Zeitgeschichte Schon einmal protestierten Tausende in Europa gegen den Geheimdienst NSA. Damals hätte man den Abhörwahn tatsächlich stoppen können, belegen Papiere aus dem EU-Parlament
Ermüdend, weil am Ende ja doch nichts passiert: Der EU-Abgeordnete Roberto Felice Bigliardo protestiert 2000 auf einer Parlamentssitzung gegen Echolon
Foto: Gerard Cerles/AFP/Getty Images
Der 21. Oktober 1999 sollte ein Ausrufezeichen gegen die Massenüberwachung durch die Geheimdienste werden. Heute ist nur noch wenig über diesen Tag bekannt. Viele Informationen sind im Netz vergraben und selbst ein kryptischer Teil der digitalen Historie geworden. Der Plan für diesen Tag aber ist noch heute nachzulesen: Das Überwachungsprogramm der NSA mit Namen Echelon sollte zum Absturz gebracht werden. Zu diesem Zweck rief eine Handvoll Aktivisten den Jam-Echelon-Day ins Leben („jam“ bedeutet so viel wie verstopfen). Menschen auf der ganzen Welt sollten das Netz mit „verdächtigen“ Nachrichten überfluten. Die Beteiligten versahen ihre E-Mails mit Stichworten, von denen man glaubte, dass sie das Abhörprogramm in Gang setzten ̵
999 sollte ein Ausrufezeichen gegen die Massenüberwachung durch die Geheimdienste werden. Heute ist nur noch wenig über diesen Tag bekannt. Viele Informationen sind im Netz vergraben und selbst ein kryptischer Teil der digitalen Historie geworden. Der Plan für diesen Tag aber ist noch heute nachzulesen: Das Überwachungsprogramm der NSA mit Namen Echelon sollte zum Absturz gebracht werden. Zu diesem Zweck rief eine Handvoll Aktivisten den Jam-Echelon-Day ins Leben („jam“ bedeutet so viel wie verstopfen). Menschen auf der ganzen Welt sollten das Netz mit „verdächtigen“ Nachrichten überfluten. Die Beteiligten versahen ihre E-Mails mit Stichworten, von denen man glaubte, dass sie das Abhörprogramm in Gang setzten XX-replace-me-XXX8211; und schließlich überforderten.Um es vorwegzunehmen: Zusammengebrochen ist natürlich gar nichts. Ohnehin war die Zahl der Beteiligten an diesem 21. Oktober nur sehr schwer zu messen. Die Organisatoren sprachen damals von einigen tausend Teilnehmern. Eines aber hat der Jam-Echelon-Day erreicht. Es konnte darauf aufmerksam gemacht werden, dass ein solches Programm überhaupt existiert. Und zumindest in Europa hat diese Aufmerksamkeit wenig später große Mühlen in Bewegung gesetzt.Montag, der 10. September 2001. Es ist der Tag vor den Anschlägen auf das World Trade Center in New York. In Brüssel tagt ein Ausschuss des EU-Parlaments, dessen Auftrag es ist, die Aktivitäten eines Spionage-Programms der USA, Großbritanniens und anderer Staaten zu untersuchen. Der Name des Programms: Echelon. Ein Papier aus der Generaldirektion Interne Politikbereiche in der EU berichtet vom erstaunlichen Ergebnis dieser Sitzung: „Der Ausschuss empfahl dem Europäischen Parlament, dass die Bürger der EU-Mitgliedsstaaten bei ihrem Kommunikationsverkehr auf Verschlüsselung zurückgreifen sollten, um ihre Privatsphäre zu schützen.“Im Schlussdokument des Parlamentsausschusses selbst heißt es dazu: „E-Mails können und sollen (…) von jedermann verschlüsselt werden. Die Verschlüsselung ist sicher und relativ problemlos, im Internet finden sich bereits benutzerfreundliche Systeme, wie z.B. PGP/GnuPG, die Privatpersonen sogar gratis zur Verfügung gestellt werden. Es fehlt aber bedauerlicherweise noch an der notwendigen Verbreitung.“Verschlüsselung für alle Bürger, und das vor fast 15 Jahren? Was ist aus dieser Erkenntnis und dem Willen, sich zur Wehr zu setzen, geworden? Warum hat es erst eines Edward Snowden bedurft, um Taten folgen zu lassen? Besagter EU-Ausschuss hat damals radikale Schritte gefordert. Unter anderem die Neuorientierung der Handelsbeziehungen mit den USA, ja sogar die Aufkündigung einiger Handelsabkommen. Nach 9/11 jedoch wurden diese Bestrebungen im Keim erstickt. „Die Menschen in Deutschland stehen in dieser schweren Stunde fest an der Seite der Vereinigten Staaten von Amerika“, sagte Bundeskanzler Gerhard Schröder am 12. September 2001 im Bundestag. Ab sofort galt „uneingeschränkte Solidarität“.Tags zuvor war noch die politische Entschlossenheit zu spüren, die massenhafte Überwachung nicht länger hinzunehmen. Frankreich und Belgien setzten eigene Untersuchungsausschüsse ein, die zu ähnlichen Ergebnissen kamen. Die europäische Politik hätte die Entwicklung der Geheimdienste damals nachhaltig beeinflussen, vielleicht sogar einschränken können. Die „uneingeschränkte Solidarität“ mit den USA nach 9/11 aber war der Todesstoß für die geheimdienstliche Selbstbestimmung eines ganzen Kontinents.Dabei begann die Geschichte von Echelon nicht erst im Jahr 1999. Genauso wie die Aufklärung des Skandals wesentlich weiter zurückreicht. Schon Ende der 80er Jahre hatte der britische Journalist Duncan Campbell die Existenz des Spionagenetzwerks enthüllt. Es handelte sich bei Echelon um ein satellitengestütztes Programm zur Überwachung von Telefonaten, E-Mails, Faxen und sonstiger Kommunikation – aufbauend auf einem Abkommen zwischen den sogenannten Five-Eyes-Staaten (USA, Großbritannien, Kanada, Australien, Neuseeland), die seit Ende des Zweiten Weltkriegs eng kooperieren.Campbells Veröffentlichung sorgte zunächst nicht für den erwarteten Aufschrei. Erst als der neuseeländische Reporter Nicky Hager 1996 die Rolle seines Landes im Überwachungssystem untersuchte, erreichte das Thema eine breitere Öffentlichkeit. Nicht zuletzt das EU-Parlament wurde darauf aufmerksam und veranlasste eine Untersuchung. Im Jahr 2001 bestätigte dessen Bericht schließlich: „An der Existenz eines weltweit arbeitenden Kommunikationsabhörsystems, das durch anteiliges Zusammenwirken der USA, des Vereinigten Königreichs, Kanadas, Australiens und Neuseelands im Rahmen des UKUSA-Abkommens funktioniert, kann nicht mehr gezweifelt werden.“ Weiter heißt es, das Programm Echelon habe „die Fähigkeit zur gleichsam totalen Überwachung“. Auch in den Snowden-Dokumenten sind Hinweise auf Echelon aufgetaucht, wie die Enthüllungsplattform The Intercept berichtet. Doch alles in allem war Echelon – so viel ist heute klar – ein fader Vorgeschmack auf das, was kommen sollte. Immerhin ging es bei jenem Programm „nur“ um die satellitengestützte Kommunikation. Im Falle internationaler Telefonate betraf das gerade einmal ein Prozent.Nach dem 11. September 2001 wuchsen die Befugnisse der Geheimdienste in den USA in einem nie dagewesenen Umfang. Die nationale Sicherheit wurde zum Grundpfeiler amerikanischer (und damit auch europäischer) Politik. Den Weg dorthin ebneten Programme wie Echelon. Seit 2001 hat sich der Etat der US-Dienste verdoppelt. In nur drei Tagen wurde der Patriot Act durch den Kongress gebracht. Allerdings drangen viele Details des gigantischen Überwachungsapparats erst durch Edward Snowden an die Öffentlichkeit. Duncan Campbell, der Entdecker von Echelon, würdigt das: „Dank Snowden und der mutigen Menschen vor ihm ist die Notwendigkeit öffentlicher Verantwortung und Kontrolle nicht mehr angreifbar.“Öffentliche Verantwortung legitimiert politische Macht, zumindest in einer Demokratie. Sie ist das Fundament der Gesellschaft wie öffentliche Empörung die Waffe der Bürger, um diese Verantwortung einzufordern. Massenüberwachung verhindert beides. Geheimdienste entziehen sich jeder öffentlichen Verantwortlichkeit. Das liegt in ihrer Natur. Die Menschen müssen sie aktiv einfordern.Man bräuchte wieder einen Jam-Prism-Day, doch das Monster heute verstopfen zu wollen, wäre aussichtslos. Im Jahr 2001 war die Idee, ein Spionageprogamm abstürzen zu lassen, noch nachvollziehbar. Heute sind die Dienste zu leistungsstark. Too big to fail, wenn man so will. Andererseits sind politische Aktionen im Netz inzwischen umfassender, als es mit dem Jam-Echelon-Day der Fall war. Edward Snowden hat der Bewegung nicht nur einen neuen Helden, sondern auch einen zuvor nicht gekannten Zulauf beschert, ohne dass die kritische Masse damit erreicht wäre.Demonstrationen sind endlich aus dem Netz auf die Straße gewandert. Zur Demo-Reihe „Freiheit statt Angst“, die das ganze Jahr über durch Deutschland tourt, kommen Tausende. Auf der ganzen Welt gibt es Cryptopartys, auf denen die Leute lernen, wie sie ihre Mails verschlüsseln können. Aber es geht nur mühsam voran, weil der Punkt verloren ging, an dem zumindest die Politiker im EU-Ausschuss vor mehr als zehn Jahren schon einmal waren. Bei seinem Auftritt am 12. September 2001 sagte Gerhard Schröder: „Freiheit und Demokratie, die Werte des friedlichen Zusammenlebens der Menschen und der Völker, werden diese Prüfung bestehen.“ Europa hat diese Prüfung im Jahr 2001 nicht bestanden. Ein Versagen, das sich bis heute auswirkt.Placeholder authorbio-1
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