„Lettres à un jeune marocain"

Aufregung Vier Briefe an die Zukunft: Der "Freitag" dokumentiert Auszüge aus den Offenen Briefen, die marokkanische Autoren an ihr eigenes Land geschrieben haben

Omar Berrada, geb. 1978, Dichter und Übersetzter. Lebt und arbeitet in Paris

Brief an meine wenige Monate alte Tochter

Ich bin wie jeder Mensch voller Widersprüche. Ich habe viel Zeit damit zugebracht, mich neu zu erfinden, mich der Symbole zu entledigen, die Herkunft und Aussehen mir auferlegt haben. Aber diese Loslösung ist niemals vollständig. Das merke ich gerade in den schwierigen Momenten – etwa auf der Polizeistation, wo man seine Aufenthaltsgenehmigung verlängern lassen muss und sich vorkommt, als würde man um ein Almosen betteln; gegenüber rassistischen Bemerkungen, auch wenn sie sich auf jemand anders beziehen. Solche Angriffe und Erniedrigungen provozieren auch bei den Immigranten der zweiten oder dritten Generation religiöse oder Identitätskrisen – und das, obwohl sie gar nicht im Geist der Tradition erzogen wurden. Wird die Besinnung auf Marokko auch in deinem Fall ein schlafendes Gespenst sein, das wieder aufwacht, sobald es angegriffen wird? Das Gespenst einer schon vor der Geburt verlorenen, auf immer verlorenen Identität; verborgen, aber jederzeit wieder hervorzuzaubern. Wird die Identität eine intime, sich selbst fremde Erinnerung sein, der ausgewaschene Hintergrund eines Palimpsests: Je größer die geographische und zeitliche Distanz ist, desto empfänglicher ist man für Idealisierungen.

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Sanaa Elaji, geb. 1977, Schriftstellerin und Journalistin, lebt und arbeitet in Casablanca

Brief an das kleine Mädchen, das ich war

Ich wehre mich, ich rege mich auf, ich werde fast wütend, wenn ich jenes Gerede höre, das darauf abzielt, für alle unsere Fehler, unsere Erniedrigung und unseren Misserfolg andere verantwortlich zu machen. Die USA, Israel, die familiären Probleme, die Regierung, die Armut, das Unwissen, den Analphabetismus, den Alkohol – die Liste ist lang, sie ließe sich fortsetzen. Ich finde es merkwürdig, dass viele Kinder unseres Landes glauben, die Vereinigten Staaten wären obsessiv damit beschäftigt, unsere edlen Werte runterzumachen. Ich finde es merkwürdig, dass Menschen meiner Umgebung überall die zionistische Gefahr am Werk sehen: bei den gestiegenen Brotpreisen, beim Misserfolg eines Schülers während einer Prüfung, beim Regen und beim Anstieg der Temperatur, bei der Sättigung der Märkte, bei gescheiterten Liebesbeziehungen, beim Zusammenbruch eines baufälligen Hauses. … Glaube mir, es tut mir weh, wenn ich sehen muss, dass ein keineswegs geringer Teil unserer Politiker in diesem glücklichen Land bis zum Hals im Dreck steht. Ich empfinde Wut, wenn ich mich Gesetzen aus einem anderen Zeitalter gegenüber sehe – Gesetzen, die mir weiterhin aufgezwungen werden. Ich werde wütend, wenn ich an all die Fehler denke, die man in unserem Namen begeht, obwohl sie leicht ausgeräumt werden könnten. Ich rege mich auf, wenn ich an all die mutigen Entscheidungen denke, die hätten getroffen werden können, aber nicht getroffen wurden. Ich werde traurig, wenn ich all das Elend um mich sehe.

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Mounir Fatmi, geb. 1970, Künstler, lebt und arbeitet in Paris und Tanger

Brief an meinen Bruder

Du erinnerst Dich, wie wir als Kinder die Sachen unserer älteren Geschwister tragen mussten. Die Schuhe, Hemden und Hosen der anderer. Der Flohmarkt von Casablanca war unser eigentlicher Vater. Er hat uns ernährt, gekleidet, erzogen. Sogar unsere Schulbücher stammten aus zweiter Hand. Unsere Mutter hat uns dennoch gelehrt, stolz zu sein. Dieser Stolz war mein einziger Besitz, mein einziger Reichtum. Bis zu dem Tag, an dem der Französischlehrer mich ohrfeigte und der gesamten Klasse mein zerfleddertes Buch zeigte, voller Kratzer und Zeichnungen, dem außerdem so viele Seiten fehlten. Für ihn war klar: Wenn ich mein Buch seit Anfang des Schuljahres so behandelt hatte, dann musste ich ein schlechter Schüler sein. Ich hatte nicht den Mut, ihm zu erklären, dass mein Buch schon mehrere Leben hinter sich hatte. Dass ich nicht der Eigentümer dieses Buches sei, und ebenso wenig der Urheber all dieser Kritzeleien. … An diesem Tag habe ich beschossen, dass für den Fall, dass ich noch einmal bestraft würde, dies tatsächlich wegen meiner eigenen Fehler geschähe. Ich habe beschlossen, fortan meine eigene Geschichte zu schreiben und zu zeichnen. Ich habe beschlossen, meine eigenen Gedanken zu haben, um niemals wieder nackt zu sein.

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Hicham Tahir, geb. 1989, Student, lebt in Kénitra

Brief an meinen Freund Amine

Ich weiß, dass du Marokko verabscheust. Denn das Land hat Dir nichts gegeben. Seinetwegen bist Du arbeitslos. Seinetwegen hast du kein Abitur. Dein Nachbar hat einen Abschluss in arabischer Literatur und arbeitet immer noch nicht. Du verabscheust Marokko, weil es Dir nicht das Glück gewährt, das Du verdienst. Amine, schau der Wahrheit ins Gesicht: Marokko hat Dir ein Dach gegeben, das Leben, das Recht zu studieren. Und Du hast nichts gemacht. Warum? Weil Dein Nachbar mit seinem Abschluss in arabischer Literatur immer noch nicht arbeitet? Hast Du gesehen, dass sein Abschlusszeugnis bei ihm zu Hause an der Wand hängt, zwischen dem Foto seines Bruders und dem seines Vaters? Hast Du bemerkt, dass er nur die Note „ausreichend“ bekommen hat? Trotzdem hängt er das Zeugnis voller Stolz neben die Fotos von Familienmitgliedern, die bereits tot sind. Achte auf die Ironie: Sein Zeugnis gehört zu den Toten in seiner Familie. Wie sollte er damit rechnen, Arbeit zu finden? Er hat beschlossen, sein Leben zu zerstören, und bei derselben Gelegenheit auch das der anderen. Und Du hast ihm, wie viele andere, einen Gefallen getan: Du hast nichts aus Deinem Leben gemacht. Du hast Dich nicht gerührt.

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Übersetzung aus dem Französischen: Kersten Knipp

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