Am Wochenende müssen die Schweizer Bürger sowohl über eine Volksinitiative wie einen Gegenvorschlag von Parlament und Regierung abstimmen. Beide Vorhaben lassen sich reichlich populistisch instrumentalisieren. Es geht um die „Ausschaffung von Ausländern“, die sich strafbar gemacht haben. Nach geltender Rechtslage können die bereits jetzt ausgewiesen werden. Darüber zu entscheiden haben die kantonalen Migrationsämter unter Rückgriff auf ein Ausländergesetz, das eine Einzelfallprüfung vorschreibt und eine „Kann-Vorschrift“ vorsieht. Letztere besagt, die Behörde „kann“ straffällig gewordene Ausländer ausweisen, wenn ein Richter eine Strafe von einem Jahr oder mehr verhängt. Der Spielraum,
um, dies zu tun oder zu lassen, ist groß, so dass die Ausweisungspraxis in den 23 Kantonen sehr unterschiedlich ausfällt.Genau daran nimmt die Initiative der Schweizerischen Volkspartei (SVP) des chauvinistischen Ex-Ministers Christoph Blocher Anstoß: Sie will kantonalen Behörden Entscheidungsspielraum nehmen und bei 16 Straftatbeständen einen Rauswurf erzwingen. Die Skala reicht von schweren Verbrechen über grobe Verkehrsverstöße bis zu Sozialhilfebetrug und Diebstahl.Kopf in den SandDer Gegenvorschlag von Parlament und Regierung will die Ausweisungsregeln gleichsam verschärfen, aber keinen Ausweisungs-Automatismus – er knüpft einen Raufwurf an eine strenge rechtsstaatliche Prüfung der Verhältnismäßigkeit. Es wird Wert auf die Nähe zum Völkerrecht gelegt, es geht um Respekt vor zwischenstaatlichen Verträgen mit den EU-Staaten über die Freizügigkeit im Personenverkehr. Die SVP-Initiative dagegen verstößt mit ihrem strikten Ausweisungsgebot gegen das rechtsstaatliche Prinzip der Verhältnismäßigkeit, das Verbot der Doppelbestrafung und die Norm der Einzelfallprüfung. Theoretisch könnte das Parlament die Initiative schon vor dem Votum für ungültig erklären, aber bei 210.000 SVP-Unterschriften stecken Parlament und Regierung den Kopf in den Sand und kassieren lieber die 42. Verurteilung durch den Straßburger Gerichtshof für Menschenrechte. Es könnte also sein, dass die Initiative eine Mehrheit der Stimmen erhält, aber nicht umgesetzt werden kann, weil sie mit völkerrechtlichen Verträgen kollidiert.Aus deutscher Sicht fragt man sich, warum kein Gericht die klar rechtswidrige Initiative verbietet. Die bündige Antwort: In der Schweiz kann es kein Verfassungsgericht geben, da nach der reinen Lehre der direkten Demokratie ein Konflikt zwischen Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip nicht durch ein Gericht, sondern nur das Volk selbst entschieden werden kann. Das hat seit 1848 leidlich funktioniert, stößt freilich heute an Grenzen, weil der helvetische Eigensinn zusehends gegen Menschenrechte und das Völkerrecht verstößt.Die Lage wird noch dadurch kompliziert, dass in der Schweiz für derartige Vorstöße eine doppelte Mehrheit gilt. Das heißt, eine Initiative muss sowohl von der Mehrheit der Abstimmenden (Volksmehr) gebilligt werden als auch von der Mehrheit der 23 Kantone (Ständemehr). Der kleinste Kanton hat unter 20 000 Einwohner, der größte über 1,3 Millionen. An der föderalistischen Grundstruktur, dass jeder Kanton eine Stimme hat, wäre nur unter Gefährdung des Zusammenhalts der Schweiz zu rütteln.Gegen Frauenrechte Es kommen weitere Komplikationen hinzu. Sowohl die Initiative wie auch der Gegenvorschlag können eine Mehrheit gewinnen, weil der Souverän – das Volk – über beide Vorlagen abstimmt und sich nicht für eine von beiden entscheiden muss. Deshalb steht seit 1987 eine Stichfrage zur Abstimmung: welches Vorhaben soll realisiert werden, wenn beide Vorlagen – Initiative und Gegenvorschlag – eine Mehrheit erhalten? Diese Stichfrage dürfen auch jene beantworten, die sowohl die Blocher-Initiative als auch den Regierungsvorschlag ablehnen. Man darf zweimal „Nein“ einwerfen und dann sein Votum abgeben, wofür man ist, falls eine der Vorlagen eine Mehrheit gewinnt. Demokratie ist anstrengend und kompliziert – unberechenbar obendrein. Fallen bei dieser Stichfrage Volksmehr und Ständemehr unterschiedlich aus, werden die prozentualen Anteile der positiven Volks- und Standesstimmen ermittelt. Gewonnen hat dann die Vorlage mit der größten Summe. Damit ist ein Ergebnis nicht vorhersagbar.Fast alle Initiativen seit 1891 scheiterten daran, dass sie kein Ständemehr erhielten. Das bewirkte, dass jeweils alles beim Alten blieb, obwohl die Mehrheit der Bürger eine Änderung wollte wie bei den Initiativen für das Frauenstimmrecht zwischen 1919 und 1971. Die direkte Demokratie erwies sich hier als Schutzwall gegen die Gleichberechtigung. Jetzt hat der Bürger – dank der Stichfrage – fünf Optionen. Bei der Abstimmung am 28. November ist freilich zu befürchten, dass die SVP-Initiative sowohl eine Volks- wie ein Ständemehrheit erreicht, denn die Stimmungsmache gegen Ausländer findet große Zustimmung.