Es geschah am 1. April 1991 in Düsseldorf: Kurz vor Mitternacht wurden Schüsse auf ein Eigenheim abgefeuert, in dessen Obergeschoss noch Licht brannte. Sie zerstörten die Fensterscheibe zum Arbeitszimmer und verletzten den sich darin aufhaltenden Detlev Rohwedder tödlich. Beim Täter handelte es sich um einen Angehörigen der Rote Armee Fraktion (RAF). Das jedenfalls war einem Bekennerschreiben der RAF zu entnehmen, das auch die Gründe für die Ermordung des mehrfach ausgezeichneten bundesdeutschen Top-managers benannte, seit August 1990 Chef der mit der Privatisierung der ostdeutschen Industrie betrauten Treuhandanstalt (THA).
Rohwedder sei „Kapitalstratege“ und „einer dieser Schreibtischtäter, die tagtäglich über Leiche
tagtäglich über Leichen gehen und im Interesse von Macht und Profit Elend und Not von Millionen Menschen planen“. Noch bevor die Medien über den mutmaßlichen Mordschützen spekulieren konnten, machte der oberste Dienstherr der Treuhandanstalt, Bundesfinanzminister Theo Waigel, bereits Vorgaben für die polizeiliche Fahndung. Es müsse in drei Richtungen gesucht werden: bei der RAF, unter ehemaligen Mitarbeitern des DDR-Staatssicherheitsdienstes und unter Mitgliedern der SED-Nachfolgepartei PDS. Allerdings fand sich keine Spur im Osten. Dagegen bestärkten manche Indizien den Verdacht auf einen Täter aus RAF-Kreisen, doch blieben die polizeilichen Nachforschungen letztlich ohne befriedigendes Ergebnis. Inwieweit entsprachen die Haltungen und Handlungen des Ermordeten tatsächlich dem Bild, das die RAF von ihm gezeichnet hat?1979 war der promovierte Jurist und Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium in der Regierungszeit des Kanzlers Helmut Schmidt aus dem Staatsdienst ausgeschieden und als Vorstandsmitglied in die Hoesch AG eingetreten. Das schwerindustrielle Unternehmen, dessen Vorstandsvorsitzender Rohwedder ein Jahr später wurde, befand sich in akuten Schwierigkeiten. Die Rohwedder nachgesagten Sanierer-Qualitäten waren gefragt. Nach zehn Jahren hatte der Konzern die Gewinnzone wieder erreicht und war gerettet, die Belegschaft freilich um ein Drittel geschrumpft. Dem „knallharten Sanierer“ traute Finanzminister Waigel zu, auch die „maroden DDR-Betriebe“ für die Marktwirtschaft zu ertüchtigen.TotalprivatisierungRohwedder folgte Waigels Auflage, schnelle Privatisierungserfolge zu erzielen. Allein im zweiten Halbjahr 1990 wurden 1.422 ehemals volkseigene Unternehmen an private, in der Regel bundesdeutsche Firmen verkauft. Um leichter privatisieren zu können, waren die Belegschaften nicht selten halbiert oder noch stärker reduziert worden. Schon Ende März 1990 hatte sich die Zahl der Beschäftigten in der Noch-DDR-Industrie, verglichen mit den Durchschnittswerten von 1989, um 975.000 verringert.Das heißt, bei der auf Totalprivatisierung zielenden Politik des zuständigen Ministers war Rohwedder nicht auf eine Gegenposition bedacht. In einem von ihm kurz vor dem Attentat, am 27. März 1991 verfassten Brief „an alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Treuhandanstalt“, den er vor den Osterfeiertagen mit der Familie in Düsseldorf geschrieben hatte (und der heute als eine Art Testament gilt), bekannte der Treuhandchef: Auch weiterhin genieße „die Überführung von Unternehmen in privates Eigentum“ Vorrang. Im Brief findet sich der Satz: „Privatisierung ist die wirksamste Sanierung.“ Diese Sentenz nannte Wolfgang Seibel, Verwaltungswissenschaftler in Konstanz, Mitautor der 1993 erschienenen ersten Treuhandgeschichte und gut zehn Jahre später Verfasser der Treuhandanalyse Verwaltete Illusionen, ein „unmissverständliches programmatisches Signal“. Seibel vertrat die Auffassung, dass der „Osterbrief“ und die Formel von der Privatisierung als wirksamste Form der Sanierung „fortan ein Credo bildeten, das die extreme Verengung der Handlungsspielräume der Treuhandanstalt mit Hilfe einer geschickt gewählten rhetorischen Formel ins Positive wendete“.Ungeachtet dessen erfreut sich Rohwedders Treuhand-Management bis heute im Gedächtnis von Ökonomen und Unternehmern – besonders denen mit ostdeutscher Vita – eines guten Rufs. An den hohen persönlichen Arbeitseinsatz des Treuhandpräsidenten erinnern sich nicht zuletzt seine damaligen direkten Mitarbeiter. Er war alles andere als ein „DiMiDo-Mann“ (ostdeutsche Bezeichnung für Westdeutsche in Führungspositionen in den neuen Bundesländern, die man nur von Dienstag bis Donnerstag an ihrem Schreibtisch antreffen konnte).Verklärte ErinnerungNicht nur Rohwedders Arbeitswut beeindruckte, auch sein Talent, arbeitsfähige Strukturen zu schaffen. Dazu kam sein Bemühen, ostdeutschen Topmanagern auf Augenhöhe zu begegnen. Als Karl Döring, langjähriger Generaldirektor des Eisenhüttenkombinats Ost (EKO) und zwischen März und September 1990 Vorsitzender des Industrieverbandes Unternehmensforum DDR, gemeinsam mit anderen ostdeutschen Fachkräften im Herbst 1990 per Ministerdekret aus dem Verwaltungsrat der THA entlassen wurde, schrieb Rohwedder an den Geschassten: „Sie wissen, dass es mir nicht recht war, dass Sie und Ihre Kollegen aus dem Verwaltungsrat ausgeschieden sind. Ich glaube, es wäre unserer Arbeit gut bekommen, wenn wir Ihren Rat und Ihre Erfahrungen weiter hätten nutzen können.“ Kein Wunder, wenn der einstige EKO-Chef in seinen 2015 erschienenen Memoiren EKO – Stahl für die DDR den Treuhandvorsitzenden mit sehr kollegialen Worten bedachte.Das Urteil des Zeithistorikers über Detlev Rohwedder muss auch berücksichtigen, dass er zwar für die Mitarbeit Ostdeutscher im Verwaltungsrat plädierte, aber die ursprünglich vorgesehene Organisierung der THA in Form von industriezweigbezogenen Aktiengesellschaften verhinderte. Das galt auch für die nach dem AG-Gesetz der Bundesrepublik geforderte Mitarbeit ostdeutscher Arbeitnehmer im Aufsichtsrat. Die THA wurde allein auf die Zentrale in Berlin – erst am Alexanderplatz, später im ehemaligen „Haus der Ministerien“ der DDR-Regierung in der Leipziger Straße – ausgerichtet. Als Rohwedder dort Chef wurde, lag auf seinem Schreibtisch ein von den Betriebsräten und der Betriebsleitung des Thüringer Büromaschinenwerkes sowie der hessischen IG Metall entworfenes Belegschaftsbeteiligungsmodell. Danach sollten die Arbeiter und Angestellten des Betriebes als Eigentümer von 75 Prozent der Aktien in den Sanierungsprozess aktiv einbezogen werden. Rohwedder nahm diesen Alternativvorschlag gar nicht erst zur Kenntnis, geschweige denn war er bereit, darüber zu diskutierenDie dennoch positive ostdeutsche Erinnerung an Rohwedder erklärt sich auch aus dem Vergleich mit Stil und Praktiken seiner Nachfolgerin Birgit Breuel an der THA-Spitze. Die Unterschiede zwischen beiden waren schon vom politischen Bekenntnis her bemerkenswert. Rohwedder, SPD-Mitglied, hatte seine Sporen im Wirtschaftsministerium als Staatssekretär des Keynesianers und überzeugten Industriepolitikers Karl Schiller (SPD) verdient. Die Bankierstochter Birgit Breuel war CDU-Mitglied und überzeugte Anhängerin einer neoliberalen Wirtschaftsdoktrin. Sie machte sich aus den im „Osterbrief“ Rohwedders enthaltenen Regeln für die Leitung der THA nur den Satz zu eigen: „Privatisierung ist die beste Sanierung.“ Das bereits unter Rohwedder mit 1.422 verkauften Betrieben erreichte Privatisierungstempo wurde noch einmal gesteigert und erreichte noch 1994, im letzten Treuhandjahr, mit 3.568 Fällen beachtliche Dimensioen. Karl Döring spricht in diesem Zusammenhang vom „Privatisierungswahn der Treuhand“. Die Zahl der verlorenen Arbeitsplätze stieg unter Breuel steil an. Von ehemals vier Millionen Arbeitsplätzen in der DDR-Industrie blieben letztlich nur 1,3 Millionen übrig. Mit Blick auf die sozialen Konsequenzen der Treuhandprivatisierung war Rohwedder für Ostdeutschland gewiss das kleinere Übel.