Nehmen wir an, ich sei ein Videokünstler. Nehmen wir an, ich würde mich mit dem Thema Spontaneität auseinandersetzen. Dann nähme ich folgende Szenarien auf, um sie synchron zu zeigen: In einem italienischen Café steht ein Barista, der gleichzeitig zwei Espressi – einmal lungo mit kalter Milch, einmal ristretto mit heißer Milch in getrennten Kännchen – und zwei Cappuccini vorbereitet. Gleichzeitig diskutiert er mit einem Gast das Fußballspiel und mit einem Auge flirtet er mit einer Kundin. Alles passiert chaotisch, aber reibungslos.
Ein zweiter Bildschirm zeigt das Pendant in einer Berliner Café-Bar: Hinter dem Tresen steht eine Frau mit hohepriesterlicher Ausstrahlung, ganz stolz ihrer Bedeutung gewiss; die Bewegungen sind elegant, la
legant, langsam und gedehnt. Höchst konzentriert wird sie jede Kaffeebestellung separat zubereiten, jede kleine Störung ihrer Arbeitsabläufe würde sie vollkommen aus dem Konzept bringen. Das Ergebnis der mit kontrolliertem Elan ausgeübten Tätigkeit ist der perfekte Cappuccino.Ich genieße ihn, denn die Berliner haben es gelernt: Ein Cappuccino sollte cremig und nicht schaumig sein. Er ist nämlich kein Bier! Dennoch überrascht mich eines immer wieder: Obwohl ich seit drei Jahren fast jeden Tag ein Café besuche, das in der Nähe meines Büros liegt, und dort immer die gleichen Gesichter sehe, ist mir nie eine Geste des Wiedererkennens begegnet. Kein lächelndes Hallo, einfach nur ein unpersönliches und unverbindliches „Und was darf’s für Sie sein?“ Ich frage mich, ob ich entweder kein nennenswertes Wiedererkennungsmerkmal besitze, oder es vielleicht als plump vertraulich betrachtet würde, mich als Stammgast zu begrüßen. Vielleicht wäre das bereits persönlich oder gar intim?Womöglich würde ein schnelles, kleines „Hallo“ die Routine und damit den perfekten Cappuccino gefährden? Gerade in solchen Situationen stellt sich mir die Frage nach der Spontaneität. In den anderen Sprachen kenne ich eigentlich keinen Ausdruck für „ganz spontan!“, „Lass’ uns spontan am Dienstag telefonieren!“, „Ich wollte mich bei Dir ganz spontan melden...!“ oder „Komm morgen doch spontan bei mir vorbei“. Müsste ich diesen umgangssprachlichen Ausdruck in meine Sprache übersetzen, würde ich „spontan“ einfach weg lassen. „Spontan“ – hätte ich den Eindruck – tötet geradezu die Spontaneität. Hinter diesem „ganz spontan“ erahne ich eine gewisse Sehnsucht nach dem Lebensgefühl des Südens, nach einer fremden Lebensart, die man sich gerne aneignen möchte, die einem aber trotz des Versuchs, oder gerade deswegen fremd bleibt.Als ich noch in Italien gelebt habe, war eine Verabredung mit Freunden immer planlos. Nie hätte ich gedacht, dass mich hier jemand fragt: „Gehen wir in zwei Wochen ins Kino?“ Auch wenn ich mich der Versuchung des Zauberwortes „spontan“ natürlich gerne hingeben würde, meine deutschen Freunde würden überrascht und sogar geniert reagieren. Denn sie würden diese Art von „Spontaneität“ als mangelnden Respekt ihnen gegenüber auffassen. So weiß ich nie, ob es sich bei der Beschreibung einer Handlung als „sehr spontan“ um ein Kompliment oder eher um eine ironische Bemerkung handelt. Vielleicht ist das eine Frage der Intonation des Steigerungsgrades „sehr“?Einmal war ich mit einem Bekannten verabredet. Eine Stunde vor dem verabredeten Zeitpunkt traf ich eine Freundin und schlug ihr vor, mich „spontan“ zu begleiten. Als wir ankamen, musste ich sofort feststellen, dass ich mir einen veritablen Fauxpas geleistet hatte. Wenn man sich zu zweit verabredet, ist anscheinend das Schlimmste, was man dem anderen antun kann, noch eine weitere Person einzuladen. Der Abend war ruiniert – und ich offensichtlich dafür verantwortlich. Im Stillen hörte ich meine innere Stimme vorwurfsvoll sagen: „Mein Lieber, das war ja wohl ein bisschen sehr spontan!“. Die Spontaneität ist anscheinend auch eine Sache des richtigen Lebensrhythmus.In Berlin gilt ein Regime der Langsamkeit, das in den Augen vieler Nicht-Berliner kaum zu der sprichwörtlichen Arbeitsamkeit der Deutschen passt. Man assoziiert die Langsamkeit gerne mit Präzision, Gründlichkeit und Akkuratesse. Der so beliebte Spruch „Gut Ding muss Weile haben“ – den ich nie leiden konnte! – ist aber alles andere als ein Spontaneität stiftendes Merkmal! Berliner können dennoch spontan sein: Neulich hatte ich Besuch von einem venezianischen Freund. Wir sind zu meinem Lieblingscafé geschlendert und überquerten danach den Gendarmenmarkt. Dort saßen einige Leute auf bunten Liegestühlen und an den verstreuten Tischen, die am Rande des Bürgersteigs standen. Das würde es in Italien nie geben! Mein Freund seufzte aus tiefstem Herzen: „Ja, Berlin – das ist die Stadt der joie de vivre! Die Berliner sind doch wahre Hedonisten. Sie wissen, was es heißt, das Leben zu genießen!“Spontaneität der VernunftDer deutscheste unter den Philosophen, Immanuel Kant, dessen Syntax für Ausländer schnell zur Tortur wird, kennt nur die Spontaneität des Verstandes: das Vermögen, Begriffe selbst hervorzubringen. Alles andere, Affekte, Lüste oder Antriebe, sind niemals spontan, sondern unfrei. Denn spontaneus meint ‚freiwillig, frei’. Andererseits gebrauchen wir das Wort im Sinn von ‚sofort, ohne Nachdenken’. Und das ist nachgerade das Gegenteil zur Kantschen „reinen Spontaneität der Vernunft“. Irgendwie kommt der Deutsche mit diesem Widerspruch nicht zurecht. Will er einerseits ein ‚Sponti’ sein, der improvisierend und situationsoffen realisiert, was an lustvollen Gelegenheiten sich bietet, so gilt ihm andererseits ein solches Flottieren doch eher als Lotterleben. Das Spontane soll gezähmt und in rationale Terminplanung eingefügt werden. Wie Lust und Vernunft hier in demselben Wort kollidieren, das macht unsere deutsche Kompliziertheit aus. Wie sollen AusländerInnen damit nur zurechtkommen, zumal aus dem Süden!Hartmut Böhme lehrt Kulturtheorie am Kulturwissenschaftlichen Seminar der Humboldt-Universität Berlin. Er begleitet die Serie mit kurzen, theoretischen Einordnungen.