„Ich lief auch vor mir weg“

Weltenwanderer Der Franco-Kanadier Jean Béliveau hat die Erde einmal zu Fuß umrundet. Wie hat ihn dieser lange Marsch verändert?

Freitag: Herr Béliveau, Sie sind einmal um den Planeten gelaufen. Kennen Sie jetzt die Welt?

Jean Béliveau: Je mehr ich lerne, desto unwissender komme ich mir vor. Als ich loslief, dachte ich beispielsweise, Afrika sei arm. Seit ich dort war, finde ich, der Kontinent ist enorm reich.

Ja. Sie sind nicht so kühl wie bei uns im Westen. Ich hatte dort nie Schwierigkeiten, eine Unterkunft zu finden. Diese Gastfreundschaft ist ein ideeller Reichtum. In Europa waren die Menschen verschlossener. Seit ich vor zehn Jahren aufgebrochen bin, fällt es mir immer schwerer, mir überhaupt eine Meinung zu bilden. Wer meint, die Welt erklären zu können, überschätzt sich.

Nach 70.000 Kilometern auf fünf Kontinenten kennen Sie sich aber bestimmt besser aus als ein Pauschaltourist, der nur für ein paar Tage einfliegt.

Natürlich ist man näher bei den Leuten, wenn man zu Fuß kommt. Man begegnet vielen beim Laufen. Ich habe auch meist bei Einheimischen übernachtet, die mich spontan eingeladen haben. Das waren insgesamt etwa 1.500 Familien, arme und reiche. Ich empfand das als großes Privileg. Man legt Vorurteile ab, wenn man mit fremden Leuten isst, trinkt und unter ihrem Dach schläft, mit ihnen die alltäglichen Dinge teilt. Aber das heißt noch lange nicht, dass ich nun ein Allwissender bin.

Was trieb Sie eigentlich zu der ungewöhnlichen Reise?

Als ich 45 wurde, habe ich über mein Leben nachgedacht. Ich arbeitete damals in einem Geschäft für Leuchtreklamen und geriet auf einmal in eine Midlife-Crisis. Beim Joggen habe ich mich irgendwann gefragt, wie lange ich wohl zu Fuß nach New York brauchen würde. Dieser Gedanke hat mich dann immer weiter beschäftigt. Bis ich eines Tages beschloss, um die Welt zu laufen. Aber ich wollte damals wohl auch ein bisschen vor mir selber davonlaufen.

Für Ihren großen Marsch haben Sie Ihre Familie vernachlässigt.

Wir fehlen uns wahnsinnig. Aber meine Frau weiß immer genau, wo ich gerade bin, sie ist auch meine Managerin. Jedes Jahr besucht sie mich für ein paar Wochen, das letzte Mal, als ich Anfang des Jahres in Sydney war. Sie hat mich die gesamte Zeit unterstützt, auch finanziell. Meine beiden Enkelkinder habe ich mittlerweile auch kennengelernt. Die jüngere ist jetzt fünf Jahre, vielleicht auch schon sechs (lacht). Aber natürlich war ich manchmal sehr unglücklich. Wie einmal, nachdem meine Frau bei mir in Istanbul war. Ich stand gerade vor der riesigen Herausforderung, Asien zu durchqueren. Als ich durch die Türkei und Aserbaidschan gelaufen bin, habe ich mich schon einsam gefühlt. Ohne das Internet wäre unsere Ehe bestimmt an meiner Wanderung zerbrochen.

Sie haben sich elektronische Liebesbriefe geschrieben?

In vielen Ländern sind die Telefonverbindungen sehr schlecht. Also haben wir uns regelmäßig E-Mails geschickt: Ich liebe Dich, Du fehlst mir, diese Worte waren der Kitt für uns. Es war ein glücklicher Zufall, dass das Internet gerade aufkam, als ich im Jahr 2000 losgelaufen bin. In den USA konnte ich in Bibliotheken gehen, um E-Mails zu schreiben. Einmal war ich zwei Wochen allein in Tansania unterwegs, es gab dort Löwen und andere wilde Tiere. Meine Frau wusste davon und war sehr besorgt: Ich war unerreichbar. Als die Polizei mich hinterher fragte, ob ich eine Waffe dabei hätte, lachte ich nur: Nein, nur Pfefferspray. Ich laufe doch für den Frieden!

Sie laufen auch für die Kinder der Welt. Geht es denen jetzt besser?

Ich wollte ja nicht gleich die gesamte Weltlage verändern. Aber ich habe an vielen Orten ein Bewusstsein für das Schicksal von Kindern geweckt – mit konkreten Erfolgen: In Manila sind etwa tausend Leute ein paar Kilometer mit mir gelaufen, auch der Bürgermeister war dabei. Wir haben Geld für ein Kinderhilfswerk gesammelt, etwa 4.000 Dollar sind dabei zusammengekommen.

Im Westen wundert man sich nicht groß über Abenteurer wie Sie. Wie haben die Menschen in anderen Kulturen reagiert?

In Asien war es schwieriger, Kontakt zu den Menschen zu finden – Indien mal ausgenommen. In China habe ich häufiger auf Polizeistationen übernachtet, freiwillig natürlich. Es war auch verwirrend, in Restaurants zu bestellen. Wer weiß, was ich dort alles gegessen habe! Oder nehmen wir Japan: Als Wanderer aus dem Westen, der einen Buggy schiebt, bist du da sofort der Marsmensch. Nun nicht gerade in Tokio, aber in Muikamachi, in den japanischen Alpen, wirken die Menschen und das Land immer noch sehr abgeschottet. Als seien sie Teil einer großen Gesellschaftsmaschine. Wer da aus der Reihe tanzt, hat es schwer.

Kam es vor, dass Sie bedroht wurden?

Nein. Aber überwacht. Auf der Philippineninsel Mindanao zum Beispiel. Da hat mich eine Handvoll Soldaten 400 Kilometer lang begleitet, zum Schutz vor Rebellentruppen, wie sie mir gesagt haben. Ich kam mir schon etwas merkwürdig vor: Der Typ, der für den Frieden läuft, hat eine Eskorte aus bewaffneten Soldaten. Aber für die war das ein Vergnügen, weil sie sich sonst im Dienst sehr langweilen. Eine Weile haben uns ein paar Kinder begleitet, wir haben dann alle zusammen gesungen: Frieden auf der Welt, Frieden für Mindanao.

Und Sie sind sicher, dass Sie auf der richtigen Seite standen?

Ich hatte die Befürchtung, die Soldaten könnten mich als Lockvogel gegen die Rebellen benutzen. Ich wollte neutral sein und mich auch mit den Aufständischen treffen. Das haben die Soldaten aber nicht erlaubt, weil ich gekidnappt werden könnte. Ich habe mich dann gefragt: Und ihr? Kidnappt ihr mich nicht auch gerade?

Klingt ziemlich blauäugig.

Ehrlich gesagt: Als ich loslief, hatte ich überhaupt keine Ahnung, was in der Welt passiert, ich hatte Kanada nie verlassen. Ich war naiv. Ich habe kein Abitur und bin kein Akademiker. Die Weltwanderung ist meine Universität.

Das Gespräch führte Sebastian Kretz. Er wandert gern mit Rucksack, ist aber bisher noch nie weiter als 20 Kilometer am Stück gelaufen.

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