60 Jahre Eichmann-Prozess: Als das Radio alle erreichte

Hörspielpreis Die weltweite Ausstrahlung der Prozessberichterstattung gab den Überlebenden der NS-Verbrechen eine Stimme. Wer die Aufklärung ernst nimmt, muss das auch für die Gegenwart verlangen
Ausgabe 46/2021
Das Studio im Beit Ha'Am, aus dem man den Prozess von Adolf Eichmann aufnahm
Das Studio im Beit Ha'Am, aus dem man den Prozess von Adolf Eichmann aufnahm

Foto: Keystone/Hulton Archive/Getty Images

Der Deutsche Hörspielpreis der ARD 2021 ging gerade an zwei deutsch-israelische Radioproduzenten, Noam Brusilovsky und Ofer Waldman. Ausgezeichnet wurde ihr Hörspiel Adolf Eichmann: Ein Hörprozess. Der Hauptorganisator der Ermordung der europäischen Juden stand 1961 in Jerusalem vor Gericht. Zum 60. Jahrestag des Prozesses beleuchten die beiden Künstler und Radiomacher die gesellschaftspolitische Bedeutung der damaligen Radioübertragungen – Fernsehen gab es in Israel seinerzeit noch nicht. Ein Jerusalemer Konzertsaal wurde zur internationalen Nachrichtenzentrale, der Radiosender Kol Israel („Stimme Israels“) berichtete rund um die Uhr über den historischen Prozessverlauf, und zwar live. Das Radio erreichte jeden israelischen Haushalt, selbst Landwirte hörten beim Melken zu. Wer unterwegs war, erwarb einen tragbaren Transistor, lauschte der Berichterstattung im Café, Taxi oder am Kiosk.

Die Wahrheit über die Geschehnisse kam nun laut hörbar über den Äther an den Tag; weltweit waren die Menschen mit den Tatsachen der Judenvernichtung konfrontiert. Mit dem SS-Obersturmbannführer Eichmann saßen indirekt auch alle weiteren Verantwortlichen des Holocaust auf der Anklagebank. Die Überlebenden zwang das, sich mit ihren Erinnerungen auseinanderzusetzen, und viele brachen endlich ihr Schweigen. Erstmals bekamen sie öffentlich eine Stimme, sie überwanden die Angst, man werde ihnen die Berichte über die erlebten Ungeheuerlichkeiten nicht glauben. Ihre Aussagen im Zeugenstand hoben ihr Schicksal und das ihrer Toten aus der Anonymität, entrissen es dem Vergessen. Viele Zuhörer:innen empfanden das als Genugtuung und Erleichterung. Das Radio drang tief ins Private und wurde in Israel gleichzeitig zum kollektiven, einigenden Erlebnis, zu einer „nationalen Katharsis“, so der Historiker Tom Segev.

Brusilovsky und Waldman verbinden O-Töne mit den Erinnerungen des damaligen Leiters der Nachrichtenabteilung sowie den Reaktionen von Hörer:innen. Die Dramaturgie wird unterstützt von Alltagsgeräuschen und -stimmen. Die Jury lobte, dass die Macher uns „mit genuin radiophonen Mitteln“ eine junge demokratische Gesellschaft „in intensiver Diskussion um das Schicksal der Juden und die Gegenwart und Zukunft des Staates Israel“ nahebringen.

Einen Hörprozess nannten die Produzenten ihr Stück. Es ging ihnen nicht nur um das Verfahren gegen einen der größten Verbrecher gegen die Menschlichkeit, sondern wohl genauso um den Prozess des Hörbarmachens und Gehörtwerdens. Zuhören ist mindestens so erkenntnisstiftend und konstruktiv wie das Sprechen. Wurde das Radio in der NS-Zeit zur Gleichschaltung der Bevölkerung missbraucht, so kann es als Säule einer demokratischen Gesellschaft aufklärerisch wirken. Darin hat dieses Medium nichts an politischer Bedeutung verloren. Einige wenige der noch lebenden NS-Täter stehen derzeit vor Gericht, extrem spät, doch gerade noch rechtzeitig. Auch in diesen Verfahren bekommen die Überlebenden endlich die Gelegenheit, ihre Geschichten zu erzählen. Das Radio bleibt ein einflussreiches Mittel, das ihren Stimmen und Erinnerungen Gehör verschaffen könnte. Eine intensive Prozessberichterstattung, ähnlich der von damals, wäre ein starkes Signal an all jene, die den Schlussstrich wünschen oder die NS-Zeit gar als Vogelschiss betrachten: Die Vergangenheit ist nicht vergangen und Mord verjährt nicht.

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