Der Freitag: Warum vertrauen die Menschen in der aktuellen Krise vor allem den Ökonomen und Technokraten? Die erleben im Moment ja geradezu eine Renaissance.
Colin Crouch: Tatsächlich wird ökonomisches Wissen heute in einer Weise gewürdigt, die mir völlig unverständlich ist. Gerade weil sich Wirtschaftswissenschaften auf einer intellektuellen Ebene mit den Dingen befassen, die weit vom realen, vom sozialen Leben entfernt ist. Ökonomen sind sehr abstrakte Menschen; sie gleichen eher Mathematikern. Und dennoch finden ihre Forschungsergebnisse und ihre abstrakte Theorie großen Nachhall in der Politik. Und sie werden auch von den Entscheidern im Finanzsektor verehrt. Diese Kluft zwischen ihrer Theorie und dem Leben ist sehr merkwürdig, schlicht eine Absurdität der letzten Jahrzehnte.
Aber hätte die Krise nicht automatisch die Macht der Ökonomen eindämmen müssen? Als eine Art logische Konsequenz.
Ja, das wäre in der Tat logisch gewesen. Doch gerade die von den mächtigen Euroländern geforderte Austeritätspolitik in den Krisenländern zeigt: In schlechten Zeiten greift die Politik auf einfältige, plumpe neoliberale Denkmuster zurück. Es zeigt sich also mal wieder, dass der Neoliberalismus das Ergebnis einer Ideenlosigkeit ist.
Das schreiben Sie ja in Ihrem neuen Buch Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus. Darin sagen Sie auch, dass der Neoliberalisms aus der Krise gestärkt hervorging. Vielleicht ist er am Ende doch erfolgreich?
Das ist das Perfide: Weder war er noch wird er je erfolgreich sein. Aber der Neoliberalismus ist mächtig, das schon. Zwei Eigenschaften haben ihm geholfen, so populär zu werden: erstens stellt er, ähnlich wie der Marxismus, eine Art Gebrauchsanleitung dar, die nicht nur einfach zu lesen ist, sondern auch anwendbar erscheint. Es gibt nur einige, wenige Grundannahmen, und von denen ausgehend, kann man sich die Wirklichkeit so zusammenbasteln, wie es einem beliebt. Der Neoliberalismus ist einfältig und keinesfalls modern. Viel entscheidender aber ist: dass die neoliberale Politik zweitens die Interessen der Reichen, also Mächtigen, abbildet; der Neoliberalismus sagt schlicht, was sie zu hören wünschen. Und sie wollen hören, dass ihre Steuern niedrig bleiben, dass man keinen Arbeitnehmerschutz oder gerechte Löhne braucht. Sie wollen hören, dass der Abbau des Sozialstaats Wachstum generiert. Ich bin davon überzeugt: Würde der Neoliberalismus nicht genau das sagen, was die Mächtigen gutheißen, wir würden die Ansichten dieser Ökonomen überhaupt nicht beachten. Es geht um Macht, um Interessen, aber nicht um Erfolg.
Und die Politik schaut dabei nur zu?
Max Webers einst vorausschauende Beschreibung der Politik als Berufsfeld ist heute längst zur Realität geworden. Politiker haben meist ihr ganzes Leben nichts anderes als politische Karrieren verfolgt. Sie verlassen die Universität, arbeiten in parteinahen Think-Tanks und warten darauf, in ein parlamentarisches Amt gehievt zu werden. Oft sind das nicht mehr als political animals, die den Strukturen und Abläufen, die sie vorfinden, wenig entgegenzusetzen haben.
1968 wurden Intellektuelle wie Jean-Paul Sartre zum Vorbild einer Bewegung, weil sie ihren Unmut über das System äußerten. Wo bleiben die Intellektuellen heute?
Ich glaube, dass nicht nur althergebrachte Intellektuelle wichtig sind, sondern auch praktizierende Ärzte, Lehrer, einfach alle Menschen, die über Wissen verfügen. Das muss nicht notwendigerweise politisches Wissen sein. Es geht mir vielmehr darum, dass sie in der Lage sind, orthodoxe Glaubenslehren wie den Neoliberalismus anzuzweifeln. Es geht um ein Klima, in dem alternative Themen und Meinungen zu den Mächtigen gelangen, gedeihen und wachsen, um schließlich zu deren Forderungen zu werden. In Großbritannien sind es gerade auch Rockstars, Schauspieler und Comedians, die offen Kritik üben. Sie spielen eine wichtige Rolle und haben heute mehr Einfluss als Intellektuelle, weil sie eine breitere Öffentlichkeit erreichen.
Im letzten Jahr haben ja Harvard-Studenten eine Vorlesung von Gregory Mankiw verlassen, um gegen seine neoliberale Wirtschaftslehre zu protestieren. Mankiw ist immerhin einer der wichtigsten Makroökonomen der USA und war Berater von George W. Bush. Haben Sie das Gefühl, dass es an den Unis heute wieder politischer zugeht?
Nach den Studentenrevolten der 68er-Bewegung ist es in den Hörsälen sichtlich ruhiger geworden. Die Studierenden haben sich angepasst und verhielten sich systemkonformer als früher. Doch seit den jüngsten Krisen spüre ich eine zunehmende Skepsis. Das Vertrauen, der Glaube der jüngeren Generationen in das etablierte System ist gebrochen. Das hat bestimmt auch mit einer kritischeren Einstellung gegenüber dem Neoliberalismus zu tun, obwohl ich davor zurückschrecke, über die Studenten pauschal zu urteilen. Das habe ich damals nicht getan und das mache ich auch heute nicht.
Aber ähnlich wie die Intellektuellen schweigen auch die meisten Universitätsprofessoren. Sie melden sich in gesellschaftlichen Debatten kaum mehr zu Wort.
Viele von ihnen durchlaufen im Moment eine Art fordistischen Prozess, wie ihn vor einem Jahrhundert viele Arbeiter erleben mussten. Der Druck wächst und ihre Arbeit wird an der Produktion von Artikeln in Fachzeitschriften gemessen. Nur das dient der Karriere. Das erschwert es freilich, überhaupt an allgemeinen, öffentlichen Debatten teilzunehmen. Junge Kollegen stehen nun vor der Wahl, einen solchen Artikel zu verfassen oder sich lieber in einer Debatte zu Wort zu melden. Die meisten entscheiden sich für ersteres und bleiben lieber still.
Im Moment erlangen neue soziale Bewegungen wie Occupy große Aufmerksamkeit, obwohl sie ohne einen geistigen Vordenker oder Star auszukommen scheinen. Sind das moderne und adäquate Protestformen, die wir in der Postdemokratie brauchen?
Absolut. Dieser Wandel ist nicht nur richtig und gesund, sondern auch urdemokratisch. Diese Bewegungen brauchen keine Kult- oder Symbolfiguren. Überhaupt hat niemand eine solche tragende Rolle verdient. Es ist für diese Protestgruppen fruchtbarer, wenn sie von einer Vielzahl von Aktivisten getragen werden. Sie sind praxis-tauglich, denn sie schaffen es, viele ganz unterschiedliche Bürger mit unterschiedlichstem Wissen zu vereinen. Vielleicht haben sie jetzt bereits mehr erreicht als die Intellektuellen der 68er-Bewegung. Denn die wachsende soziale Ungleichheit, die Macht des Kapitals, die Aushöhlung der Demokratie, das sind die Herausforderungen unserer Zeit. Nicht zuletzt Occupy hat es geschafft, dass die Politik nun Stellung beziehen muss und diese Themen mehr in den Fokus rücken. Vor fünf Jahren hat niemand über so etwas geredet. Es waren Randnotizen, mehr nicht. Heute dagegen treiben sie weltweit Aktivisten auf die Straße.
Dabei kann die Occupy-Bewegung, von außen betrachtet jedenfalls, in ihren Forderungen sehr vage und zerstückelt wirken.
Mag sein, aber das liegt gewissermaßen im Wesen solcher Bewegungen und ist kein Manko. Soziale Bewegungen sind meist flüchtig, sie verlaufen mit der Zeit. Nur in den seltensten Fällen besitzen sie eine Kontinuität. Sie bleiben aber ein wichtiges Gesellschaftsphänomen, weil sie Klarheit schaffen. Und mein Gefühl sagt mir, dass eine Organisation oder Struktur letztlich eine Bewegung diskreditieren, vielleicht sogar schwächen würde. Ihre Stärke liegt in ihrer Vielfalt, sie können jederzeit überall auftreten. Dadurch sind sie unverzichtbar, um das neoliberale System zu überwinden. Wir brauchen sie.
Wofür denn genau?
Das wirkliche Problem liegt nicht darin, dass es einen Mangel an Ideen gibt, sondern dass wir die Machtverhältnisse in einer globalisierten Welt mit deregulierten Finanzmärkten durchbrechen müssen. Die globale Finanzelite, dieser kleine Kreis von Menschen in abgeschotteten Bürotürmen, nimmt Einfluss auf andere Wirtschaftsbereiche und auf die Politik. Das muss zum Kern-thema werden.
Um welche Punkte müsste es denn dabei konkret gehen?
Diese Gruppe von Geld-Spielern ist sehr selbstbewusst und fühlt sich uns überlegen. Sie sind davon überzeugt, dass sie das Geschehen in ihrem Sinne beeinflussen können. Der Rest sind für sie Marionetten. Aber dieser Rest ist groß; es müssen soziale Bewegungen sein, die dieser Elite vor Augen führt, dass es so nicht weiter gehen kann. Die Finanzeliten müssen einsehen, dass auch sie Kompromisse zu schließen haben. Die schlichten Spardiktate, wie sie zurzeit Griechenland erfährt, sind nicht nur zu simpel, sondern höchst unsozial. Wir müssen mit unseren alternativen Ideen erfolgreich sein; die Politiker müssen gezwungen werden zuzuhören. Natürlich sind die Forderungen der Bewegungen oft vage, aber sie erschaffen ein politisches Klima, in dem Alternativen formuliert werden. Für deren Umsetzung brauchen wir dann vor allem einen Schulterschluss der politischen Linken.
Ihre Essays ließen in der Vergangenheit oft wenig Grund zur Hoffnung. Können Sie heute positiver in die Zukunft schauen?
Das hoffe ich! Meine Art zu schreiben bezieht sich auf die Idee der Dystopie, dem Gegenteil der Utopie. Ich will, dass die Leser am Ende denken: „Oh nein! So ist es wirklich?“ Schlussendlich will ich überzeugt werden, dass ich falsch liege. Ich will die Menschen mit meinen Ansichten warnen, sie sollen erkennen, dass der aktuelle Weg der falsche ist. Aber es ist zu früh zu sagen, ob ich recht behalte. Bedauerlicherweise wurde meine These, dass der Neoliberalismus gestärkt aus der Krise hervorgegangen ist, auch durch die politischen Maßnahmen und Reaktionen in der Eurokrise bestätigt. Ich hoffe sehr, ich werde da noch eines Besseren belehrt.
Aber in Amerika und England sind die Unis sehr stark mit der Privatwirtschaft verknüpft und werden von ihr finanziert. Gibt es dort eigentlich noch so etwas wie eine freie Lehre?
Diese zunehmende Offenheit der Universitäten gegenüber Wirtschaftsunternehmen verstört mich. Zumal das Besondere an dieser Macht doch ist, dass mächtige und einflussreiche Personen sie fast nie aktiv ausüben und direkt einsetzen müssen – es genügt, dass die anderen davon wissen. Das ist an den Universitäten nicht anders als anderswo und erschwert es deshalb ungemein, Einflussnahme konkret nachzuweisen und zu verstehen. Aber die Universitäten müssen sich immer fragen: Wie unabhängig sind wir?
Colin Crouch, geb. 1944, ist ein britischer Politikwissenschaftler und Soziologe, der 2004 mit dem Buch
Post-Democrazy
international bekannt wurde. Darin vertrat er die These, dass die öffentliche Inszenierung der Politik eine des Scheins ist, während die eigentlichen Entscheidungen in die Hinterzimmer verdrängt worden sind. 2011 erschien sein neues Buch
The Strange Non-Death of Neoliberalism
(Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus. Postdemokratie II).
Crouch legt darin dar, wie die aktuelle Finanzkrise den Neoliberalismus gefestigt und gestärkt hat. Das Gespräch führten
Fabian Heppe und
Marius Mühlhausen
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