Der Freitag: Schwarz-Gelb in Berlin hangelt sich von Krise zu Krise. Trotzdem hätte Rot-Grün derzeit keine Regierungsmehrheit. Was macht die SPD falsch?
Sigmar Gabriel: Anscheinend nicht so ganz viel, wie man an der Zahl der gewonnenen Landtagswahlen sieht. Viele Schlaumeier – auch aus Ihrem Berufsstand – erzählen uns seit zwei Jahren, was passieren wird. Und drei Monate später geschieht das genaue Gegenteil. Ich rate uns, diese Selbstbespiegelung nicht mitzumachen, sondern Themen zu beackern. Im Kern geht es um die Überwindung der wachsenden sozialen und kulturellen Spaltung in Deutschland. Die letzten Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein haben gezeigt, dass Rot-Grün trotz der Piratenpartei eine eigene Mehrheit gewinnen kann. Nicht wir haben ein Problem, sondern Angela Merkel. Denn sie wird nach der nächsten Bundestagswahl keinen Koalitionspartner mehr haben.
Sie wollen nicht mit ihr regieren?
Ganz sicher nicht.
Was macht Sie so selbstbewusst? Von der Krise der Linkspartei konnte Ihre Partei bisher kaum profitieren.
Wie kommen Sie denn darauf? Wir haben in Nordrhein-Westfalen zugelegt, ebenso in Schleswig- Holstein oder im Saarland. Es ist doch offensichtlich, dass wir Wähler der Linkspartei zurückgewinnen. Das sind Wähler, die über unsere Politik verärgert waren und nun feststellen, dass wir uns zu unseren Fehlern bekennen und es beim nächsten Mal besser machen wollen und werden.
Kommen auch Linkspartei-Mitglieder zur SPD zurück?
Ja, vor allem aus dem Gewerkschaftslager. Unser Verhältnis zu den Gewerkschaften ist inzwischen sehr entspannt. Die SPD hat in der Vergangenheit Fehler gemacht, insbesondere bei der zu starken Deregulierung des Arbeitsmarkts. Das ließ sich damals alles gut begründen, weil es Arbeitslosigkeit auf der einen Seite und gigantische Überstunden auf der anderen Seite gab. Leih- und Zeitarbeit als Chance zur Flexibilität anstelle von Überstunden war keine dumme Idee. Aber statt Flexibilität ist inzwischen ein gigantischer Niedriglohnsektor entstanden mit vielen schlecht bezahlten Jobs. Das wiederum hat den Druck auf die Tariflöhne stark erhöht. Dass die SPD diese Fehler erkannt und glaubwürdige Alternativen entwickelt hat, wird bei den Gewerkschaften wahrgenommen.
Rot-Rot-Grün ist für Sie eine Option ohne Zukunft?
Auf Bundesebene ja. Die Linkspartei besteht aus zwei Parteien, die sich in abgrundtiefer Abneigung gegenüberstehen. Gregor Gysi spricht sogar von gegenseitigem Hass. Wie sollte man mit einer solchen Partei eine Koalition eingehen? Man wüsste ja nicht, ob das, was man gerade mit dem einen Teil dieser Partei verabredet hat, morgen für den anderen Teil noch verbindlich ist. Die Linkspartei ist als bundespolitische Kraft schlicht überflüssig und es ist tragisch, dass viele kluge Leute, die für Deutschland viel Gutes bewirken könnten, dort ihre Kraft in sektenhaften Kämpfen vergeuden.
Halten auch Sie die Piraten für ein Phänomen des Zeitgeistes?
In gewisser Weise ja, denn einerseits sind die Piraten Ausdruck des Wunsches nach größtmöglicher Individualität – im Zweifel auch auf Kosten der Allgemeinheit wie man an den Positionen zum Urheberrecht oder zum bedingungslosen Grundeinkommen sieht. Andererseits sind sie fast die logische Folge einer Entwicklung, bei der Politik immer mehr auf die Erscheinungsebene verschoben wurde und es immer weniger um Inhalte und Substanz geht. Die Etiketten jung, modern, netzaffin reichen aus. Ich gebe zu: Mein Politikverständnis ist das nicht.
Da prallen also verschiedene Grundsätze aufeinander?
Ja, wir haben sicher sehr unterschiedliche Vorstellungen von dieser Gesellschaft. Freiheit und Individualität, ein selbstbestimmtes Leben sind für uns Sozialdemokraten untrennbar mit Verantwortung und Solidarität verbunden. Es sind zwei Seiten einer Medaille. Die praktische völlige Indienstnahme der Gesellschaft für meine Individualansprüche halten wir für Anmaßung. Nehmen Sie das Ur-heberrecht: Die Forderung, dass man für die Nutzung von geistigem Eigentum praktisch nichts zahlen soll, empfinde ich als eine massive Entwertung von geistiger Arbeit. Oder die Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen, für das ja irgendjemand wird bezahlen müssen. Aber die Piraten sind noch eine sehr junge Partei und in ihrer Anlage durchaus links-liberal. Man wird sehen, wie sie sich weiterentwickelt.
Was haben Sie gegen das Grundeinkommen?
Wir werden in den kommenden Jahrzehnten erstmals seit langem mehr Arbeitsplätze als Arbeits-kräfte haben. Wenn die Aufnahme von Erwerbsarbeit – sofern man gesund ist und nicht durch die wirtschaftlichen oder sozialen Bedingungen in die Arbeitslosigkeit gezwungen wurde – nicht mehr Voraussetzung ist, ein Einkommen oberhalb des Existenzminimums zu erzielen, wird das ja irgendwer bezahlen müssen. Im Ergebnis bezahlen diejenigen, die sich der Erwerbsarbeit stellen, die Individualitätsansprüche derjenigen, die ihr Hobby zum Beruf machen wollen, damit aber nicht genug Geld verdienen. Das ist die Sozialisierung der Kosten einer individuellen Lebensentscheidung, und das halte ich für unfair und unsozial. Ich kann und will keine Krankenschwester im Schichtdienst zur Kasse bitten, um Menschen mit guter Ausbildung von den Ungemütlichkeiten des Arbeitsmarktes zu verschonen. Ich bin dafür, gesetzliche Mindestlöhne einzuführen, Leih- und Zeitarbeit zu begrenzen und vor allem gleichen Lohn für gleiche Arbeit zu zahlen. Aber ich will nicht die sozialen, kulturellen und ökologischen Leistungen unseres Landes aufs Spiel setzen, indem wir die Arbeitsgesellschaft ruinieren.
Darum geht es doch gar nicht. Die Frage ist doch, ob eine Gesellschaft auch jenseits von ökonomischen Verwertungszwängen funktionieren kann.
Unsere Gesellschaft funktioniert bereits tausendfach jenseits ökonomischer Verwertungszwänge: im freiwilligen und ehrenamtlichen Engagement in der Kultur, in Wohlfahrtsverbänden oder im Umweltschutz. Aber das heißt doch nicht, dass ich ein 80-Millionen-Volk im Zentrum Europas ohne die Verwertung von Waren und Dienstleistungen nachhaltig sozial, wirtschaftlich, kulturell und ökologisch erfolgreich halten kann. Was soll diese Phrase „jenseits von ökonomischen Verwertungszwängen“ eigentlich heißen? Keine Industrieproduktion mehr? Keine Kasse – und keine Kassiererin – mehr beim Aldi? Ich halte nicht viel von derlei Phantasien einer anstrengungslosen all-for-free-Gesellschaft, weil sie den Blick für die Realitäten verstellt. Es geht nicht um die Abschaffung der Erwerbsarbeit, sondern um eine faire Bezahlung und gerechte Teilhabe. Ich halte es für keine kluge Idee, jemanden das Zugeständnis zu machen, dass er nicht arbeiten muss, wenn er keine Lust dazu hat. Den Wert der Arbeit darf ein Sozialdemokrat nicht ruinieren.
Finanziell wäre ein Grundeinkommen aber kein Problem.
Die Befürworter des bedingungslosen Grundeinkommens wollen den Spitzensteuersatz raufsetzen, die Kapitalbesteuerung erhöhen, eine Vermögenssteuer einführen. Da kann ich nur sagen: Ja, das müssen wir alles machen – aber um in ganz andere Dinge zu investieren. In mehr Bildung, in die Energiewende und in die soziale und kulturelle Wiederbelebung unserer Städte und Gemeinden. Man kann das Geld nur einmal ausgeben.
In Frankreich haben Hollande und seine Sozialisten mit einer sehr linken Agenda eindrucksvolle Wahlerfolge erzielt. Ist Hollande für die SPD ein Vorbild?
Mit dem neuen französischen Präsidenten gibt es in Europa endlich die Chance, eine Alternative zur bisherigen Krisenpolitik zu entwickeln. Sogar Merkel will jetzt plötzlich Wachstum und Beschäftigung stärken. Zum Glück ist diese brandgefährliche Austeritätspolitik nun zu Ende. Das alles hätte es ohne den Wahlsieg von Hollande doch nicht gegeben
Was haben Sie konkret gelernt? Dass man hohe Vermögen mit 75 Prozent versteuern sollte?
Das sicher nicht. Dieser Vorschlag brächte mir zu wenig Einnahmen, denn er soll ja erst bei Vermögen von einer Million Euro gelten.
Was würde denn weiter helfen?
Zum Beispiel, die Vermögenssteuer wieder einzuführen und den Spitzensteuersatz auf breiter Basis anzuheben. Das würde einiges an Einnahmen bringen. Dahinter steckt aber der gleiche Ansatz: Die Rückkehr des Staates in die Politik. Die Politik ist 30 Jahre lang diskreditiert worden, auch wir Sozialdemokraten haben da zum Teil mitgemacht, weil wir dachten, wir müssten diesem Trend nachgeben. Wir erleben jetzt die Rückkehr politischen Handelns. Die Menschen wollen Regeln, für die Gesellschaft, für die Märkte, für die Ökonomie. Und sie wollen, dass diese Regeln demokratisch legitimiert sind.
Ist das auch der Grund für den Erfolg von Alexis Tsipras in Griechenland?
Er artikuliert das Bedürfnis der Menschen, die nicht das ausbaden wollen, was andere zu verantworten haben. De facto ist das Land über Jahrzehnte von einer vermeintlichen Elite ruiniert worden. Griechenland ist ja eher ein Fall für die Weltbank als für den IWF. Die müssen einen funktionierenden Staat aufbauen, die Schulden sind da fast zweitrangig.
Ist Tsipras ein verlässlicher Politiker?
Da habe ich Zweifel. Mir hat er im Gespräch gesagt, er wolle ja gar nicht alle Verträge mit der EU aufkündigen. Aber zu Hause macht er einen Wahlkampf, in dem er genau das verspricht. Grundsätzlich gilt: Links sein hat immer auch einen aufklärerischen und emanzipatorischen Geist. Volksverdummung ist nicht links.
Gibt es eine Alternative, um den Griechen aus der Krise zu helfen?
Es wird in der EU langfristig Transferzahlungen des reichen Nordens an den armen Süden geben. Deutschland ist als Staat zwar Nettozahler in der EU, aber auf der privaten Seite sind wir Nettogewinner. Deshalb ist es auch gerechtfertigt, dass wir mithelfen, in Europa annähernd vergleichbare Lebensverhältnisse zu erreichen.
Die Situation im Moment ist kippelig. Halten Sie es für möglich, dass der Euro scheitert?
Das sollten wir nach Kräften verhindern. Aber die Kosten, um dies sicherzustellen, kann derzeit niemand mehr genau überblicken. Und das ist gefährlich.
Die Märkte wollen doch nur beruhigt werden.
Ja, aber was heißt „beruhigt“? Strikte Austerität reicht anscheinend nicht, denn selbst die Rating-Agenturen weisen auf die dabei zusammenbrechende Wirtschaft und die Vergrößerung der Schulden hin.
Ein ganz anderes Thema zum Schluss: Wie sind denn Ihre Erfahrungen mit Twitter und Facebook?
Das macht mir großen Spaß. Ich halte allerdings nichts von Überhöhungen. Das ist ganz normale Bürgerkommunikation – nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Ist das nicht der schnellste Weg, sich zu blamieren?
Ach, dafür gibt es auch viele andere Möglichkeiten.
Und Ihr umstrittener Eintrag von der Israel-Reise?
Ich glaube kaum, dass die Beschreibung einer schrecklichen Realität eine Blamage ist. Höchstens ein Verstoß gegen die „political correctness“. Aber das ist nicht so schlimm.
Twitter und Facebook sind sehr direkte Kanäle in der Kommunikation mit dem Wähler. Ist das gut oder schlecht?
Jede Form der direkten Kommunikation ist gut – auch wenn das manchmal ein bisschen anstrengend ist. Aber ich weiß auch, dass in meinem Wahlkreis vermutlich 99 Prozent der Menschen nicht lesen, was ich bei Twitter schreibe. Trotzdem sind die sozialen Netzwerke wichtig. Sagen Sie mal, Sie haben mich noch gar nicht gefragt, wer SPD-Kanzlerkandidat wird?
Das wollten wir uns und Ihnen eigentlich ersparen. Aber jetzt, wo Sie auf das Thema kommen: Wie heißt er denn?
Einer wird‘s schon machen.
Das dachten wir uns.
Sigmar Gabriel, 52, übernahm das Amt des SPD-Bundesvorsitzenden 2009 nach der dramatischen Wahlschlappe der Sozialdemokraten bei der Bundestagswahl. Zuvor war er während der Großen Koalition von 2005 bis 2009 Bundesumweltminister gewesen. Seinen politischen Aufstieg hatte der einstige Berufschullehrer aus Goslar in der niedersächsischen Landespolitik genommen: Von 1999 bis 2003 war er sogar Ministerpräsident, verlor dann aber die Wahl Die Fragen stellten Philip Grassmann und Verena Schmitt-Roschmann
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.