„Öko-Stalinismus“ und „Stellplatz-Diktatur“?

Beispiel Marburg In der Studentenstadt soll auf jedes Dach eine Solaranlage – per Vorschrift. Im Wahlkampf muss sich der grüne Bürger­meister dem Vorwurf der „Öko-Diktatur“ stellen

Marburg ist ein beschauliches Fleckchen. Über der mittelalterlichen Stadt thront die Elisabethkirche, unten kuscheln sich hessische Fachwerkhäuschen aneinander. Die Universität bestimmt das Leben der 80.000 meist wohlsituierten Einwohner. Die Grünen sind in Marburg stark.

In dieser Gemengelage aus umweltbewusster Grundhaltung und nötigem Kleingeld griff der grüne Bürgermeister und Baudezernent Franz Kahle 2008 auf ein lang vergessenes Mittel des Umweltschutzes zurück: Ökostandards per Ordnungsrecht, Klimaschutz per Satzung.

Strikte Vorgaben des Gesetzgebers gehören zu den erfolgreichsten Mitteln, die bisher im Umweltschutz angewandt wurden. Das klassische Beispiel dafür sind die Luftreinhaltevorschriften, die klare Vorgaben für Technik und Emissionsgrenzwerten setzen. Jürgen Pätzold, Wirtschaftswissenschaftler an der Uni Hohenheim, schätzt, dass „etwa 90 Prozent der Umweltpolitik auf dem Ordnungsrecht basiert“.

Zwar erreicht der Gesetzgeber mit strikten Vorgaben genau das, was er will. Aber es gibt eine Kehrseite: „Eine derartige Umweltpolitik, die mit Geboten und Verboten arbeitet, entspringt letztlich der polizei- und gewerberechtlichen Tradition“, schreibt Pätzold – und solche „Zwänge“ kommen oft schlecht an.

Mit dem Widerwillen gegen die strengen Vorgaben muss sich in Marburg auch Bürgermeister Kahle auseinandersetzen. Weil die Marburger Solarsatzung bei Bestandsbauten vorschreibt, dass fast jedes Haus in Zukunft eine Solaranlage für warmes Wasser bekommt, gehen ihn die Gegner hart an: „Man wirft uns Ökodiktatur und Öko-Stalinismus vor“, sagt Kahle. In Internet-Blogs sind sogar noch schrillere Kommentare zu lesen.

Kahle möchte mit der Solarenergie „eine unserer wichtigsten Energiequellen rasch erschließen“, das Klima schützen und mit einer sicheren Form der Wärme­bereitstellung die warme Wohnung langfristig absichern. Dafür muss Kahle politischen Gegenwind in Kauf nehmen.

Um die Satzung wird in Hessen seit 2008 politisch gerungen. Nach vielem Hin und Her wurde die Satzung am 29. Oktober 2010 mit den Stimmen von SPD, Grünen und den Marburger Linken verabschiedet, dagegen waren CDU, FDP und die Marburger Bürgerliste.

Seit dem 17. November 2010 war die Solarsatzung in Kraft. Aber: Der CDU- dominierte Hessische Landtag hat daraufhin die „Hessische Bauordnung“ geändert und so kurzerhand die Rechtsgrundlage gestrichen. Seit Anfang dieses Jahres gilt die Solarsatzung nicht mehr. Nun überlegt die Stadt Marburg, ob sie zu­sammen mit anderen Städten gegen die neue Bauordnung vorgehen möchte. Eine Entscheidung des Städtetags möchte man noch abwarten, aber die könnte schon in diesem Jahr fallen.

Weitere Stadtporträts gibt es in der Broschüre

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