Robert Wolfgang Schnell ließ sich nicht gern drängen. Mahnte Luchterhand, sein Stammverlag, den Abgabetermin eines Manuskripts an, drohte er regelmäßig mit Kündigung. Denn in Ruhe verrecken, so schrieb er dem Verlagschef Eduard Reifferscheid einmal, könne er auch ohne Faust im Nacken.
Reifferscheid aber war vom Talent des zanksüchtigen Autors derart überzeugt, dass er sich immer wieder etwas Neues einfallen ließ, um ihn bei Schreiblaune zu halten. Wie das aussehen konnte, berichtete Schnell im August 1965 seinem Freund Johannes Bobrowski, dem berühmten Dichter aus Ostberlin: „Er will mich einschließen, meinen Aufenthalt bezahlen, und für jede fertige Seite eine Flasche Wein stiften“.
Reifferscheids Plan, um den säum
Plan, um den säumigen Autor an den Schreibtisch zu locken, war durchaus vielversprechend. Denn für Schnell war Alkohol eine zwar flüssige, doch harte Währung. In seiner Westberliner Wahlheimat galt er als der Trinkfesteste aus der ohnehin nicht trinkfaulen Künstlerbande. Viel Erfolg hatte Reifferscheid mit seiner Weinlist aber dennoch nicht: Schnells Roman Erziehung durch Dienstmädchen, um den es seinerzeit ging, erschien erst drei Jahre später, im Herbst 1968. Es sollte das bekannteste Buch eines Autors sein, der als großer Außenseiter in die Geschichte der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur eingegangen ist.Moosmädchens AbenteuerAm 8. März wäre Schnell 100 Jahre alt geworden.Geboren wurde Schnell 1916 im rheinländischen Barmen, das bald Teil des neu gegründeten Wuppertal werden sollte. Sein Elternhaus war fromm, staats- und kaisertreu, gleichzeitig kulturbeflissen. Und Robert Wolfgang erwies sich als begabter Schüler in Sachen Kunst: Mit elf Jahren schrieb er sein erstes Drama mit dem Titel Moosmädchens Abenteuer, zeigte gleichzeitig außergewöhnliches bildnerisches Geschick, spielte Klavier und lernte Trompete.Doch ein reiferer Apfel fällt mitunter eben doch recht weit vom Stamm: Als Halbwüchsiger trat Schnell dem Jugendverband der Anarcho-Syndikalisten bei und beendete seine erfolglose Schulzeit, indem er sich eigenhändig von der Schule abmeldete – mit der gefälschten Unterschrift seines Vaters.An der Universität Köln schrieb sich Schnell anschließend als Gasthörer für Komposition und Instrumentation ein. Doch trieb er sich lieber in Wuppertal als im Hörsaal herum. In seiner Heimatstadt heiratete er 1935, zwei Jahre nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten, die 17 Jahre ältere Malerin Else Vollenbroich.Sie führte Schnell in die Künstlerszene der Stadt ein, in der er bald die Charakterrolle finden sollte, die er sein Leben lang ausfüllte: die des rüpelhaften, launisch-lustigen Bohemien. Was das im Bergischen Land bedeutete, brachte Paul Pörtner, ebenfalls Autor aus Wuppertal, später einmal auf den Punkt: „das Proleten-Gebaren, das scherzhafte Randalieren, die Freude an der Beschimpfung, die humorige Parodie der Streitsucht, das Radaubrüder-Spiel.“ Mit Anfang 20 war Schnell durch und durch antibürgerlich, liebte die Kunst, die Kneipen und ihren Slang.Habitus eines RadaubrudersDamit kam er an, aber nicht überall: 1937 wurde Schnells Antrag zur Aufnahme in die Reichskammer für Bildende Künste negativ beschieden. Das lag zum einen an seinem Radaubruder-Habitus, zum anderen aber auch an seiner Malerei, die so gar nicht zum idealisierten Nazi-Naturalismus passte.Da die Ablehnung einem Berufsverbot gleichkam, verdingte sich Schnell zunächst als Hilfsarbeiter, bis er 1941 ans deutsche Theater ins besetzte Den Haag kam. 1944 wurde er in die Reichswehr eingezogen, doch Karriere macht er auch dort nicht: Kaum angekommen, wurde Schnell schon wegen Defätismus angeklagt. Er desertierte und schmuggelte sich, so die Legende, in einem Flüchtlingszug in seine rheinische Heimat.Doch bereits 1948 zog es ihn weiter nach Berlin. Dorthin, in die schmutzige, rohe, lebendige ehemalige und zukünftige Hauptstadt passte er wie der sprichwörtliche Arsch auf Eimer. Meistens ließ er sich durch die Kneipen- und Kunstszene der Stadt treiben, notabene arbeitete er als Kohlenträger, Restaurator, Theaterregisseur, Schauspieler, Drehbuchautor, Journalist und Maler.Dieses künstlerische Vagabundenleben verstetigte Schnell 1959, als er mit seinen Gesinnungs- und Trinkbrüdern Günter Bruno Fuchs und Günter Anlauf die Hinterhof-Galerie zinke in Kreuzberg gründete. Die zinke hielt sich nur drei Jahre, wurde aber trotzdem legendär: Sie war ein dreckiges Miniatur-Montmartre, ein Ort der Kunst- und Alkoholexzesse, Lesesaal, Galerie und kostenloser Schlafplatz in einem, Anlaufstelle für „böse Buben, unakademische Marodeure, Störenfriede“, zu denen sich seinerzeit auch die junge Prominenz aus West und Ost wie Günter Grass und Manfred Bieler zählte.Doch die einheimischen Arbeiter, denen das Gründertrio mit der zinke die Angst vor der Kunst nehmen wollte, kamen nur selten zu Besuch. Das war einer der Gründe, warum die Galerie 1962 wieder schloss. Schnell versuchte die Schließung zu überwinden, indem er, bereits auf die 50 zugehend, sein erstes Buch veröffentlichte: Im Lama Verlag in München erschien Die wahre Wiedergabe der Welt.Frische Luft war ihm ein GrausAm Lesepublikum ging die wahre Wiedergabe zunächst weitgehend vorbei. Das Buch, vom Verleger eigenwillig gekürzt, wurde bald verramscht. Als sein eigentliches Debüt sah Schnell deswegen seinen Erzählband Mief, der 1963 erschien, und zwar im weitaus bekannteren Luchterhand Verlag, wo er zum Programmnachbarn von Grass und Anna Seghers wurde. Mief war nicht nur Titel, sondern auch Programm: Schnell schrieb über das Kneipendickicht, das er liebte, über die Quassler, Gammler und Penner, die sich dort herumtrieben. Der Mief war gleichsam seine Atemluft. Täglich rauchte er 80 filterlose Zigaretten. Frische Luft war ihm ein Graus, seit er zum Kriegsende in der Nähe von Osnabrück als Landarbeiter geschuftet hatte.Zwei Jahre später, als sein „Nachschlüssel zum Berliner Leben“ namens Geisterbahn erschien, fand auch das Feuilleton langsam Gefallen an dem eigenwilligen Erzähler. Doch mit den Verehrern meldeten sich die Kritiker: Das Milieu, das Schnell schildere, verkomme in seinen Texten zur anachronistischen Idylle, in der sich keine Figuren, sondern „Proletkult-Fossile“ (Der Spiegel) tummeln.Dem Autor fehle die Distanz, seine Prosa sei zu emotional und formal zu schlicht. Andere wiederum lobten gerade die einfache Machart. Mit den Worten des Ost-Berliner Starkritikers Kurt Batt: „Mozart und sogar noch die Drehorgel stehen ihm allemal näher als Beat und Soul.“Schnell focht das nicht an. In seiner Erzählung Mädchen oder die Ablösung der Politik fand sich eine Art poetologisches Statement: „Was ich erzählen kann, hat gewiss nicht viel Tiefsinn. Es ist mehr von Saufen oder von Liebe, von allen Arten der Unzulänglichkeiten, mangelnder Beziehung zur Vernunft, die Rede.“ Sich selbst nannte er einen Arbeiter im ästhetischen Bereich, um sich von den Dichtern abzugrenzen. Und seinem Roman Erziehung durch Dienstmädchen setzt er neben einem Tolstoi-Zitat auch eine Motto der Berliner Bäckermeister voran: „Das Brotkörbchen bestimmt die Freiheit.“Kindheit im Bergischen LandAuf Erziehung durch Dienstmädchen hatte die literarische Öffentlichkeit seit Mitte der 1960er Jahre gespannt gewartet. Der Roman war auch eine Beschäftigung mit Schnells eigener Kindheit im Bergischen Land, erzählt durch den Protagonisten Ernst Brück. Der fünfjährige Junge schildert, wie der Ruhrkampf im März 1920 in sein Familienidyll einbricht. Ernst empfindet instinktive Sympathie für die Angestellten und Arbeiter im Umfeld seines großbürgerlichen Elternhauses, das von der Roten Ruhrarmee zum Stabsquartiert im Kampf gegen die Freikorpstruppen genutzt wird.Dass er mit der Erziehung thematisch und stilistisch Großes geleistet habe, davon war Schnell überzeugt. Die Abrechnung seines Verlags sprach aber eine andere Sprache, wie der Autor frustriert erklärte: „achtzehn Mark fünfundsechzig“.Verkaufserfolge wurden auch die folgenden Bücher wie Junggesellen-Weihnacht (1970) oder Eine Tüte Himbeerbonbons (1976) nicht.Deutlich besser gingen hingegen Kinderbücher wie Pulle und Pummi über den Ladentisch. Doch sein täglich Brot und Bier konnte er auch davon nicht bezahlen, weshalb Schnell weiterhin als Schauspieler arbeitete. Einem breiten Publikum wurde er 1978 als Hafenpastor Blacky in der Serie MS Franziska bekannt.Zum Mainstream-Menschen wurde Schnell aber ungeachtet seines späten Fernseherfolgs nicht. Und genau deswegen war ihm seine Wahlheimat Berlin zunehmend fremd. Die literarische Boheme, von den politisch engagierten Autoren und Studenten der 68er ohnehin argwöhnisch beobachtet, war schon in den 1970er Jahren zerfallen. Er, der Bohemien auf Lebenszeit, blieb trotzdem in den Kneipen sitzen. Und obwohl er in seinem Freundeskreis immer wieder entschuldigende Sarkasmen über seine „Todkrankheiten“ fallen ließ, die ihn, so seine Empfindung, zum Sklaven von Medikamenten und Diätvorschriften machten, blieb er sich treu.Als Robert Wolfgang Schnell zu seinem 70. Geburtstag, nur wenige Monate vor seinem Tod am 1. August 1986, in eine Berliner Kneipe lud, lautete das Motto: „Wer bis 15 Uhr nicht besoffen ist, der muss selber zahlen.“
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