Interview Matt Beynon Rees berichtete viele Jahre als Reporter aus Jerusalem. Die Geschichten, die er lieber erzählen wollte, schreibt er jetzt: Krimis, die in Palästina spielen
Der Freitag: Herr Rees, beruhen alle Kriminalfälle in Ihren Romanen auf wahren Tatsachen?
Matt Rees: Ja, alle Verbrechen sind tatsächlich passiert. Einmal habe ich in einem Dorf bei Bethlehem mit der Mutter und der Ehefrau eines Mannes gesprochen, der in der Nacht zuvor von israelischen Scharfschützen erschossen wurde. Ihre Emotionalität und unglaubliche Offenheit haben mich sehr beeindruckt. Ich dachte sofort, davon musst Du erzählen, lange bevor ich die erste Zeile meiner Bücher geschrieben hatte.
Konnten Sie davon nicht auch als Journalist erzählen?
Nein. Ich hätte nur einen Bruchteil von den Erlebnissen im Time Magazine verwenden können. Zudem wurde mir erst beim Schreiben klar, wie ich selbst während der Intifada manchmal in nahezu trauma
en klar, wie ich selbst während der Intifada manchmal in nahezu traumatische Situationen geraten bin. Ich habe nicht nur schreckliche Dinge gesehen, abgerissene Körperteile oder Menschen mit furchtbaren Verletzungen; ich habe auch viele schwierige Momente erlebt. Einmal lief ich in der Kasbah von Nablus eine Straße entlang, als ich plötzlich Schüsse hörte, aber nicht lokalisieren konnte, woher sie kamen. Und es gab weit und breit keinen Ort, an dem ich mich verstecken konnte.Davon konnten Sie vermutlich auch nie berichten?Nein, das ist das Problem. Vielen ausländischen Korrespondenten geht es da ähnlich. Die meisten leben schon lange hier, aber sie können vieles von ihrem Wissen und ihren Erfahrungen nicht verwenden, weil die meisten Redakteure genau die Texte wollen, die in der New York Times stehen.Also vor allem sachliche Berichterstattung über politische Ereignisse?Ja. Und ich glaube, darum interessieren sich die meisten Menschen nicht sonderlich für Nachrichten. Nicht nur im Nahen Osten, sondern generell. Immer, wenn ich mit einer Geschichte zu meiner Redaktion kam, hörte ich dieselbe Frage: ‚Aber was bedeutet das für den Friedensprozess?‘ Journalismus endet immer in zwei Lagern: Israelis gegen Palästinenser, Hamas gegen Fatah. Ich glaube nicht, dass das die Leser wirklich berührt. In den Romanen dagegen entsteht beim Lesen eine emotionale Verbindung zu den Personen. Es ist absurd, aber Literatur kann uns viel näher an die Realität heranbringen.Aber für die Romane waren Ihre journalistischen Erfahrungen doch grundlegend?Ja, natürlich. Ich habe während der Intifada viele Menschen kennen gelernt, die getötet haben. Aber ich habe interessanterweise niemanden getroffen, der rein böse war. Das sind ja nicht alles kranke Psychopathen. Selbst wenn ich mit ihren Taten nicht einverstanden bin, kann ich trotzdem verstehen, warum sie so handeln. Im Journalismus kannst Du nicht beschreiben, wie es ist, wenn Dir wer von den Gefühlen beim Töten erzählt. Mir war wichtig, gerade diese Menschen genauer zu beschreiben.In Der Verräter von Bethlehem erzählen Sie auch von der Angst der Menschen vor den Al-Aqsa-Brigaden, von deren Brutalität und Kaltschnäuzigkeit, mit der sie junge Selbstmordattentäter rekrutieren.Die Leute im Westen sind ja immer schockiert, wenn sie eine palästinensische Mutter in der Öffentlichkeit weinen sehen, die sagt: „Ich bin glücklich, dass mein Sohn als Märtyrer starb.“ Aber diese Frauen müssen das in der Öffentlichkeit sagen. Dabei leiden die Familien in mehrfacher Hinsicht. Nicht nur, weil die Israelis später oft ihre Häuser zerstören. Sie leiden unter dem Verlust. Wenn man sie später trifft, merkt man, wie deprimiert sie über den Tod ihrer Kinder sind.Und diese ganzen Märtyrer-Poster, die an den Häuserwänden kleben?Die werden von der Hamas oder der Fatah plakatiert. Die Familien sind dagegen machtlos, das sind alles politische Aussagen. Dass sie es schrecklich finden, dass die Brigaden ihren Sohn überredet haben, sich in die Luft zu sprengen, konnten mir die Familien erst viel später erzählen. In einer Kriegssituation würden sie von den Milizen sofort dafür bestraft. Sie behalten die Trauer für sich, weil sie niemand hören möchte. Übrigens auch im Westen nicht, dort fühlen sich die Leute einer Seite des Konflikts verpflichtet.Sie beschreiben auch, wie leicht junge Menschen unter den Bedingungen der Besatzung in die Intifada geraten.Ich versuche, die Motive dafür zu zeigen. Manchmal reicht schon der Umstand, dass es in der eigenen Familie einen Kollaborateur gab und die Familienehre wieder hergestellt werden muss. Oder dass diese jungen Menschen etwas Schreckliches mit angesehen oder erlebt haben. Wenn ein Teenager mit all diesen verwirrenden Emotionen zu einem kommt, sollte man ihm psychologische Behandlung anbieten, anstatt ihm eine Bombe um den Bauch zu schnallen, mit der er sich in die Luft jagt. So denken übrigens auch die meisten Palästinenser! Nur offizielle Repräsentanten reden davon, dass dies die einzige Art des Widerstands sei, den sie haben. Die Palästinenser, die ich kenne, sagen alle: „Es ist verrückt und zerstört unsere Gesellschaft!“ Aber leider gibt es nur wenig psychologische Hilfe, um diese Traumata zu behandeln.In Der Verräter von Bethlehem erzählen Sie auch davon, wie das System der Kollaboration die palästinensische Gesellschaft verändert.Die Tragik der Palästinenser besteht darin, dass sie einander nicht mehr vertrauen, wegen der Kollaboration. Wenn zehn Palästinenser im Raum sind, ist vielleicht einer von ihnen ein Kollaborateur. Aber wenn man sie fragt, würden sie sagen, es sind mindestens acht. Die Israelis hatten viel Zeit, dieses System aufzubauen. Sie rekrutieren Kollaborateure seit 1967.Mit welchen Anreizen locken sie die Menschen?Zuerst fragen sie Dich vielleicht, ob Du eine Arbeitserlaubnis für Jerusalem möchtet. Oder wenn Deine Mutter eine Operation braucht, erlauben sie Dir, dafür in ein Krankenhaus in Jerusalem zu kommen. Sie fragen zunächst nach scheinbar harmlosen Informationen, etwa wie viele Leute bei einem Treffen waren. Anfangs denkst Du, das tut ja niemanden weh und Du bekommst vielleicht zwanzig Dollar für die Information.Und dann?Wenn Du einmal dabei bist, kannst Du nicht mehr aussteigen, weil sie Dich enttarnen können – und dann bist Du tot. Also machst Du mit, machst alles, worum sie Dich bitten. Sie haben Dich in der Hand.Der Ermittler Omar Jussuf ist ein sympathischer Held, der sich manchmal hilflos fühlt, aber niemals korrumpieren lässt. Kritiker haben Ihnen vorgeworfen, die Figur sei ein europäisches Konstrukt, eine Projektion Ihres eigenen Denkens.Ich finde, das ist fast eine kolonialistische Sichtweise. Warum sollte eine palästinensische Romanfigur, die unsere Ansichten teilt, nicht palästinensisch sein können? Die Leute sehen nur offizielle Sprecher der Palästinenser im Fernsehen, die Israel beschuldigen. Und daraus schlussfolgern sie, dass es keine Palästinenser mit humanistischen Vorstellungen gebe, Menschen, die sich um das Gemeinwohl sorgen.Woher kommt diese verzerrte Wahrnehmung?Die Leute leugnen diese Vorstellung, denn sie würde sie zwingen, ihre eigene Sichtweise auf den Konflikt zu überdenken. Die Gefühle und Gedanken meiner Figuren entsprechen im Gegensatz dazu dem, was Menschen mir gegenüber über Jahre hinweg immer wieder geäußert haben.Das heißt, für die Figuren und den Ermittler Jussuf gibt es reale Vorbilder?Sogar eine ganz konkrete Person. Selbstverständlich hat der echte Omar Jussuf einen anderen Namen, und seine Lebensumstände sind ein wenig anders. Ich will ihn schützen für den Fall, dass die Bücher jemals ins Arabische übersetzt werden. Aber die Meinungen, die er äußert, die Ansichten sind seine. Ich kenne ihn seit zehn Jahren, er lebt im Flüchtlingslager von Deheischa. Ich wollte, dass meine Hauptfigur kulturell stimmig ist. Genau wie Omar Jussuf ist auch er Mitglied eines großen Clans, der sowohl in der Hamas Beschützer hat als auch in der Fatah.Ist er auch eine Art „alter ego“ von Ihnen?In gewisser Hinsicht, ja. Ich war offen für seine Ansichten. Er war für mich eine Art Übersetzer der palästinensischen Kultur, er hat mich mitgenommen, mir Dinge gezeigt. Und damit viel von dem, was ich heute über Gesellschaft und Politik denke, geprägt.Sie haben ja auch biografisch eine Beziehung zu der Region. Zwei Ihrer Großonkel waren im 1. Weltkrieg als Soldaten in Palästina stationiert.Ja, sie kämpften im Imperial Camel Corps. Als ich zum ersten Mal hierher kam, hatte ich kein Gefühl von tieferer Verbindung zu diesem Ort. Bis ich diese britischen Militärfriedhöfe gesehen habe. Allein im Gazastreifen gibt es vier. Die Briten haben hier zum ersten mal Giftgas eingesetzt, nicht in Frankreich, wie man immer denkt. Diese Männer waren wie ich. Was haben sie hier gemacht? Warum wurden sie erschossen? Ich habe viel darüber nachgedacht, was es für Menschen bedeutet, für etwas zu kämpfen und dafür getötet zu werden.Mit den Romanen arbeiten Sie also auch ein Stück Familiengeschichte auf?Ich habe in Damaskus einmal mit Ahmed Jibril gesprochen, dem Anführer der Volksfront für die Befreiung Palästinas. Er sagte, dieser Konflikt gehe ja im Grunde zurück auf das Jahr 1917, als die Briten Palästina besetzten. Als ich ihm antwortete, dass meine Großonkel hier im Krieg waren, sagte er scherzhaft: „Dann ist das also alles Deine Schuld“. Natürlich empfinde ich in dem Sinne keine Schuld, aber vielleicht hat es mich veranlasst, den Krimi Ein Grab in Gaza zu schreiben.Warum bleibt Israel bis auf wenige eindringliche Szenen in Ihren Büchern außen vor?Das war eine bewusste Entscheidung. Ich möchte zeigen, wie der Alltag für die Palästinenser ist. Dass sie ihre Städte nicht verlassen können, es sei denn, sie bekommen eine Erlaubnis. Dass sie die Israelis eigentlich nie sehen, außer vielleicht bei nächtlichen Hausdurchsuchungen. Viel wichtiger ist, dass es Recht und Ordnung in ihren Städten gibt. Ich will nicht suggerieren, dass sie deswegen kein Problem mit den Israelis hätten – es ist ja offensichtlich, dass sie eines haben. Aber viel bedeutender ist es für sie, wie ihre eigenen Leute miteinander umgehen.Wie geht es ihnen damit?Die meisten Palästinenser haben das Gefühl, dass ihre Situation aussichtslos ist. Sie werden keinen Staat haben, jedenfalls nicht in absehbarer Zeit, und von der aktuellen politischen Situation erwarten sie nichts Gutes. Deshalb wollen sie wenigstens sicherstellen, dass sie einander nicht umbringen. Israel ist in meinen Büchern präsent, aber mehr als eine Art gefährlicher Schatten, der manchmal von Außen hereinbricht.Würden Sie sich als politischer Schriftsteller bezeichnen?Nein, das würde ich nicht sagen. Ich versuche nicht, zu erklären, wie Politik aussieht und wie die Dinge gelöst werden können. Was ich versuche zu zeigen, ist: Wenn die Politik in Krieg mündet oder in extreme Situationen, wie fühlt sich dann das Leben für die Menschen an? Wie gehen Menschen mit der Angst um, mit dem Tod oder mit dem Misstrauen? Ich schreibe keine politischen Romane. Im Kern geht es in meinen Büchern darum, wie Menschen mit dem Leben umgehen, das ihnen von Politikern aufgezwungen wird.Der Autor:Matt Beynon Rees wurde 1967 in Wales geboren. Er studierte in Oxford und an der Universität of Maryland und lebte sechs Jahre in New York, bis er 1996 als Korrespondent in den Nahen Osten kam. Von 2000 bis 2006 leitete er das Büro des Time Magazine in Jerusalem und berichtete unter anderem über die Intifada und ihre Folgen. 2007 erschien sein erster Kriminalroman Der Verräter von Bethlehem, der mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet wurde. Sein zweiter Krimi, Ein Grab in Gaza, ist soeben auf deutsch erschienen. Am Samstag, den 14. März, wird er ihn in Leipzig auf der Buchmesse vorstellen. Weitere Stationen seiner Lesereise in Deutschland sind Gustavsburg, Rüsselsheim, Marburg und Elmau.Hier führt der Autor an einen der Schauplätze seiner Krimis:
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