Zeitgeschichte Präsident Jelzin und Kanzler Kohl sind bemüht, Russland zu verwestlichen. Ihr Plan scheitert und sorgt für jene ökonomischen Zustände, die dem Land noch heute zusetzen
Was fesselt da Boris Jelzins Aufmerksamkeit stärker als Helmut Kohl?
Foto: Itar-Tass/Imago
Boris Jelzin, nach dem Abgang der Sowjetunion Ende 1991 russischer Staatschef, überraschte den Westen im Februar 1992 mit der Verlautbarung, eines seiner maßgeblichen außenpolitischen Ziele sei die Aufnahme seines Landes in die „zivilisierte Staatengemeinschaft“, was sich jenseits von ethisch-moralischen Standards ausdrücklich auf die Ökonomie bezog. Damit distanzierte sich der Ex-Kommunist Jelzin grundsätzlich von der Politik seines sowjetischen Vorgängers Michail Gorbatschow. Der hatte mit der Perestroika das sozialistische System reformieren, nicht abschaffen wollen.
Jelzin konnte sich mit seinem Ansinnen auf Zuspruch des Volkes stützen. Das hatte sich von Gorbatschows Reformen, die 1985 unter der Losung Uskorenije (Beschleunigung) eing
eschleunigung) eingeleitet wurden, eine nicht länger stagnierende Wirtschaft sowie einen steigenden Lebensstandard erhofft. Auf beides wartete man vergeblich. Erwies sich die sowjetische Planwirtschaft als irreparabel? Jelzin hatte noch als Kandidat des KPdSU-Politbüros die Perestroika als halbherzig kritisiert und eine radikalere Modernisierung der Wirtschaft verlangt. Als Präsident orientierte er sich nun an Wirtschaftswissenschaftlern wie Jegor Gaidar und Anatoli Tschubajs, die schon in der Restlaufzeit der UdSSR aus ökonomischen Klubs heraus gegen die Perestroika opponiert und gefordert hatten, die Marktwirtschaft einzuführen und auf „eine breite Schicht von Privateigentümern“ bedacht zu sein. Die Botschaft, wir brauchen einen jähen Systemwechsel. Als sich Jelzin dieses Ziels mit präsidialer Autorität annahm, reklamierte er dafür die „maximale Unterstützung des Auslands“, das Anteil nehmen sollte am beabsichtigten „inneren Wandel“.In Westeuropa und in den USA zeigte man prompt Interesse und begriff, dass die angebotene ökonomische Öffnung Russlands den Zugang zu einem der größten Binnenmärkte weltweit verhieß. Es lockten über 140 Millionen potenzielle Konsumenten. Was sprach dagegen, Russland einen Parforceritt in Richtung Weltmarkt zu verschaffen? Weshalb zunächst einmal viel Coaching vonnöten war. Zu den prominenten aus dem Westen nach Moskau reisenden Beratern der unter Jelzin agierenden Radikalreformer Gaidar und Tschubais zählten der schwedische Ökonom Anders Aslund und der US-Wirtschaftsprofessor Jeffrey Sachs, beide Protagonisten des Marktliberalismus. Sachs berichtete später über seine erste Begegnung mit Gaidar: „Er bat uns, ein Strategiepapier vorzubereiten, das man Präsident Jelzin unterbreiten könne. Ich war als Sprecher der Reformergruppe für den Entwurf verantwortlich und hatte so die Gelegenheit, zweimal auf Jelzin zu treffen.“ Man habe sich verständigt, die beabsichtigten Wirtschaftsreformen in kürzester Zeit und mit aller Konsequenz durchzuziehen. Im Fachjargon der westlichen Ökonomen firmierte das Verfahren als „Schocktherapie“.Darüber hinaus fehlte es in dieser Zeit nicht an Angeboten zu finanzieller Hilfe und prompten Kreditzusagen westlicher Staaten. Auf dem Weltwirtschaftsgipfel in München Anfang Juli 1992 einigten sich die sieben großen Industriestaaten (G7) darauf, den „postkommunistischen Reformstaaten Hilfe zur Selbsthilfe zu gewähren“. Man beschloss ein Zehn-Punkte-Programm zur Unterstützung Russlands und der anderen aus der Sowjetunion hervorgegangenen Länder der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS). Kredite in Höhe von 24 Milliarden Dollar sollten den abstürzenden Rubel auffangen und der Umschuldung dienen. Russland wurde es ermöglicht, dem Internationalen Währungsfonds, der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung sowie der Weltbank beizutreten. Es gab nur eine Bedingung, von deren Erfüllung die Auszahlung der Kredite abhing: Keine Abstriche an den versprochenen marktliberalen Reformen!Die Bundesrepublik spielte auf jenem G7-Treffen eine besondere Rolle. Kanzler Helmut Kohl war nicht nur Gastgeber, er setzte mehr als andere Konferenzteilnehmer im Blick auf Russland und die anderen Ex-Sowjetrepubliken auf das Prinzip „Hilfe zur Selbsthilfe“ und exponierte sich bei der finanziellen Alimentierung – Deutschland übernahm zwei Drittel aller Hilfen an die GUS. Deutsche Unternehmen, das wusste Kohl, würden von der wirtschaftlichen Liberalisierung Russlands am meisten profitieren. Schon zu sowjetischen Zeiten hatte sie sich sehr viel mehr als Firmen aus anderen G7-Staaten im Osthandel engagiert. Seit der Wiedervereinigung verfügten sie zudem über die traditionellen Ostmärkte, auf denen die DDR einst Handel trieb.So schien vor einem Vierteljahrhundert – dank dem Willen führender Politiker Russlands, radikale Reformen durchzusetzen, aber ebenso durch die geistigen und finanziellen Anleihen des Westens, die Transformation von der sozialistischen Plan- zur kapitalistischen Marktwirtschaft auf bestem Wege zu sein. Man werde schon bald die Ernte in die Scheuer fahren, ließen sich Aslund und Sachs mit Prophezeiungen vernehmen.Doch es kam anders, ganz anders. Die Schocktherapie bescherte Russland 1992 nicht, wie das Gaidar und Tschubais erwartet hatten, einen Aufstieg zu ungestümer Prosperität, sondern vielmehr einen Absturz, der die Schrumpfungsraten der Perestroika-Jahre noch übertraf. Im Schnitt ging zwischen 1989 und 1995 Russlands Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Jahr um jeweils gut zehn Prozent zurück. Im folgenden Jahrfünft verzeichnete die nationale Ökonomie nur im Jahr 1997 einen messbaren Zuwachs. Noch gravierender fielen die Sozialdaten der 90er Jahre aus, da die Zahl der registrierten Arbeitslosen bis 1998 auf fast zehn Millionen stieg, ganz zu schweigen von einer galoppierende Inflation, die gewährte Lohnerhöhungen umgehend verzehrte. 1995, im ungünstigsten Jahr, sanken die Reallöhne um 26,5 Prozent, im günstigsten Jahr, 1997, stiegen sie um 4,7 Prozent. Die Variante, durch staatliche Intervention gegenzusteuern entfiel, weil die Staatsmacht scheinbar unaufhaltsam zerfiel.Angesicht dieses Krisentrends konnte es nicht verwundern, dass die Akzeptanz des einstigen Volkshelden Jelzin ähnlichen Schaden nahm wie der schwindsüchtige Rubel. Unbehagen und Frustration der Bevölkerung ließen selbst bei manch aufstrebendem Oligarchen – zumeist handelte es sich um frühere Amtsträger aus der einstigen sowjetischen Nomenklatura, die sich mit der 1992 forcierten Privatisierung ein Vermögen geangelt hatten – mulmige Gefühle aufkommen. Ende 1999 gab Boris Jelzin, ohnehin gesundheitlich schwer angeschlagen, die Macht an Wladimir Putin ab, der erst im März 1998 stellvertretender Chef der Präsidialverwaltung geworden war. Unmittelbar danach wurde von Regierungsseite die bisherige Wirtschaftspolitik offiziell kritisiert und als Ursache des Abstiegs identifiziert. Es kam die Losung von der „Reformierung der Reformen“ auf, eine „Fortsetzung der marktwirtschaftlichen Umgestaltung“ sollte mit einer „Festigung der regulierenden Rolle des Staates“ korrespondieren.Kanzler Kohl, aber auch andere westliche Regierungschefs hatten den Wirkungen der Schocktherapie, zu der sie Russland geraten und an deren Einhaltung sie ihre Hilfszusagen gekoppelt hatten, untätig zugesehen. Entsprechend groß war in Russland die Enttäuschung über den Westen. Seine ökonomischen wie politischen Wertvorstellungen wurden angezweifelt. Die von Putin ab 1999 zunächst als Ministerpräsident und dann als Präsident verfolgte Distanzierung vom Westen fand Anklang bei der russischen Elite wie einem Großteil der Bevölkerung. Der Sinneswandel vollzog sich, als es Putin mit seiner neuen ökonomischen Politik gelang, den Neoliberalismus durch einen das Marktversagen kompensierenden Keynesianismus zu ersetzen, ab 2000 Russlands Wirtschaft zu stabilisieren und Jahre des sozialen Abstiegs zu beenden. Wenn heute die Entfremdung zwischen Russland und „Europa“ beklagt wird, dann sollte die Schuld daran nicht allein der Großmacht im Osten angelastet werden.
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