99 Prozent? Das sind wir!

Bildergalerie Die Menschen, die den Zuccotti Park besetzt halten, sind ein Querschnitt der Bevölkerung: Reiche, Arme, Junge, Alte, Familien, Obdachlose und Punks. Ein Gesellschaftsbild

Die Demonstranten waren mit ihren Zelten und Schildern scheinbar über Nacht in der Nähe der Wall Street am Zuccotti Park aufgetaucht. Selbstverständlich waren sofort die Medien da. Ich schätzte die Demonstranten aus der Ferne als eine Gruppe von Hippies ein, die genau so schnell wieder verschwinden würden wie sie gekommen waren.

Ohne mir selbst vor Ort ein Bild gemacht zu haben, schien mir die Veranstaltung unorganisiert. Die Leute, die ich in den Fernsehbildern sah, wirkten auf mich wie Besucher eines Open-Air-Konzerts. Mir erschienen die Teilnehmer wie stereotype Figuren der Linken, und das machte mich etwas müde. Aber mein Eindruck war falsch. Als ich endlich beschloss, mir ein eigenes Bild zu machen, fühlte ich mich sehr schnell mit den Demonstranten verbunden. Ich unterhielt mich mit vielen von ihnen und verstand genauer, wogegen sie demonstrieren. Vor allem aber begriff ich, dass sie gerade keine Stereotypen waren.

Auch Obdachlose integriert

Ich wollte also festhalten, was ich sah. Mit Hilfe meiner Assistentin errichtete ich ein kleines Freilichtstudio mitten im Park. Wir verbrachten einen ganzen Tag dort und fotografierten mehr als einhundert Menschen. Ich sah Familien, Hippies, Punks, junge und alte Leute, reiche und Obdachlose. Gerade die Obdachlosen berührten mich. Sie sind in der Regel Ausgegrenzte der Gesellschaft und leben am Rand unserer Wahrnehmung. Am Zuccotti Park aber waren sie integriert. Ich wertete das als ein gutes Zeichen für die ganze Bewegung.

Mit meinen Porträts habe ich das Gefühl, etwas zu „Occupy Wall Street“ beizutragen. Die Forderungen der Demonstranten nach mehr Gleichheit und weniger ökonomischer und politischer Vetternwirtschaft kann ich gut nachempfinden. Dass ich durch meine Bilder zu der Bewegung beitrage, ist für mich als Fotograf sehr erfüllend. Ich glaube, es war auch für die Demonstranten eine gute Erfahrung. Die Leute, die wir fotografiert haben, gaben sich sehr offen. Sie schätzten die Aufmerksamkeit und hatten das Gefühl, ernst genommen zu werden.

Niemand kann zu diesem Zeitpunkt genau sagen, was aus „Occupy Wall Street“ wird. Die Bewegung lebt von Tag zu Tag. Tatsache ist, dass auch in anderen Städten der USA wie Boston, Los Angeles, DC, Miami und Chicago Leute auf die Straße gehen. Aber der Winter rückt näher, nicht nur in New York, und ich weiß nicht, ob die Menschen in der Kälte weitermachen. Vielleicht löst am Ende die Polizei doch noch die Demonstrationen auf. Ich hoffe jedenfalls, dass es weiter geht.

Druck auf das eine Prozent

Wenn man mich fragt, was ich will, sage ich: Ich wünsche mir, dass das eine Prozent durch die Bewegung gezwungen wird, den Status Quo zu ändern. Ich wünsche mir, dass die Bewegung bestehen bleibt, bis das erreicht ist.

Bis dahin finde ich es wichtig, dass die Leute verstehen, dass es sich bei den Demonstranten am Zuccotti Park (und all den anderen Orten) nicht um eine Touristenattraktion handelt. Deswegen appelliere ich an jeden New Yorker und jeden Besucher, für ein paar Stunden runter zum Park zu gehen, um mit den Leuten zu reden. So kann jeder sehen, dass es den Demonstranten nicht um Sozialismus geht, und dass solche Begriffe dort keinen Platz haben. Es geht darum, dass wir als Gesellschaft das sind, was wir sein können, nämlich eine Gesellschaft mit mehr Nachdruck auf Fairness und Gleichberechtigung. Und es geht am Ende darum, dass jeder ein Stück des Kuchens bekommt, und zwar auf eine Weise, dass der ganze Kuchen etwas länger erhalten bleibt. Sonst ist er bald ganz weg, und dann hat niemand mehr was davon.

Fotos: Mathieu Asselin

Text: Michael Saur

Mathieu Asselin wurde in Aix-en-Provence geboren und wuchs in Venezuela auf. Der 38-Jährige hat in Paris und Madrid gelebt, bevor er vor sieben Jahren nach New York zog, eine Stadt, die für ihn mehr zum Zuhause geworden ist als jeder andere Ort. Für seine fotografische Arbeit in Joplin, Ohio, nach einem Tornado erhält Mathieu Asselin den One Life Award 2011.

Mehr zu seiner Arbeit auf: www.mathieuasselin.com


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