Als Mitglied der "Gruppe Ulbricht" hatte Wolfgang Leonhard im Mai 1945 in Berlin Antifaschisten für den Aufbau einer neuen Verwaltung gesucht und von Walter Ulbricht eine Liste mit Namen von Leuten erhalten, die in Frage kamen. An erster Stelle stand der Name von Wolfgang Harich, damals noch keine 22 Jahre alt, der allerdings an einer Verwaltungsfunktion kein Interesse zeigte. Er erklärte sich aber bereit, auf kulturellem Gebiet, in der Presse oder bei Studentenorganisationen mitzuwirken. Sein Wunsch sollte bald in Erfüllung gehen: Am 6. Juni 1945 wurde er Sekretär von Paul Wegener, des Präsidenten der "Kammer der Kunstschaffenden". Und am 3. Juli 1945 sprach Wolfgang Harich auf der Gründungsversammlung des "Kulturbundes" als Vertreter der studentischen Jugend
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Presse als Geistiges Genussmittel Wie der "Sonntag", ein Vorgänger des "Freitag", vor 50 Jahren beinahe Konkurrenz bekommen hätte - Der Philosoph Wolfgang Harich und das Projekt der DDR-Wochenzeitung "Die Republik"
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Jugend. Seine Pressekarriere startete wenig später im französisch lizensierten Kurier, dessen Kulturteil ein vielfältiges Betätigungsfeld bot. Harich schrieb Kritiken zu Hörspielen, Filmen, Büchern und Theaterinszenierungen, er verfasste Leitartikel sowie Porträts und unter dem Pseudonym "Hipponax" gelegentlich Satiren. Gleich mit seinen ersten publizistischen Arbeiten im Sommer 1945 hatte sich Wolfgang Harich für einen sachlichen Umgang mit Gustaf Gründgens, Knut Hamsun und Friedrich Nietzsche eingesetzt. Obwohl Gründgens mit den Nazis kollaboriert habe, sei er maßgeblich an der Rettung von Ernst Busch beteiligt gewesen, schrieb er. Zu Nietzsche hieß es, wer ihn verneine, sei ein prüder Spießer - dagegen war er vollends unversöhnlich gegenüber Ernst Jünger, den "literarischen Star des deutschen Militarismus".Weder "Brücke" noch "Weltbühne"Doch feuilletonistische Brotarbeit allein befriedigte Harich nicht. Gemeinsam mit Friedrich Luft plante er 1947 die Gründung der Zeitschrift Die Brücke, für die bei den Engländern eine Lizenz beantragt wurde. Das Blatt sollte dem Konzept eines "Dritten Weges" folgen, deshalb stellten sich dem Projekt zugleich die Vertreter des ersten und des zweiten Weges entgegen. Als aus Der Brücke nichts wurde, bemühte sich Harich um die Wiederbelebung der Weltbühne und beteiligte sich regelmäßig an den Beratungen von Maud von Ossietzky und Hans Leonard. In diesem Trio war Harich derjenige, der den kulturellen Zeitgeist am besten repräsentierte, schließlich war er der "verwöhnte, in Berlin-Mitte, in Zehlendorf und Karlshorst gleichermaßen erfolgsgewohnte Salon-Intellektuelle" (Wolfgang Schivelbusch). Harich stand kurz davor, sich als zentrale Person in der Weltbühne zu etablieren. Dies misslang schließlich, weil er aus Anlass der Parteifusion von KPD und SPD in einem umfangreichen Brief seine Vorstellungen von "Weltbühnen-Unabhängigkeit" übermittelt und dabei an eine Synthese von Bolschewismus und bürgerlich-liberaler Demokratie gedacht hatte. Fehler von KPD und SPD in der Vergangenheit sollten gegeißelt werden. Scharfe Hiebe wollte Harich an Funktionäre beider Seiten austeilen. Die Redaktion dürfe von keiner Seite Befehle akzeptieren, schrieb er. Es lässt sich vorstellen, welches Entsetzen diese Auffassungen sowohl im SED-Zentralsekretariat als auch in der Sowjetischen Militäradministration (SMAD) ausgelöst haben. So blieb Harich der Weltbühne zwar als Autor erhalten, von der Redaktion jedoch für immer ausgeschlossen, obwohl er bei der SMAD über etliche Gönner verfügte. Diesen kam im Juli/August 1946 ein Konflikt mit der Zeitung Kurier entgegen. Der wollte Harichs Rezension von Wilhelm Röpkes Die deutsche Frage nicht drucken, woraufhin die SMAD nicht nur einen Abdruck in ihrer Täglichen Rundschau, sondern auch die dortige Stelle eines ersten Theaterkritikers anbot. Harich sah keinen anderen Ausweg und nahm an, obwohl er wusste, dass die Tägliche Rundschau journalistisch schlechter war als der Kurier.Rudolf Pechel, den Harich in besagter Besprechung attackiert hatte, antwortete darauf, dieser Autor sei "ein Intellekt auf zwei Beinen" und "genialisches Wunderkind", das zu gelegentlich groben Taktlosigkeiten des Herzens neige. In der Tat schrieb Harich temperamentvoll und scharf, er liebte es, im intellektuellen Berlin ständig im Gespräch zu bleiben und auch einmal für einen Skandal zu sorgen. Zeitgenossen erinnern sich der Kritik, die Harich am 11. November 1946 in der Rundschau zur Aufführung des Stücks Eine Familie im Deutschen Theater veröffentlichte. Er hatte das Werk als "geschmacklosen Schmarren" verrissen. Die Darstellerin Käthe Dorsch ohrfeigte ihn dafür am 15. November im Künstlerclub Die Möwe. Eine Schelle, die durch die Presse bis in entfernteste Länder hallte - Harich genoss die Szene als Ereignis der Saison.Weder Fisch noch FleischAber der Philosoph und Essayist schrieb nicht nur in Zeitungen, er begann auch frühzeitig, gegen den Profilverlust der östlichen Presselandschaft anzukämpfen. Den DDR-Zeitungen warf er vor, "weder Fisch noch Fleisch" zu sein. Mitte September 1953 - Harich lehrte inzwischen als Professor für Philosophie an der Humboldt-Universität und arbeitete als stellvertretender Cheflektor am Aufbau Verlag - legte er dem "Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands" ein Dokument mit dem Titel "Vorschläge zur Verbesserung der Presse in der DDR" vor. Das eng beschriebene, elf Seiten umfassende Papier gliederte sich in die Abschnitte: "Hauptsächliche Mängel der Presse" und "Konkrete Vorschläge".Harichs Kritik traf die entscheidenden Schwachpunkte. Die Presse beachte viel zu wenig, dass die Bevölkerung nicht homogen, sondern in sozialer und geistiger Hinsicht außerordentlich differenziert sei. Auch ignoriere sie weitgehend, dass man Zeitungen als ein geistiges Genussmittel betrachten könne: "Unsere Presse ermüdet den Leser durch ein Übermaß an politischen Appellen (statt Nachrichten plus Analysen), durch eine allzu große Häufung von Superlativen und Begeisterungs-Vokabeln sowie dadurch, dass mit inhaltsschweren Ausdrücken wie: Wende der deutschen Geschichte, Schicksalsstunde der Nation, Es geht um Leben und Tod unseres Volkes usw. allzu freigebig umgegangen wird."In dem sehr detaillierten "Maßnahme-Teil" schlug Harich zunächst unter anderem die Einstellung der Berliner Zeitung und der Wochenzeitung Sonntag vor, um sie durch eine populäre Morgenzeitung zu ersetzen. Am 10. März 1954 befasste sich der Präsidialrat des Kulturbundes dann aber mit der Herausgabe einer neuen Wochenzeitung, die den Titel Die Republik tragen und Harichs Vorstellungen umsetzen sollte. Die Planungen waren soweit fortgeschritten, dass schon ab 1. Juni der Wechsel vom Sonntag zur Republik vorgesehen war. Für die neue Zeitung sollten ständige Korrespondenten aus Moskau, Prag, Warschau, Budapest, Rom, Paris und London berichten. In der Bundesrepublik Deutschland war an Büros in Düsseldorf/Bonn, München und Hamburg gedacht.Dann allerdings ließ das Plazet "von oben" auf sich warten. Erst mit den Erschütterungen, die der XX. Parteitag der KPdSU auslöste, schien sich die Lage zu ändern. Horst Sindermann, der im ZK der SED zuständige Abteilungsleiter, empfing am 13. Oktober 1956 Heinz Zöger, den Chefredakteur des Sonntag, dessen Stellvertreter Gustav Just sowie Kulturbundsekretär Karl-Heinz Schulmeister, um über die nun ab 1. Januar 1957 geplante Wochenzeitung Die Republik zu reden. Das Blatt sollte im Berliner Verlag erscheinen und 16 Seiten im rheinischen Format umfassen. Neben einem starken außenpolitischen Teil sollten die politische und wirtschaftliche Entwicklung der DDR und deren geistige Probleme behandelt werden. Außerdem waren auf zwei bis drei Seiten Kritiken über Rundfunk-, Fernseh- und Theaterprogramme vorgesehen. Die Gesprächsteilnehmer vereinbarten im Unterschied zu vorangegangenen Überlegungen: Wenn Die Republik kommt, muss der Sonntag nicht gehen. Im Gegenteil: Letzterer wird um vier Seiten erweitert und in einem größeren Format erscheinen.Weder acht noch neunHintergrund für diese Entscheidung war nicht zuletzt das politische Tauwetter nach dem XX. KPdSU-Parteitag. Wolfgang Harich hatte versucht, dessen Konsequenzen vor allem im Sonntag zu diskutieren - die Zeitung schien auf dem Wege zu einem Diskussionsforum für die intellektuelle Opposition der DDR zu sein. Im Sommer 1956 hatte er der Redaktion zwei Artikel angeboten, die Chefredakteur Zöger großartig fand, jedoch nicht publizierte, da er fürchtete, der Sonntag könnte als "Ansammlung von Parteifeinden" angesehen werden und nicht überleben. Harich wurde in dieser Zeit Zeuge von Gesprächen zwischen Just und Zöger, bei denen Just darauf drang, einmal "richtig loszulegen", während Zöger immer wieder taktische Bedenken geltend machte. Grundsätzlich sei er mit Harich und Just ganz einer Meinung, aber, so wandte er ein: "Wir können nicht so, wie wir wollen."Am 28. Oktober 1956 erschien dann im Sonntag ohne Nennung des Autors die Glosse "Aktuelles Einmaleins", die beschrieb, wie eine oberste Instanz falsches Multiplizieren per Verordnung zu erzwingen versuchte. Es hieß da, dass in der Schule von Schilda den Kindern viele Jahre lang beigebracht wurde: 2 x 2 = 9Eines Tages sei das herausgekommen, und der Lehrkörper trat zu einer außerordentlichen Konferenz zusammen, auf der hin und her beraten wurde, wie dem peinlichen Missstand abzuhelfen sei. Was vor allem vermieden werden musste, sei eine Gefährdung der Autorität des erprobten und unentbehrlichen Rechenlehrers. Auch sollte dem Fassungsvermögen der Schüler nicht zu viel auf einmal zugemutet werden. Aufgrund ihrer reichen Erfahrungen hätten die Kollegen dem Rechenlehrer geraten, die Schüler nicht auf einen Schlag mit der ganzen Wahrheit zu konfrontieren. Besser sei, nach und nach damit herauszurücken. Der Auftrag für den Rechenlehrer lautete, zunächst erst einmal richtig zu stellen, dass 2 x 2 nicht wie bisher 9 sei, sondern 8. Doch ging der Plan, sich allmählich der Wahrheit zu nähern, nicht auf, weil die ungezogenen Kinder voreilig handelten. Sie hätten bereits heimlich in der Pause die Toilettenwände vollgekritzelt mit der Gleichung: 2 x 2 = 4Die Anekdote hatten polnische Schriftsteller erzählt. Wolfgang Harich fand sie so gut, dass er sie dem Sonntag nicht vorenthalten wollte. Die eigentliche Quelle dürfte, wie Gerhard Zwerenz meint, George Orwell gewesen sein, der in seinem Roman 1984 die berühmte und ruchlose Rechnung 2 x 2 = 5 aufgemacht hatte. Bei Orwell nannte sich die oberste Instanz, die falsches Multiplizieren per Verordnung erzwingen wollte, der "Große Bruder".Die Veröffentlichung des "Aktuellen Einmaleins" im Sonntag löste heftige Wellenschläge aus. Ulbricht soll missvergnügt gesagt haben: "Der Rechenlehrer, das soll ich sein!" Ernst Bloch jubelte, das sei der beste Beitrag gewesen, den der Sonntag je veröffentlicht habe. Kulturminister Johannes R. Becher ließ Walter Janka wissen, er finde die Glosse beherzigenswert.Weder "Republik" noch Unabhängigkeit Am Abend des 1. November 1956 nahm Wolfgang Harich in Berlin erstmals an einer Zusammenkunft des vorzugsweise von jungen Intellektuellen gebildeten "Donnerstagskreises" teil. Den Vorsitz hatte Fritz J. Raddatz. Diskutiert wurde auch hier über das Projekt einer eigenen "unabhängigen Zeitung". Treibendes Motiv dafür war die allgemeine Unzufriedenheit mit den DDR-Medien. Harich, dessen Rat gefragt war, versuchte überraschenderweise, den Anwesenden ihre Pläne als illusorisch auszureden, womit er sich angesichts seiner Erfahrungen mit dem Sonntag auch selbst korrigierte. Er dachte inzwischen daran, mit Hilfe von Hans Huffzky, des Cheferdakteurs der Constanze, eine eigene Zeitung in Westdeutschland herauszubringen oder aber seine Artikel in dem in Hamburg erscheinenden Blatt Die andere Zeitung zu veröffentlichen. Unter den herrschenden Umständen, so Harich vor dem "Donnerstagskreis", würde eine neue Zeitung letztlich nicht anders aussehen als die übrige DDR-Presse auch. Sollte allerdings die UdSSR die Schlussfolgerungen aus den positiven polnischen wie den negativen ungarischen Erfahrungen (*) des Jahres ´56 ziehen, würde sich die Presse insgesamt so sehr verbessern, dass der "Donnerstagkreis" gar keinen Bedarf mehr für eine neue Zeitung hätte. Er wandte sich ferner gegen das Attribut "unabhängig". Unabhängigkeit der Presse sei eine Illusion. Es komme darauf an, dass der Marxismus wieder in der Presse der DDR zu Wort komme; denn gegenwärtig werde der Marxismus in der DDR unterdrückt. So sei die Presse nicht in der Lage, die aktuellen Vorgänge im sozialistischen Lager richtig zu analysieren.Der kurz darauf von Harich Ende November 1956 verfasste Entwurf eines sozialistischen Reformprogramms für die DDR, der nach Debatten in der "Gruppe der Gleichgesinnten" überarbeitet und in der SED-Theorie-Zeitschrift Einheit veröffentlicht werden sollte, wurde von Walter Ulbricht als "konterrevolutionäre Plattform" verdammt.Mit der Verhaftung Harichs und seiner Mitstreiter im Sonntag (Zöger/Just) und im Aufbau-Verlag (Janka) einen Monat später war auch dem Projekt Die Republik der Todesstoß versetzt. Der Sonntag hörte abrupt auf, ein Diskussionsforum der intellektuellen Opposition zu sein.Der Autor ist Historiker und war von 1983 bis 1996 Professor für Geschichte an der Berliner Humboldt-Universität.(*) Gemeint sind die Liberalisierungstendenzen in der Volksrepublik Polen im Jahre 1956 und der Aufstand in Ungarn, der im Juli des gleichen Jahres zum Sturz der stalinistischen Führung unter Matyas Rakosi führte.
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