Zeitungen und der Holocaust: Freiwillige haben mehr als 3.000 Artikel aus den Jahren 1933 bis 1945 gefunden und ausgewertet. Viele davon bestätigen, dass tatsächlich keine „Dringlichkeit“ herrschte. Meldungen vom Völkermord landeten hinten in den Blättern.Auch wenn das nicht besonders betont wurde von der PR-Abteilung bei Warner Bros. – im Film Casablanca sahen Kinogänger Menschen, die vor der tödlichen Bedrohung durch die Nazis geflohen waren. Fast alle der 75 Neben- und Statistenrollen seien mit Einwanderern besetzt worden, mehr als zwei Dutzend davon mit Flüchtlingen, vermerkt die Filmjournalistin Aljean Harmetz in ihrem Buch Verhaften Sie die üblichen Verdächtigen. Wie Casablanca gemacht wurde. Dazu zählten die deutsche Schauspielerin Trude Berliner (Gast im Café Américain), der Kabarettist Curt Bois (Taschendieb), der französische Darsteller Marcel Dalio, dessen Eltern von den Nazis ermordet wurden (Croupier in Ricks Kasino), die Schauspielerin Ilka Grüning (eine Exilantin auf dem Weg in die USA) und Ludwig Stössel (der Ehemann der Exilantin). Harmetz schreibt über die Besetzung, diese Künstler auf der Flucht hätten mit ihren kleinen Rollen in Casablanca ein Verstehen und eine Verzweiflung in den Film gebracht. Eine solche Besetzung hätte man in keiner Casting-Agentur finden können, so die Autorin.Komplexe Typen, keine großen HeldenDie Geschichte von Rick, Ilsa und Laszlo nimmt ihren nicht immer logischen Lauf. Victor Laszlo braucht dringend ein Transitvisum für sich und Ilsa, um seinen Kampf gegen die Nazis fortzusetzen. Rick hat zufällig die richtigen Papiere, sagt aber erst Nein. Es wird kompliziert. Polizeichef Louis Renault weiß auch von Ricks Papieren. Nazi-Offiziere weisen an, Laszlo dürfe Casablanca unter keinen Umständen verlassen. Rick versichert Renault, er selbst werde die Papiere verwenden, um mit Ilsa auszureisen. Dann die entscheidenden Szenen nachts auf dem Flughafen. Bei der Maschine ins neutrale Portugal laufen die Propeller. Rick sagt Victor und Ilsa, die beiden sollten gemeinsam ausreisen. Laszlo brauche seine Frau für den Kampf. Ilsa schluchzt. Ein Nazi-Offizier will das Flugzeug anhalten, Rick erschießt den Deutschen in Gegenwart von Polizeichef Renault. Doch der ist anscheinend irgendwie so berührt von Ricks Edelmut, dass er selber die Seiten wechselt. Als seine Untergebenen kommen, um den Mord an dem Offizier aufzuklären, schickt Renault sie weg mit der Aufforderung: „Round up the usual suspects.“ Und dann der Schlusssatz, Rick zu Renault: „Louis, I think this is the beginning of a beautiful friendship“ („Das ist der Beginn einer wunderbaren Freundschaft“).Wer den Film mag, schaut ihn sich gern immer wieder an. Die Menschen in den Hauptrollen faszinieren. Sie sind komplexe Typen, keine großen Helden. Und die Bösewichte (mit Ausnahme der Nazis) haben auch ihre guten Seiten. Harmetz schreibt, es gebe bessere Filme als Casablanca, doch keiner zeige die mythologisierte Version besser, die Amerika von sich selber habe. Nach außen hin hart, im Inneren moralisch, „bereit zum Opfern und zur Romantik“ und bereit zum Risiko für andere, wenn die Umstände Heldenmut erfordern. Der große Humphrey Bogart hat diese Haltung personifiziert. Vor Drehbeginn setzte Warner Bros. eine Presseerklärung in Umlauf, Ronald Reagan werde der Star sein in Casablanca. Undenkbar.
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