Zeitgeschichte Der Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe steht vor dem Zerfall: Rumänien sieht sich benachteiligt – und kokettiert mit dem Austritt aus der sozialistischen Gemeinschaft
Gheorghiu-Dej (links) und Chruschtschow 1962 in Bukarest
Foto: Itar-Tass/Imago
Im Sommer 1962 wurde der sowjetische Parteichef Nikita Chruschtschow gegenüber den Bruderparteien aus dem Ostblock ungeduldig. Als man sich in Moskau zur Jahrestagung des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) traf, schlug er vor, ein einheitliches Planungsorgan zu bilden. Das solle „hohe Autorität und große Rechte besitzen“, so Chruschtschow. Anders ließen sich die seit 1957 auf den jährlichen RGW-Tagungen gefassten Beschlüsse über mehr Wirtschaftskooperation nicht erfolgreich umsetzen.
Erstmals war die Idee, Planziele der RGW-Länder zu koordinieren, auf der 7. Ratstagung im Mai 1956 in Ostberlin diskutiert worden. Ab 1958 gab es entsprechende Abstimmungen zwischen den einzelnen RGW-Ländern, von Fall zu Fall bilaterale Ab
aterale Abkommen. Sie sahen etwa vor, die Erzeugung von bestimmten Werkzeugmaschinen oder Kraftfahrzeugen dort auszubauen, wo bei gleichem Mitteleinsatz der größte Produktionsschub zu erwarten war. Für die Auswahl des Standortes sollten deshalb das technische Niveau einer Produktion und der Bestand an qualifiziertem Personal ausschlaggebend sein.So vorzugehen, die Wirtschaft des Ostens als Ganzes zu stärken, ergab sich zwingend, nachdem Chruschtschow, seit 1957 in der Sowjetunion uneingeschränkt die Nummer eins, verkündet hatte, die Hauptaufgabe der sozialistischen Länder im Systemwettbewerb bestehe nunmehr darin, den Westen ökonomisch einzuholen. Doch kam die gewünschte Kooperation nur schleppend voran, da jedes Mitgliedsland gefragt und von seinen Interessen her bedacht sein wollte. Von daher war die sowjetische Absicht verständlich, die Plankoordinierung im RGW mit mehr Dringlichkeit zu betreiben. Es sollte den RGW-Organen erlaubt sein, mehrheitlich getroffene Entscheidungen in jedem Mitgliedsstaat verbindlich durchzusetzen. Das erschien bei einem zentralistisch-administrativen Planungssystem bevorzugt auf einem Wege möglich: Es mussten wesentliche Befugnisse der nationalen Plankommissionen einer supranationalen Planungsbehörde übertragen werden. Chruschtschows Strategie, dadurch die Position des Sozialismus im Systemwettbewerb zu stärken, hätte eigentlich für die Regierungen aller RGW-Länder nachvollziehbar sein müssen. Doch stieß das Anliegen der sowjetischen Führung von Anfang an auf geteilte Resonanz. Energischster Befürworter der Chruschtschow-Pläne war die DDR. Während die Regierung der Tschechoslowakei sich ebenfalls aufgeschlossen verhielt, waren Polen, Bulgarien und vor allem Rumänien – einem Bericht zufolge, den die DDR-Delegation nach dem Moskauer Treffen dem SED-Politbüro gab – lediglich „für eine lose Zusammenfassung der Länderpläne“ zu gewinnen. „Sie gaben zu verstehen, kein Agraranhängsel anderer Länder zu sein und auch keine Halbkolonie“, hieß es in diesem Report. Die Führung der rumänischen KP habe erklärt, von der Koordinierung im RGW hätten „lediglich die Deutschen, die Russen und die Tschechen Vorteile“ gehabt. Ähnlich, wenn auch nicht so prononciert, habe sich die bulgarische KP-Führung geäußert.Die Debatten in Moskau hatten gezeigt, dass die industriell weniger entwickelten Staaten befürchteten, im RGW auf den Status der Lieferanten von Obst, sonstigen Nahrungsmitteln und Rohstoffen reduziert zu werden, da ihre verarbeitende Industrie vom Niveau her zu viel schuldig blieb, um an einer hochspezialisierten Arbeitsteilung teilzunehmen. Im Interesse ihrer Staaten schien es Rumänien und Bulgarien angezeigt, dass die Entwicklung sämtlicher Industriezweige in jedem Land fortgesetzt würde. Schließlich habe die „sozialistische Industrialisierung“ 1949 zum Gründungskonsens des RGW gehört. Mit der gleichen Intensität wie gegen ein supranationales Planungsorgan wandten sich Bukarest und Sofia gegen die damals gleichfalls erwogene Aufhebung des Einstimmigkeitsprinzips, das man zugunsten von Mehrheitsvoten ersetzen wollte.Chruschtschow gab nicht nach. Keine zwei Wochen nach der RGW-Tagung reiste er mit einer Partei- und Regierungsdelegation nach Rumänien. Unmittelbar nach seiner Ankunft, noch auf dem Bukarester Flughafen, drohte Nicolae Ceaușescu, seinerzeit schon der starke Mann in der rumänischen KP, dem Gast aus Moskau: Rumänien werde aus dem RGW aussteigen. Man könne sich auf den Beistand der KP Chinas und Mao Zedongs verlassen. Das bedeute, sein Land werde bei einem solchen Schritt nicht allein dastehen. Als Ceaușescu im März 1965 den verstorbenen Gheorghe Gheorghiu-Dej als KP-Generalsekretär beerbte, wurde das Verhältnis zu Peking umgehend belebt.So war bei allen folgenden RGW-Treffen bis Ende 1962 und Anfang 1963 dem sowjetischen Vorstoß – zur Enttäuschung der DDR und der Tschechoslowakei – kein Durchbruch beschieden. Im April 1964 monierte das in Ostberlin erscheinende Wochenblatt Die Wirtschaft, zweifellos im Auftrag der SED-Führung, „engstirnige Auffassungen“ innerhalb des RGW. In Moskau hatte man offensichtlich die nationalen Bedürfnisse der noch schwach industrialisierten RGW-Staaten unterschätzt oder nicht wahrgenommen, dass sich die Parteichefs dieser Länder trotz aller Bekenntnisse zum sozialistischen Internationalismus zunächst einmal sich selbst verpflichtet fühlten. Sollte ein – wie man es heute nennen würde – Rum-Exit vermieden und ein Auseinanderbrechen der osteuropäischen Wirtschaftsunion verhindert werden, musste folglich die erstrebte länderübergreifende Zentralplanung aufgegeben werden. Für die ökonomische Konkurrenz mit den Ländern des Westens war das ein fataler Umstand, doch führte kein Weg daran vorbei, im RGW Kompromisse finden zu müssen.Vom zentralen Planungsamt war später nicht mehr die Rede. Leonid Breschnew, der nach Chruschtschows Sturz im Oktober 1964 dessen Nachfolge antrat, ging es nur noch um besser koordinierte Pläne der RGW-Länder. Als eine sowjetische Partei- und Regierungsdelegation Rumänien im Mai 1966 besuchte, konnte der neue KPdSU-Generalsekretär dies Ceaușescu glaubhaft versichern. Ungeachtet dessen pflegte der in den folgenden Jahren seine China-Affinitäten ungerührt weiter und stand Peking näher als Moskau.Einer der unter diesen Bedingungen im RGW erzielten typischen Kompromisse war die Einführung des „Prinzips der interessierten Länder“ während der zweiten Hälfte der 60er Jahre. Danach lag es bei vorgeschlagenen Integrationsmaßnahmen in der Entscheidungsbefugnis eines jeden Mitgliedslandes, sein Interesse an einem solchen Projekt zu erklären oder eben seine „Nichtinteressiertheit“ mitzuteilen. Das Einstimmigkeitsprinzip wurde dadurch umgangen, dass „nicht interessierte Länder“ der Abstimmung über bestimmte Vorhaben fernbleiben konnten und auf diese Weise eine Blockade von Integrationsvorhaben durch das Veto eines oder mehrerer RGW-Mitglieder vermieden wurde. Überdies galt: Für „nicht interessierte Länder“ haben getroffene Entscheidungen keinerlei Verbindlichkeit.Das schließlich 1971 beschlossene „Komplexprogramm für die Vertiefung und Vervollkommnung der Zusammenarbeit und Entwicklung der sozialistischen ökonomischen Integration der Mitgliedsländer des RGW“ war ein weiterer Anlauf, Synergieeffekte von Kooperation besser auszuschöpfen. Es entstanden für sechs Industriezweige, den Transportsektor und das Post- und Fernmeldewesen Spezialorganisationen des RGW. Außerdem wurden Kuba (1972) und Vietnam (1978) als Mitglieder aufgenommen. Und es gab Assoziierungsabkommen mit dem Irak, mit Nicaragua, Mosambik, Angola, Äthiopien, Südjemen und Afghanistan. Eine Antwort aber auf die Existenzkrise der meisten osteuropäischen Volkswirtschaften blieb aus. So wurde der RGW notgedrungen zum Verlierer der Epochenwende und löste sich am 28. Juni 1991 auf. Die DDR war schon am 2. Oktober 1990 ausgetreten.
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