52 Bücher in 52 Wochen

Alltagslektüre Wohin entflieht man am besten der Realität? "Der amerikanische Ritter" entscheidet sich für das Mittelalter. Mikael Krogerus liest den gleichnamigen Roman von Tod Wodicka

Seitenzahl: 298 Seiten.

Amazon-Verkaufsrang: 171.016.

Warum habe ich es gelesen?

Ich hatte letzte Woche von Fabio Stassi „Die letzte Partie“ begonnen. Ein furchtbar gut geschriebener, furchtbar ernstgemeinter Roman über den Schachgott José Capablanca. Werde ihn sicher eines Tages zu Ende lesen, aber als ich plötzlich die Möglichkeit erhielt, den US-Schriftsteller Tod Wodicka – so etwas wie die Antithese zu einem Schachgott – zu interviewen, warf ich „Die letzte Partie“ fort und griff nach seinen Roman „Der amerikanische Ritter“. Es ist Wodickas Erstling und ohne zuviel verraten zu wollen: ein Hammerbuch.

Worum geht es?

Das Buch handelt von Flucht. Nicht von der dramatischen Flucht vor Gestapo-Schergen oder drohender Hungersnot. Nein, es geht mehr um jene wenig heroische Flucht vor uns selbst. Hauptdarsteller ist der 63-jährige Witwer Burt Ackert, der sich auf eine extreme Art dem Mittelalter verschrieben hat: Er wäscht sich nicht mehr, trägt nur Kutten und Sandalen, betrinkt sich mit dem Mittelalter-Bier Met und antwortet auf die Frage, in welchem Jahr wir leben: „Anno Domini 1996“. Er ist, logisch, auf der Flucht vor der Realität. Das Buch beginnt mit der Pilgerreise seiner Mittelalter-Gesellschaft ins Rheinland zur 900-Jahres-Feier von Hildegard von Bingen.

Nicht ganz Ihre Abteilung? Dachte ich auch, las aber weiter. Nach 40 Seiten merkt man, dass Burt zwar ein Ekel, aber auch ein witziger Beobachter ist: Eine der Pilgerreisenden, eine echte Nervensäge, bekreuzigt sich, indem sie „Löcher in die Luft bohrt, als würde sie die Notrufnummern in eine Telefontastatur hacken“, notiert Burt kühl.

Ungefähr nach der Hälfte des Buches wechselt der Autor den Tonfall. Er wird nachdenklicher, zärtlicher. Wir erfahren, dass die Reise nach Europa nur vordergründig ein mittelalterliches Spektakel ist, tatsächlich versucht Burt all seine groben Entgleisungen und folgenreichen Vergehen in einem gewaltigen Canossa-Gang wiedergutmachen: Er will seinen Sohn, der sich von ihm abgewendet hat und in Böhmen lebt, zurückgewinnen. Klassischer Vater-Sohn-Stoff dachte ich. Und irrte schon wieder. Wodickas Happy-Ends sehen ein bisschen anders aus: Auf den letzten 150 Seiten braut er einen fürchterlichen Trank aus menschlichen Abgründen, quälendem Alkoholismus und richtig klugen Sätzen zum Unterstreichen. Ein Buch wie ein Glas zu viel. Es bereitet Kopfschmerzen, aber es macht auf eine merkwürdige Art glücklich.

Was hängen bleibt:

Während ich dies schreibe, denke ich, dass das Buch vielleicht gar nicht von Realitätsflucht handelt, sondern von diesem furchtbaren Moment, in dem wir das ganze Ausmaß unseres beschissenen Verhaltens erkannt haben. Und von den fatalen Fehlern, die wir anschließend begehen im Versuch, die Situation zu retten.

Wie liest es sich?

Tod Wodicka zu lesen macht Lust, selber zu schreiben.

Das beste Zitat:

(Der verwahrloste Burt wird von einem seiner wenigen Freunde konfrontiert:)
“Mein Gott, guck dich bloss mal an. Hast du denn überhaupt mit Tristan oder June gesprochen?“. Tristan mein Sohn, June meine Tochter. „Das hat nichts mit ihnen zu tun“, log ich. Ich stellte mein Weinglas vorsichtig auf dem Nachtkästchen ab. Ich nahm es wieder in die Hand.

Wer sollte es lesen?

Menschen, die an folgender Formel Gefallen finden: Wodicka = Bukowski mal Sir Walter Scott hoch Nabokov.

Was lese ich als nächstes?

Vielleicht „Die letzte Partie“ von Fabio Stassi, vermutlich aber „Auto: Warum wir fahren, wie wir fahren und was das über uns sagt“ von Tom Vanderbilt.


Kommende Woche auf freitag.de: Mikael Krogerus' Interview mit Tod Wodicka. Stattgefunden hat es in einer Kneipe in Berlin-Neukölln.

Die Alltagslektüre: In seiner Kolumne unterzieht Freitag-Autor Mikael Krogerus jede Woche ein Buch seinem persönlichen Literatur-Check. , und Zuletzt: Hans Fallada, "Sachlicher Bericht über das Glück, ein Morphinist zu sein"Stephenie Meyer, "Bis(s) zum Morgengrauen"Rob Parsons, "Der 60-Minuten-Vater"

Nur für kurze Zeit!

12 Monate lesen, nur 9 bezahlen

Freitag-Abo mit dem neuen Roman von Jakob Augstein Jetzt Ihr handsigniertes Exemplar sichern

Print

Erhalten Sie die Printausgabe zum rabattierten Preis inkl. dem Roman „Die Farbe des Feuers“.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag zum Vorteilspreis und entdecken Sie „Die Farbe des Feuers“.

Zur Digital-Aktion

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden