Stühlerücken Deutschland hat seit kurzem ein neues Kabinett. Was das mit Zigaretten, Wein und ziemlich kleinen Zimmern zu tun hat, erklärt unser Lexikon für Jungminister
Armer Tropf Es gehört zur Regierungsarbeit dazu, dass jeder Minister kritisch von der Öffentlichkeit beäugt wird. Das ist gut so. Den Ministern selbst mag das jedoch zuweilen sauer aufstoßen. Da schätzt sich jedes Kabinett glücklich, das in seinen Reihen einen armen Tropf hat, der herhalten muss für Kritik und Spott.
Beim nun scheidenden Kabinett denkt man sofort an Hans-Peter Friedrich, der nicht nur von der Statur an einen Tanzbären erinnert. Im Sommer wurde er nach Washington geschickt, um so zu tun, als sei man wirklich daran interessiert, von den Amerikanern Antworten zur NSA-Überwachung zu bekommen. Heraus kam: nichts. Friedrich zu schicken, war von Angela Merkel auch eine Art zu zeigen, dass man es nicht so genau wissen wollte.
Für d
, dass man es nicht so genau wissen wollte.Für die Kollegen ist der arme Tropf praktisch, dient er doch zur Profilierung. Die einen können sich und ihre Fehler hinter ihm verstecken. Die anderen nehmen ihn mit Heldenpose in Schutz. So haben alle was davon. Benjamin KnödlerBBasics Wer bestimmt wirklich die deutsche Politik? Viele Gesetzesentwürfe werden von den Bundesministerien erarbeitet und dann von der Bundesregierung in den Bundestag eingebracht. Zuvor werden sie meist an einem großen Tisch im Kanzleramt diskutiert, eben im Kabinett. Dort treffen sich Kanzlerin und Minister in der Regel jeden Mittwoch und beraten über ihre Politik. Im Grundgesetz steht, dass die Kanzlerin vom Bundestag gewählt wird. Sie kann Minister vorschlagen, die dann vom Bundespräsidenten ernannt oder auch entlassen werden. Die Zahl der Minister ist nicht gesetzlich vorgegeben. Auch der Bundestag orientiert sich normalerweise am Zuschnitt der Ministerien und setzt zu jedem Regierungsressort einen eigenen Ausschuss ein.Die Minister entscheiden in ihrem Arbeitsbereich eigenständig, jedoch gibt es manchmal Streit in Politikbereichen, die verschiedene Ministerien betreffen. In dem Fall versucht die Kanzlerin zu vermitteln, am Ende entscheidet das Kabinett mit Mehrheit. Felix WerdermannEEtymologie Bezog sich das Wort „Kabinett“ ursprünglich auf einen königlichen Beraterkreis (➝Geheimer Rat), wurde es später auf andere Regierungsformen gemünzt. Kabinett leitet sich von jenem Wohnareal ab, das man auch Hinterzimmer nennt. In solchen, zwischen den Haupträumen ohne eigenen Flur liegenden Kammern empfingen die Fürsten und andere Mächtige ihre Räte.Ursprünglich bezeichnete „Kabinett“ etwa in Bauernhäusern den Raum hinter der heizbaren Stube, der oft zum Schlafen diente. Daraus wurde der allgemeine Rückzugsraum in herrschaftlichen Residenzen, bevor das Kabinett politisch interpretiert wurde. Das Wort „Antichambrieren“ übrigens weist auf solche Hinterzimmertaktik hin. Abgeleitet vom französischen „Vorzimmer“ bedeutet es das lange Warten oder wiederholte Vorsprechen bei Behörden und höhergestellten Personen. Man muss zuerst kriechen, um die Gnade zu erhalten, überhaupt in Kabinettsnähe zu gelangen. Tobias PrüwerGGeheimer Rat Man kennt ihn heute eigentlich nur noch aus Historienfilmen: den nichtakademischen Titel Geheimer Rat oder Geheimrat. Anfangs noch an ständischen Strukturen festgemacht, ging er bald in ein reines Beamtentum über. In den Territorien des Heiligen Römischen Reiches und den späteren deutschen Monarchien bildeten die Geheimen Räte ein Kabinett, das dem regierenden Fürsten direkt unterstand.Wenn auch der Name vermuten lässt, dass diese Herren nur beratende Funktion innehatten, fassten sie doch Beschlüsse in Landesangelegenheiten und spielten eine wichtige Rolle bei der Organisation der Verwaltung. Außerdem dienten sie als Adressaten für Bittsteller, um über sie das jeweilige Anliegen ins Visier des Herrschers zu rücken. Meist war der Titel zudem noch mit dem Prädikat „Exzellenz“ verbunden. Der Begriff „Geheimratsecken“ geht dagegen auf den würdigen Haaransatz von Denkerstirnen verdienter Fürstenberater zurück. Sophia HoffmannKKriegsführung Die Idee des präzisen „chirurgischen Krieges“ ist keine neue Erfindung. Als frühe Form möglichst minimal-invasiver Gewaltexplosionen darf der „Kabinettskrieg“ gelten. Im Zeitalter des Absolutismus wollte man nach den Erfahrungen der verheerenden Religionskriege Menschen und Güter weitestgehend schonen. Nach dem Dreißigjährigen Krieg (1618–48), den in manchen Landstrichen nur ein Drittel der Bevölkerung überlebten, sollten Konflikte weniger blutig geregelt werden. Der Begriff Kabinettskrieg weist einerseits darauf hin, dass die Herrscher mit ihren engen Beratern, dem Kabinett (➝Etymologie), ohne große weitere Maschinerie den Krieg lenkten. Zweitens unterstreicht er die Beschränktheit des Krieges. Kleine stehende Heere wurden gegeneinander entsandt, die Kriegsziele waren jeweils meist pragmatisch abgesteckt. Einher ging diese Kriegsform mit der Verrechtlichung der Gewalt, die zivile Öffentlichkeit wurde geschont. TPKunst „Provinz ist nur da, wo man sie zulässt“, soll Jürgen Wesseler gesagt haben. Seit 1967 betreibt Wesseler in diesem Sinne in einem 33 Quadratmeter kleinen Ladenlokal in Bremerhaven sein „Kabinett für aktuelle Kunst“. Prominente Künstler wie Gerhard Richter und Blinky Palermo haben den Raum zu einer Zeit bespielt, als sie noch als Geheimtipp galten. Das Kabinett ist keine Galerie, in die man Kunst hineinstellt. Der Künstler muss mit dem Raum etwas anstellen wollen. Gregor Schneider kam dieser Aufforderung doppelt nach: 2001 hinterließ er im Kabinett zwei Männerbeine. Später baute er es samt Inhalt nach. Bis Februar ist sein Double im MMK in Frankfurt am Main noch zu sehen. Christine KäppelerMMarke „Wer Muratti raucht, ist mit sich selbst zufrieden“, damit warb man im Wirtschaftswunderjahr 1959 für Muratti Cabinet Filter. Die Marke überlebte sogar den Systemwechsel. Die seit 1972 im VEB Tabak Nordhausen gestopften Zigaretten von Cabinet überstanden die Wende überraschend gut. Klar, der einstige Marktanteil von einem Drittel sank, die Produktion wurde nach dem Reemtsma-Aufkauf nach Niedersachsen verlegt. In Ostdeutschland gilt Cabinet aber als die erfolgreichste Marke Reemtsmas. „Von Mensch zu Mensch“, wirbt der Hersteller. Je nach Hörgewohnheit hat die Zigarettenmarke auch einen Meilenstein oder eine großen Fehltritt der Musikgeschichte zu verantworten. Cabinet bestellte beim damals eher abgehalfterten Musiker-Pärchen Inga Humpe und Tommi Eckart ein lässiges Liedchen für einen Spot. Heraus kam: „Wir trafen uns in einem Garten“, bald einen großer Hit. Und 2Raumwohnung wurde so erst zur richtigen Band. TPPProporz War in den vergangenen Tagen die Rede davon, wie das zukünftige Kabinett denn nun aussehen würde, so begannen oft komplizierte Rechenspiele mit mehreren Variablen. Aber auch diese Gleichungen haben feste Regeln. Innerhalb der Parteien wird die Vergabe der Ministerposten etwa vom Proporz geprägt. Hier müssen Kriterien wie Herkunft, Geschlecht und Landesverband des Ministeranwärters berücksichtigt werden. Wichtig sind vor allem Länder- und Geschlechterproporz.Eine besondere Quadratur des Kreises ist der Länderproporz. So sollten große Landesverbände wie beispielsweise Nordrhein-Westfalen stärker berücksichtigt werden als kleinere. Doch wenn zum Beispiel die fachlich beste Kandidatin für einen Ministerposten dummerweise aus einem kleinen Landesverband kommt, ein größerer und wichtiger Landesverband dadurch aber unterbesetzt bleibt, gerät das Gebilde ins Wanken – und es beginnt das große Verschieben. Am Ende ist vielleicht alles gemäß den Gesetzen des Proporzes verhältnismäßig verteilt. Nur allzu oft bedeutet das leider auch, dass die Ministersessel nicht bestmöglich mit den Kompetentesten besetzt sind. BKSSchatten Wahlen werfen immer ihre Schatten voraus und Kabinette haben im Wahlkampf sogar ganz eigene Schatten. Es hat sich eingebürgert, dass der Herausforderer seine Regierungsmannschaft oder neudeutsch: sein „Kompetenzteam“ spätestens zur Mitte des Wahlkampfs vorstellt.Der Begriff „Schattenkabinett“ scheint Politikern weniger zu gefallen. Er wirkt offenbar zu düster. Das Zwielichtige, das die Bezeichnung implizieren mag, schlägt sich in der Regierungsmannschaft des Kanzlerkandidaten im Idealfall nicht nieder. Ganz im Gegenteil. Die Mitglieder des Schattenkabinetts sollen vielmehr das gleißende Licht der Hoffnung versprühen. Hoffnung auf eine bessere Politik und auf eine kompetentere Besetzung der Ministerposten. Doch das Schattenkabinett soll nicht nur Alternativen zur jeweils amtierenden Regierung darstellen, sondern auch die Schwächen, die ein Kanzlerkandidat als einzelner Mensch so haben mag, ausbügeln und ihn so für Wählergruppen interessant machen, die er sonst nicht für sich begeistern könnte.Willy Brandt war übrigens der Erste, der in Deutschland Anfang der Sechzigerjahre mit der „Regierungsmannschaft von Willy Brandt für den Fall eines Regierungswechsels“ ein solches Schattenkabinett vorstellte. Weder 1961 noch 1965 verhalf das Modell ihm aber zum Wahlsieg. Trotzdem scheint es nicht karrierehemmend zu wirken, einem unterlegenen Schattenkabinett anzugehören, wie beispielsweise Helmut Schmidt vor der Wahl 1965. BKWWein Guter Tropfen ruht im Stein: Kabinett umschreibt ein Prädikat, das gehobene Weine kennzeichnet – allerdings auf der niedrigsten Auszeichnungsstufe. Der Kabinett-Tropfen unterscheidet sich deutlich von Land- oder Tafelwein. Er muss bestimmte Qualitätsanforderungen erfüllen: Die Trauben stammen aus einem einzigen Anbaugebiet und sind von einer zugelassenen Rebsorte. Das Mostgewicht muss mindestens 73 Grad Oechsle (Anteil gelöster Stoffe in der Traube, mehrheitlich Zucker) betragen. Zudem ist eine amtliche Prüfungsnummer nötig. Und die für niedere Weine übliche Anreicherung vor und nach der Gärung ist untersagt.Der Name Kabinett ist historisch begründet. Um 1500 wurde im Kloster Eberbach die Fraterie zum Weinkeller umfunktioniert. Die ehemaligen Arbeitsräume der Brüder, der Fratres, wurden zum Hort guten Weins, den man „Cabinet“ nannte. Hiervon leitete sich das Siegel ab. TPZZimmer In Österreich versteht man unter einem Kabinett – anders als man vielleicht erwarten würde – ein sehr kleines Zimmer. Bis in die Achtziger nannte man das in Deutschland „halbes Zimmer“. Das Kabinett entspricht in diesem Zusammenhang entweder einem Neben- oder Stauraum – oder aber einem abgeschlossenen Hinterzimmer (➝Etymologie). Womit wir auch wieder bei der politischen Bedeutung des Wortes wären: Vertrauliche Beratungen fanden in solchen Kammern schon immer gern statt, da war es nicht unpraktisch, dass sich diese oft neben der Küche befanden.Empört ist der Österreicher, wenn man ihm eine Drei-Zimmer-Wohnung anbietet, die bei genauerer Betrachtung eigentlich aus einem Zimmer und zwei Kabinetten besteht. Und diese Empörung hat mit Politik rein gar nichts zu tun ... SH
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