Alltagskultur Für eine neue Serie haben wir Zuwanderer in Berlin um ihren Blick auf die Alltagskultur gebeten. Zu Beginn erklärt die Französin Pascale Laborier Unterschiede beim Küssen
Pascale Laborier ist Professorin für Politikwissenschaft und leitet seit 2005 das Centre Marc Bloch an der Humboldt-Universität Berlin:
"Zwischen meinen Kollegen und mir herrscht jeden Morgen knisternde Spannung: Küssen wir uns oder nicht? Mit Küssen sind nun nicht die gemeint, die auf Englisch die französischen genannt werden und ziemlich viel Mundeinsatz erfordern, sondern die kleinen Wangenküsschen, mit denen ich in Frankreich auch meine Sekretärin begrüßt habe. Es ist dort einfach üblich: Man geht ins Büro, und die Kollegen, die man mag, bekommen ein „bise“. Deutsche, die länger in Frankreich gelebt haben, gewöhnen sich an unsere Kuss-Lust und machen irgendwann mit, die anderen finden es schwierig. Dabei kann m
es schwierig. Dabei kann man sogar in Frankreich viel falsch machen: Die Pariser geben sich zwei Küsschen zur Begrüßung, also eines auf jede Wange, die Südfranzosen legen noch einen drauf und bleiben dann bei Parisern bisweilen mit gespitzten Lippen in der Luft hängen.Wie man richtig Küsschen gibt, gehört in Frankreich genau so zum kulturellen Kapital wie die Tischsitten, und ist ähnlich komplex wie die Frage, wie oft man nach einem Essen Käse bestellen darf, und wie viele Stückchen man sich dann von der Platte nehmen sollte (die Antwort lautet: ein Mal ordern, drei Stückchen nehmen). Nimmt man sich mehr Käse als üblich, gilt man leicht als Gierschlund, und wer zu engagiert küsst, offenbart eine Neigung zum Schmierigen.Als Französin, die diese Klippen in Frankreich mühelos umschifft, begegnet man in Deutschland ganz anderen Schwierigkeiten: Eine unserer Doktorandinnen vom Centre Marc Bloch suchte in Berlin eine WG und begrüßte ihre potentiellen Mitbewohner auf die französische Art – es fiel ihr schwer, ein Zimmer zu finden, bis sie bemerkte, dass ihr Verhalten als viel zu offenherzig interpretiert wurde. Das deutsche Äquivalent zum französischen Küsschen scheint die Umarmung zu sein, die nun wiederum den Franzosen unangenehm ist, weil die sich eher in sehr speziellen menschlichen Situationen umarmen: Beerdigungen, Liebesbeziehungen – sowas in der Art.Unterschiedliches Verhältnis zum KörperNach vielen Jahren privater Feldstudien auf dem Gebiet bin ich zu dem Schluss gekommen, dass das Verhältnis zum Küsschen in der Öffentlichkeit ausdrückt, wie unterschiedlich das Verhältnis der Franzosen und Deutschen zu ihrem Körper ist. Zuerst fiel mir das 1989 auf, bei meinem ersten Aufenthalt in Berlin. Am Lietzensee lagen zwei junge Frauen vollkommen nackt auf der Wiese. Nach einer Weile bemerkten sie, dass zwei türkische Männer, die in der Nähe saßen, sie anstarrten. Daraufhin fingen die Frauen an, fürchterlich herumzuschimpfen, und ich fragte mich, was sie denn anderes erwartet hatten – das passte für mich mit der großen Kuss-Unlust und Prüderie der Deutschen recht schlecht zusammen.Wenn sich in Frankreich ein Mann zu einer Frau setzt, die allein an einem Cafétisch sitzt, ist die Situation geklärt: Er will sie kennenlernen. Das ist hier anders. Man kann zu zweit an einem Cafétisch sitzen, oder nackig nebeneinander im Park liegen, und sich ganz in seiner eigenen Blase befinden: Es geht niemanden etwas an, was man dort macht. Jeder ist allein mit seinem Körper in der Öffentlichkeit. Wenn man in Frankreich hingegen auf die Straße geht, ist sofort eine soziale Situation geschaffen, man ist mit anderen Menschen in Kontakt. Die Hürde zu einem schnellen Kleinstkuss auf die Wange ist dementsprechend niedrig.Währenddessen muss in Deutschland eine soziale Situation in der Öffentlichkeit erst mühsam hergestellt werden, man gibt sich oft auch nur die Hand zur Begrüßung. Da ist kein Raum für Zweideutigkeiten, die in Frankreich viel leichter vorkommen können. Das kann auch Vorteile haben; zum Beispiel für diejenigen, die im Kuss-Geschäft noch neu sind: die Jugendlichen. Wenn die sich Begrüßungsküsschen geben, ist dann vielleicht bei dem einen oder anderen noch Potenzial vorhanden, um aus einem Küsschen einen Kuss werden zu lassen.Wie kommt es in Berlin überhaupt zu einem Kuss?Diese enormen Vorteile haben sich in Deutschland anscheinend noch nicht ganz durchgesetzt, weshalb sich französische Freundinnen auf Besuch in Berlin auch immer fragen, wie um alles in der Welt es denn überhaupt zu einem Kuss mit einem deutschen Mann kommen kann. Einmal entwickelte ich in einer Kreuzberger Bar gerade meine Theorie zu dieser Frage, als mich mein Sitznachbar am Tisch gegenüber ansprach und in ein Gespräch verwickelte. Er zahlte auch einige Getränke, erkundigte sich nach den weiteren Plänen für den Abend und wollte uns gern begleiten. Da war es dann natürlich mit meinen Thesen von den spröden Deutschen nicht so weit her.Seitdem haben sich mir einige Deutsche aber angenehm wenig zurückhaltend gezeigt – entweder sind das alles Ausnahmen von der Regel, oder aber sie wittern ihre große Chance, mal erfolgreich eine Frau anzusprechen, wenn sie eine Französin vor sich haben. Die stehen ja nicht unbedingt in dem Ruf, komplett unzugänglich zu sein. Für mich stimmt das allerdings nur in Berlin. Wenn ich nach langer Zeit zurück nach Paris komme, und mich jemand anspricht, weiche ich erst einmal zurück: Ich habe mich berlinisiert."Protokoll: Hanna EngelmeierBegrüßung und Abschied„Früher gab es die Handküsse – und auch die konnten von der zartesten Versuchung bis zur indezenten Überschreitung facettenreich ihr Spiel entwickeln. Das ist heute nicht anders mit den hingehauchten Wangenküsschen, die man sich zu Begrüßungs- und Abschiedsszenen gönnt. Sie müssen gekonnt sein. Und dazu gehört: Man muss die „feinen Unterschiede“ kennen zwischen den Situationen, den sozialen Schichten und Nationalitäten, um hier entspannt in einer Konvention mitzuschwimmen oder irgendwie irritierend zu wirken oder sich irritiert zu fühlen. Konventionen entlasten die Begegnung zwischen mehr oder weniger vertrauten Menschen – doch sie komplizieren sie umso mehr, wenn man nicht die feine Witterung fürs Angemessene und minimale Differenzen hat. Die so leichten und dennoch so diffizilen Modulationen der Form – wer, wenn nicht die Französin, hat dafür das Gespür?“Hartmut Böhme lehrt Kulturtheorie am Kulturwissenschaftlichen Seminar der Humboldt-Universität Berlin. Er begleitet die Serie mit kurzen, theoretischen Einordnungen.
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