A–Z Kleinkunst

Unterhaltung Die Kleinkunst boomt nicht nur auf der Straße, sondern auch bei Poetry-Slams, in Kneipen, Clubs und im Internet. Ein kleines A – Z zu Komik, Kabarett und Kartentricks
Ausgabe 20/2014

A

Amateure Kleinkünstler brauchen nicht viel. Weder ein großes Ensemble noch eine große Ausrüstung. Vielleicht sorgt gerade dieser Umstand dafür, dass sich auf den ganz kleinen Bühnen auch viele, nun ja, mitteltalentierte Künstler finden. Im Grunde kann jeder zu jeder Zeit loslegen. So tummeln sich in diesem Feld eben auch viele Amateure, die es nicht zum Profi geschafft haben – und das vielleicht auch gar nicht wollten. Zugegeben, den Darbietungen zu folgen, kann mühsam sein. Man denke an den Stand-up-Comedian, der statt Lachern betretenes Schweigen erntet. Oder an die Improvisationsgruppe, der spontan nicht wirklich etwas einfallen will. Sich über die Amateure unter den Kleinkünstlern zu erheben, wäre aber falsch. Es sind gerade diese eifrigen Liebhaber, die unsere romantische Vorstellung vom Künstlerdasein spiegeln. Sie brauchen nicht das ganz große Publikum und betreiben ihre Kunst aus Leidenschaft (und oft mit erstaunlichem Selbstvertrauen). Spötter sind doch einfach nur neidisch. Benjamin Knödler

Animateure Es ist eines der härtesten Gewerbe, die der Dienstleistungssektor je hervorgebracht hat: das Animateurs-Wesen, das vor allem im Tourismus seine Anwendung findet. Sein Ziel: die Kampf-Bespaßung wehrloser Bevölkerungsgruppen unter Pina-Colada-Einfluss. Seine Zielgruppe konkret: Einfaltspinsel mit Vollpension. Der Psychoterror ist die entscheidende Technik: „Hey, kommst du Unterwasser-Yoga! Machst du Ententanz! Spielst du Pool-Bingo!“ Es ist aussichtslos, sich gegen derartige Aufforderungen zu wehren. „Nein danke, ich möchte einfach nur hier sitzen“: Selbst wenn man mit diesem bekannten Loriot-Zitat antwortet, versteht der Animateur es in der Regel nicht. Kein Wunder: Er oder sie ist meist schwer übernächtigt. Zwei bis vier Stunden Schlaf sind der Normalfall, und während der 20-stündigen Arbeitszeit muss der Animateur Musicaldarsteller, Sexbombe, Sozialpädagoge und Witzeerzähler zugleich sein. Bezahlt wird das schlechter als jedes Spargelstechen. Auch deshalb ist die Rache der Animateure fürchterlich: Googelt man nach der Formel „Verliebt in Animateur(in)“, stößt man auf über 12.000 Einträge, die mit blutenden Herzen verfasst wurden. Böse! Katja Kullmann

B

Burlesque Lichterketten flackern, die Menge schwitzt beim Tanz: Es läuft Elektroswing, eine moderne Variante der (Ur-)Großeltern-Musik. Der DJ reißt die Arme hoch – plötzlich Ruhe, Lichtwechsel, Spot auf die Bühne. Aus den Lautsprechern erklingt jetzt ein knarziger französischer Chanson. Und dann tritt sie langsam hinter dem roten Samtvorhang hervor. Erst ihr in Spitze gehülltes Bein, dann das rote Korsett, zum Schluss das weiße Tutu. Voilà: Eine Burlesque-Nummer nimmt ihren Lauf. Lasziv streift die Tänzerin ihre Handschuhe ab, kreist mit den Hüften – und zieht manchmal auch ulkige Grimassen dabei. Der Striptease wird nur angedeutet, beinahe parodiert, die Dame bleibt an den entscheidenden Stellen bedeckt. Und es liegt der Charme der 1920er Jahre in der Luft. Seine Glanzzeit hatte das skurrile Varieté-Genre zwischen den Weltkriegen in den USA. Heute ist es unter hippen Großstädtern wieder sehr beliebt, mit seinem rotlichtigen Zirkusflair. In Berlin und Hamburg gibt es inzwischen etliche Burlesque-Bars. Madeleine Bieski

G

Grebe Ihn umtriebig zu nennen, ist viel zu harmlos für Rainald Grebe, den Kabarettisten, Dichter und Vertoner ulkiger Lieder, der sich selbst „Theatermacher“ nennt. Seine zu Partyhits avancierten Hymnen aufs unprominente Thüringen oder aufs trostlose Brandenburg sind bissig verpackte Hommagen: Er schreibt nur über ihm am Herzen liegende Dinge. Über das nordhrein-westfälische Frechen, wo Grebe aufwuchs, gibt es indes keinen Song. Als Straßenmusiker war ihm nur Berlin groß genug. Hier studierte er Puppenspiel. Nach einem Intermezzo am Theater Jena begann 2002 seine Erfolgstour über die Comedybühnen. Grebe veröffentlichte mehrere CDs, inszeniert Revuen und füllt inzwischen die Berliner Waldbühne mit 14.000 Zuschauern. „Ich habe ein Faible für Spektakel“, sagt der, ähm, große Kleinkünstler. Tobias Prüwer

H

Hitler Darf man über ihn lachen? Schon zu seinen Lebzeiten stellten Künstler sich diese Frage. Charlie Chaplin zeigte in Der große Diktator 1940, wie wohltuend es sein kann, sich Hitler humoristisch zu nähern – ihn einfach lächerlich zu machen. Nach dem Bekanntwerden des Holocaust war dies verständlicherweise lange tabu. Mit Serdar Somuncu macht sich inzwischen ein Deutscher türkischer Herkunft über den schlimmsten Verbrecher der Geschichte lustig, auf sehr wirksame Art. Besonders schön ist es, dass er dabei gänzlich ohne eigene Kommentare auskommt: Somuncu, der leidenschaftliche Provokateur, liest ausgewählte Passagen aus Mein Kampf auf besonders gekonnte Weise vor, und der komische Effekt ist überwältigend. Auf Anfeindungen reagiert er souverän: Als ihn nach einem Auftritt einmal ein Neonazi anschnauzte: „So muss man das nicht lesen!“, erwiderte der (Klein-)Künstler lässig: „Muss man auch nicht so schreiben!“ Andrea Wierich

K

Känguru Ein Känguru geht um in Europa. Es ist bei dem Berliner Kabarettisten Marc-Uwe Kling eingezogen und verfolgt einen „gutartigen kommunistischen Weltverbesserungsplan“ – indem es dem „Ministerium für Produktivität“ mit Sabotageakten seines eigenen „Asozialen Netzwerks“ entgegentritt. Der kapitalistische Pinguin ist sein kosmischer Antagonist. Kabarettist Kling schildert herrlich komisch, wie das Känguru sich in – leider – typisch linken Widersprüchen verheddert. Das entzieht der politischen Botschaft des Tiers aber keinesfalls die Substanz! „Wollt ihr den totalen Arbeitsplatz? Dies ist ein Anti-Terror-Anschlag des Asozialen Netzwerks! Asozialisten aller Länder, vereinigt euch!“ AW

M

München Die Stadt München ist vielen Menschen ein Rätsel. Mir auch. In meinem Kopf bekomme ich es nicht zusammen: Wie die Kapitale eines so schlimm oberkatholischen CSU-Landes eine so anarchische Tradition – Räterepublik! – und einen solch herrlich garstigen Humor haben kann. Vermutlich bedingt und befruchtet sich beides. München hat lange Zeit das beste Kabarett der Republik hervorgebracht. Seien es die superscharfen Polit-Sottisen der Münchner Lach- und Schießgesellschaft, die in den 70er bis 90er Jahren ihre große Zeit hatte, mit Bruno Jonas als führendem Humor-Bayern. Sei es der göttliche Gerhard Polt, der größte unter den lebenden Satirikern. Oder das unschlagbare Duo Karl Valentin und Liesl Karlstadt, die vor über 100 Jahren schon weit intelligentere Scherze machten als dieser Tage die heute-show. KK

S

Schramm Der politische Kabarettist alter Schule ist durch den legendären Scheibenwischer bekannt geworden. Georg Schramms polemische Texte geißeln das kapitalistische Wirtschaftssystem und dessen Auswirkungen auf Individuum und Gesellschaft. Er tritt in der Rolle verschiedener Kunstfiguren auf, etwa als zeternder Rentner Dombrowski. Der schimpft vor allem über die Verblödung der medialen Öffentlichkeit: „Die Politfiguren dürfen in den öffentlich-rechtlichen Bedürfnisanstalten bei den Klofrauen Christiansen und Illner ihre Sprechblasen entleeren. Und wenn bei der intellektuellen Notdurft noch was nachtröpfelt, können sie sich bei Beckmann und Kerner an der emotionalen Pissrinne unter das Volk mischen.“ AW

Straßenkünstler Zwischen Showrooms und Shoppingcentern machen sie den öffentlichen Raum zur Bühne. Nicht jeder erfüllt den im Wort enthaltenen Anspruch. Leiernde Akkordeons – warum ist Lambada immer noch populär? –, schlimme Panflöten und Jongleure, die am liebsten Bälle vom Boden aufheben, lassen an der Kunst zweifeln. Allerdings gibt es auf der Straße auch immer wieder verblüffende Acts. Da wird dem Alltag mal hübsch die rote Nase aufgesetzt und die Routine durchgeschüttelt. Außerdem: Ehrlicher kann Kunst kaum sein. Niemand wird zu einem Obolus gezwungen – und das Publikum kann jederzeit gehen. TP

T

Tocotronic Die Band Tocotronic ist auf Kleinkunst gar nicht gut zu sprechen. 1996 sangen die Hamburger: „Ich verabscheue euch wegen eurer Kleinkunst zutiefst / Ihr sitzt in euren Zimmern, und ihr wartet auf das Glück / Und ihr habt schon 20.000 Zigaretten ausgedrückt / Redet nur von den Projekten und von eurem neuen Stück. (...) Es gibt eine Herzlichkeit jenseits vom Jonglieren / Das ist doch wirklich gar nicht allzu schwierig zu kapieren / Ihr werdet 100.000-mal Kaffee trinken gehen / Und werdet 100.000-mal wieder nichts verstehen / Ich will nicht schlecht über euch reden, es ist ja doch nur primitiv / Ich verabscheue euch wegen eurer Kleinkunst zutiefst.“ Heute klingt der Song noch mal ganz anders als vor 20 Jahren. Womöglich ging es Tocotronic nicht um arglose Jongleure (Straßenkünstler) – sondern um das Heer der Selbst-Unternehmer und Pseudo-Künstler, die die Welt mit ihren „Kreativitäts“-Phrasen in den Abgrund blubbern. KK

Tüpfelhyänen Dafür, dass unsere Welt (Medien, Politik) angeblich immer dümmer wird, trifft man im Alltag erstaunlich viele kluge, humorvolle Menschen. So recht wollen sie keine Öffentlichkeit bilden, aber gehäuft findet man sie im Publikum von Kleinkünstlern. Besonders viele scheint es bei Sebastian Krämer zu geben

Wie alle Kleinkünstler tingelt auch Sebastian Krämer seit Jahren durch die Clubs und wäre eher ein „Mittelkünstler“ zu nennen. Angefangen hat Krämer als Poetry Slammer, mittlerweile ist er zum virtuosen Klavierspieler und Chasonnier gereift, der mit einem feinem, assoziativen Humor glänzt, der um seine Fallhöhen weiß .

Krämer singt zum Beispiel: „Warum hat die Frau da drüben keine Augenbraun/ Dafür zwei aufgemalte Bögen wie ein Zirkusclown/So sieht sie aus, als ob sie immerfort am Staunen wär/Und nicht auch sie oft Spielball wechselhafter Launen wär/Und was macht sie, wenn sie brüllen will:/Mir stinkt das hier,/oder Fick dich selber hirnbefreites Schalentier/ …./Wollen wir sie fragen, oder lieber nicht. /Wär ja möglich, dass sie mit uns spricht/Warum kann der Schalke Fan da nur das eine Lied/ Und von dem auch nur zwei Zeilen und welchen Nutzen sieht er/ darin ihnen …“

Auf seiner neuen Platte Tüpfelhyänen klingt das natürlich viel besser. Aber am allerbesten klingt es live, mit einem Publikum, das an den richtigen Stellen lacht. Michael Angele

Y

Youtube „Eines Tages, Baby ...“: So begann Julia Engelmann ihren Beitrag bei einem Poetry-Slam an der Uni Bielefeld. Viel wurde über ihren Auftritt diskutiert, allerdings erst Monate später, nachdem ihre Nummer auf Youtube zum Klick-Hit geworden war. Die Videoplattform hat sich schon lange zur größten Kleinkunstbühne überhaupt entwickelt. Slammer, Puppenspieler oder Kabarettisten – sie alle finden hier genau ihr Publikum. Und die neue Bühne hat Vorteile: Verpatzte Auftritte werden einfach nicht ins Netz gestellt, und da man alles noch mal neu aufnehmen kann, ist Lampenfieber eigentlich auch kein Problem mehr. BK

Z

Zauberei Kartentricks und Kaninchenmanifestationen sind im Prinzip ganz alte Hüte. Erstmals wurde die Zauberei in der Pharaonenzeit erwähnt. Im Mittelalter machten selbsternannte Wunderheiler von ihr Gebrauch – bis sie als Unterhaltung salonfähig wurde. Der Zauberer muss ein Schauspieler sein – wissen geübte Magier. Die zersägte Jungfrau ist choreografierte Illusion, der Münzenklau eine Frage der Geschwindigkeit, das erratene Lieblingstier ein Psychospiel. Trotzdem mag der Eintritt zahlende Zuschauer solchen Erklärungen nicht glauben. TP

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