1990: Reform verpasst

Zeitgeschichte Der Verfassungsentwurf des Runden Tisches der DDR fällt Ignoranz und beschleunigter Vereinigung zum Opfer. Er hätte das Grundgesetz bereichern können
Ausgabe 28/2020

Der Literaturwissenschaftler Wolfgang Thierse, gerade als Sympathieträger der Basis zum Parteivorsitzenden der SPD-Ost gewählt, erhebt Mitte Juni 1990 auf einem Sonderparteitag im anhaltinischen Halle eine Forderung, die aufhorchen lässt. Es müsse eine Volksabstimmung über eine künftige gesamtdeutsche Verfassung geben. So war es beim Verfassen des Grundgesetzes ausgedacht, so war es für den Fall der Wiedervereinigung versprochen. Daran erinnert er. Und das kurz vor der Währungsunion ab 1. Juli 1990, mit der die Weichen unwiderruflich für eine beschleunigte Wiedervereinigung gestellt werden.

Unabhängig davon, welche Aussichten eine Verfassungsdebatte zu diesem Zeitpunkt noch hat – wer sie führen will, steht nicht mit leeren Händen da. Seit Anfang April liegt der Entwurf für eine neue Verfassung vor, erarbeitet vom Zentralen Runden Tisch der DDR. Die Präambel beginnt mit den Worten: „Ausgehend von den humanistischen Traditionen, zu welchen die besten Frauen und Männer aller Schichten unseres Volkes beigetragen haben, eingedenk der Verantwortung aller Deutschen für ihre Geschichte und deren Folgen …“ gebe man sich in der Deutschen Demokratischen Republik diese Verfassung.

Was im zweiten Teil des Textes sofort auffällt, ist eine Vorliebe der Autoren für das direktdemokratische Moment. So heißt es unter anderem in Artikel 98 des Entwurfs: „Gesetzesvorlagen zu einem Volksentscheid werden durch Volksbegehren beim Präsidenten der Republik eingebracht. … Beim Volksentscheid kann nur mit ‚ja‘ oder ‚nein‘ abgestimmt werden. Es entscheidet die Mehrheit der abgegebenen Stimmen.“ – Schön wäre es, stünde Derartiges so oder so ähnlich inzwischen im Grundgesetz.

„Die Macht lag auf der Straße, und der Runde Tisch sollte sie aufheben“, erinnert sich Klaus Wolfram, der das Neue Forum in der Arbeitsgruppe Verfassung vertrat. Bereits bei der Konstituierung des Runden Tisches am 7. Dezember 1989 hatte man sich darauf geeinigt, an einer neuen Magna Charta zu arbeiten. Im darauffolgenden Jahr sollte dann mit einem Volksentscheid über eine Annahme befunden werden.

Als das Dokument am 4. April 1990 vorliegt, sind darin Grundrechte wie das auf Verfahrensbeteiligung – besonders für Bürgerbewegungen – verankert. „Jeder Bürger hat das gleiche Recht auf politische Mitgestaltung. Die Verfassung und die Gesetze gestalten aus, wie das Recht unmittelbar oder durch frei gewählte Vertreter ausgeübt wird“, heißt es in Artikel 21. Nur ein Beispiel für Vorstellungen, die weit über das bundesdeutsche Grundgesetz hinausgingen. Die Arbeitsgruppe wollte unbedingt mit einem modernisierten Katalog der Grundrechte neue Maßstäbe setzen. Der eigentliche „Clou“ dieses konstitutionellen Entwurfs bestand freilich darin, dass nicht nur Gestaltungs- und Abwehrrechte gegenüber dem Staat formuliert wurden. Die in das Dokument einfließenden Überlegungen der Autoren galten besonders einer horizontalen Ebene des gesellschaftlichen Gefüges und vermittelten die Botschaft, Bürger sollten sich untereinander in ihren Rechten und Pflichten verbunden wissen: „Jeder schuldet jedem die Anerkennung als Gleicher“, ist im zweiten Absatz von Artikel 1 zu lesen.

Diese zweite Ebene sei das Ergebnis der Debatte zwischen Etatisten und jenen gewesen, die auch eine Verantwortung der Menschen untereinander sahen, erinnerte sich später der Rechtswissenschaftler Ulrich K. Preuß, damals Berater der Arbeitsgruppe. Man bekannte sich zum Prinzip der direkten Demokratie, indem grundsätzlich jedem die Fähigkeit zuerkannt wurde, für die Gesellschaft Verantwortung zu übernehmen.

In das Verfassungsforum des Runden Tisches hatten Parteien und Initiativen zwei oder drei Vertreter entsenden können. Für die neuen Bewegungen des Herbstes 1989 waren das häufig juristische Laien, die allerdings als DDR-Oppositionelle darin geübt waren, sich mit Gesetzestexten zu befassen. Sie hatten sich mitunter jahrelang dauernde Kleinkriege mit den DDR-Behörden geliefert und ein Verständnis für Verfassungsfragen entwickelt. Ihnen gegenüber saßen in der Regel von der SED-PDS und den einstigen SED-Blockparteien nominierte Berufsjuristen. Selbstverständlich lagen das Grundgesetz wie andere (historische) deutsche Verfassungstexte auf dem Tisch, dazu moderne Konstitutionen wie die Spaniens oder Nicaraguas. Der Artikel zur Volksgesetzgebung wiederum ließ Parallelen zur Praxis in der Schweiz erkennen.

So verschieden die beiden Lager aus DDR-Opposition und DDR-Altparteien auch sein mochten – es wurde doch ein Konsens bei den Grundrechten, der politischen Willensbildung wie dem Staatsaufbau gefunden. Gemeinsam wollte man zügig etwas vorlegen, ob als „Dokument des Umbruchs in der DDR oder schon als Grundlage für einen gesamtdeutschen verfassungsgebenden Prozess“, wie das Wolfgang Templin von der Initiative für Frieden und Menschenrechte einmal beschrieb.

Auf seiner letzten Sitzung am 12. März 1990 hatte der Zentrale Runde Tisch einstimmig beschlossen, dass die Arbeitsgruppe im April ihren Entwurf vorlegt. Der sollte in eine Verfassungsdebatte der am 18. März gewählten neuen Volkskammer wie den Diskurs über eine neue gesamtdeutsche Verfassung einfließen. Tag und Nacht wurde in der zweiten Märzhälfte an der finalen Fassung gearbeitet, so dass diese am 4. April 1990 der Volkskammer übergeben werden konnte. Dem lag ein einstimmiger Beschluss der Arbeitsgruppe zugrunde, der angesichts späterer Diskussionen über die Einführung eines bundesweiten Volksentscheids bemerkenswert ist. Denn daran beteiligt war auch die CDU, die als gesamtdeutsche Partei bis heute die direkte Demokratie auf gesamtstaatlicher Ebene blockiert. Im Verfassungsgremium des Rundes Tisches jedoch hoben die ostdeutschen Christdemokraten dafür die Hand.

Bei den so ermöglichten Abstimmungen sollte die Mehrheit entscheiden. Dabei war das Quorum für ein Volksbegehren auf 750.000 festgelegt, seinerzeit ungefähr fünf Prozent der DDR-Bevölkerung. Zugleich hatte man sich in Artikel 100 darauf geeinigt, dass Verfassungsänderungen durch die Bürger direkt bestätigt werden mussten. Als der Runde Tisch dem von den damaligen Allianz-Parteien CDU-Ost und DSU dominierten DDR-Parlament vorschlug, für den 17. Juni 1990 einen Volksentscheid über seine Verfassung anzusetzen, stieß das auf Befremden und brüske Ignoranz. Und das, obwohl allein vom Verein „Mehr Demokratie“ nicht zuletzt im Namen der Arbeitsgruppe „Neue Verfassung“ mehr als 265.000 Unterschriften an die Verfassungskommission mit dem Verlangen nach Einführung bundesweiter Volksentscheide übergeben waren.

Wenigstens hatte der Entwurf seinen Anteil daran, dass im Osten die direkte Demokratie in Landes- und Kommunalverfassungen Eingang fand. Erkennbar beeinflusst ist die Brandenburger Verfassung von den Ideen des Runden Tisches, auch die Mecklenburg-Vorpommerns, während der Wunsch nach direkter Demokratie auf gesamtstaatlicher Ebene bis heute weiter im Raum steht. Gerade für die Christdemokratie, die sich der Einführung bundesweiter Volksentscheide verweigert, könnte die Lektüre des aus dem Jahr 1990 überlieferten Verfassungsentwurfs eine inspirierende Beschäftigung sein.

Ralf-Uwe Beck ist evangelischer Theologe und Bundesvorstandssprecher von Mehr Demokratie e. V. Er lebt in Eisenach

Martin Burwitz ist Politikwissenschaftler in Berlin

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