A
Alltagsmythen Der Baske an und für sich ist ein abenteuerlustiger Seemann. Im Katalanen wiederum gibt sich ein cleverer Geschäftsmann zu erkennen. Für den Guide Bleu, Frankreichs Äquivalent zum Baedeker, existieren lediglich „Typen“. So beschreibt es zumindest Roland Barthes in seinen Mythen des Alltags.Landschaften wiederum werden hier nur erwähnt, wenn sie „pittoresk“ sind. Und das sind sie nur, wenn sie Steigungen aufweisen, unheiliges Erbe bourgeoiser Alpenbegeisterung im 19. Jahrhundert (➝ Grand Tour).
Was interessiert im Guide Bleu sonst so? Denkmäler! Aber Vorsicht: „Die Auswahl der Denkmäler beseitigt die Wirklichkeit der Erde und zugleich die der Menschen, sie berücksichtigt nichts Gegenwärtiges, das heißt Geschichtliches.“ Vielleicht also im nächsten Urlaub mal auf den Reiseführer verzichten? Denn der wird „zum Gegenteil dessen, was zu sein er verkündet, zu einem Instrument der Blendung“, meint Barthes. Mladen Gladić
F
Frachtschiffe Dieser Schiffstyp kann eine echte Alternative zu den höchst umstrittenen Kreuzfahrtschiffen sein. Zahlreiche Agenturen bieten inzwischen Reisen auf großen und kleineren Pötten an. Wer will, kann damit einmal um die Welt reisen. Doch großzügige Planung tut not! Die Unwägbarkeiten und Überraschungen sind nervenreizend (➝ Wassertaxi). Es können sich die Orte ändern, von denen die Schiffe ablegen, es können sich sogar die Ankunftshäfen ändern. Beides ist uns geschehen, als wir – vor Jahren – eine solche Reise buchten.
Als wir dann von Rotterdam über die Nordsee schipperten, immer wieder auf die Brücke stiegen und abends den Sonnenuntergang beobachteten, fanden wir das absolut einzigartig. Übrigens: Egon Bahr, der SPD-Politiker (1922 – 2015) hat lange Zeit in seinem Leben auch diese Art der Fernreise gewählt. Magda Geisler
G
Grand Tour Seit dem Spätmittalter in Künstler- und Gelehrtenzirkeln als Erziehungsabschluss Tradition, wird der Besuch antiker Stätten in Italien und bedeutender Universitäten auf dem Kontinent gegen Ende des 17. Jahrhunderts beim englischen Adel und reichen Bürgern Mode. Neben der Verfestigung von Status und Prestige ging es auf der „Grand Tour“ auch um das Sammeln erotischer Erfahrungen.
Kostspielig waren die vielen Reise- und Gesundheitspässe aufgrund der Kleinstaaten in Italien und Deutschland und weil für den Sprössling ein Tutor bezahlt werden musste. Reiseberichte erzählen von Strapazen: Kutschenunfälle, Alpenüberquerungen, Ungeziefer, Raub, Korruption, Spionagevorwürfe. „Pflichtstationen“ sind Leiden, Florenz, Rom, Neapel, Heidelberg, Wien mit ihrem Tourismusgewerbe. Oft ist die Rede vom „rückständigen Italien“ oder den „clownesken Deutschen“. Berühmt ist Venedig wegen seiner Zuhälter und Huren. An Reiz verlor die auch als „Kavalierstour“ bezeichnete Reise für ihre Adelsklientel mit der Eisenbahn (➝ Zug) und zunehmendem Massentourismus. Helena Neumann
I
Internet Statt in ein Flugzeug zu steigen, segelte Greta Thunberg mit der Malizia II zum Uno-Klimagipfel in New York. Als bekannt wurde, dass die Reise doch nicht völlig CO2-frei war, erntete die Klima-Ikone viel Häme. „Wenn ich das Wort Flugscham höre, kriege ich Blutdruck“, sagte Hannovers Flughafenchef Raoul Hille (➝ Lied). Harsche Kritik am ökologischen Fußabdruck der Internet-Generation. Zu Recht?
Das Netz ist ein wahrer Energiefresser, so viel steht fest. Streaming als Umweltkiller. Manche sagen gar, die digitale Revolution sei ökologisch eine ähnliche Katastrophe wie der Flugverkehr. Wie wär’s mit einer Fastenzeit? Vom Fliegen und vom „Netflixen“! Alanna O’Riordan
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Kommunikation Dass Kommunizieren nicht CO2-neutral ist, schrieb gerade auch Timo Daum im Freitag: Zehn Prozent des Energieverbrauchs weltweit gehen aufs Konto des ➝ Internets. Auch, weil unsere Daten dank Cloud-Technologie „im arktischen Eis, am Meeresgrund, in der Wüste“ lagern. Wenn Nullen und Einsen verreisen, fressen sie Energie.
So wie wir, wenn wir verreisen. Im Wort Kommunikation, wie es noch Goethe kannte, ist das präsent. Der schrieb 1825 dem Komponisten Zelter: „Eisenbahnen, Schnellposten, Dampfschiffe und alle möglichen Facilitäten der Communication sind es, worauf die gebildete Welt ausgeht, sich zu überbieten.“ Mladen Gladić
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Lied Wenn die „bucklige“ Verwandtschaft anrollte, flüchtete das Schwesterlein durchs Fenster und war für Stunden verschwunden. Onkel P. kam meist mit Liedbuch und Ziehharmonika, man war jetzt im Garten zum Singen abkommandiert. Wir stellten den unmusischen Zweig der Familie, mich selbst verband eine Hassliebe mit dem Volkslied, manche Melodie ging ins Herz, manches klang verdächtig nach schwarzbrauner Haselnuss (➝ Prora).
Reisen sei überbewertet, befand mein Vater, ihm genügten die Felder und Wiesen. Gern sang er Hoch auf dem gelben Wagen, das Ex-Bundespräsident Walter Scheel schon 1973 Youtube-fähig intonieren sollte.Auf Scheel folgte Karl Carstens, der erste „Wanderpräsident“ der BRD. Ein Weg in meiner Heimat ist nach ihm benannt. Erst viel später verstand ich die Melancholie, die im Lied mitschwingt. Es geht um die Reise des Lebens. Man „möchte so gerne noch bleiben, aber der Wagen, der rollt“. Katharina Graf
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Prora Der legendäre Ortsteil von Binz an der Ostseeküste wird erst in der Gegenwart als reizvolles Ziel für Reise und Erholung beworben. In der NS-Zeit geplant und gebaut, sollte dort innerhalb der KdF-Organisation Urlaub für Tausende von Menschen möglich werden. Der Geist dieser „Kraft durch Freude“-Massenerholung wird beim Blick auf den Riesenkomplex – den kilometerlangen „Koloss von Prora“ – deutlich. Ganz vollendet wurde er nie.
Nach 1945 wurden die fünf kasernenartigen, jeweils 500 Meter langen Blöcke, die noch standen, militärisch genutzt. Offiziere wurden ausgebildet, Bausoldaten wurden zum Ausbau des Fährhafens Mukran eingesetzt. Nach 1990 wurde Prora zum ungeliebten Erbe. Zu groß die ganze Anlage, zu diffus die Geschichte (➝ Kommunikation). Erst nach und nach wurde darin auch eine Chance gesehen, Geschichte lebendig zu machen. Ein Dokumentationszentrum widmet sich dieser Aufgabe. Magda Geisler
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Synchronizität Laut C. G. Jung stellt Synchronizität eine Kette von Ereignissen dar, welche nicht durch eine sichtbare Logik miteinander verbunden sind, jedoch aufeinander bezogen als akausal sinnhaft wahrgenommen werden können. Jung geht so weit, dass sich innere Ereignisse in physischen Ereignissen spiegeln können. Doch wer spiegelt sich nun in wem?
Wenn Tausende von europäischen Touristen in Resorts festsitzen, weil ein Reiseunternehmen pleite ist (➝ Thomas Cook), während etliche Flüchtende auf Schiffen und in provisorischen Unterkünften ausharren, um eben auf diesen Kontinent zu gelangen, der sich gegen ihre Aufnahme sträubt? Kann spätantike Dekadenz deutlicher hervortreten? Marc Ottiker
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Thomas Cook Massentourismus assoziiert man mit Kreuzfahrtschiffen, proppenvoll mit übersättigten All-inclusive-Passagieren, die aus ihren Kabinen hinaus in die Städte stürmen (➝ Wassertaxi), ohne jemals etwas zu kaufen. Gibt’s ja alles an Bord. Und auf „Malle“ fließt der Alkohol in Strömen. Ist es da nicht eine hübsche Dialektik, dass dieses „Utopia der Gier“ (Ayn Rand) mal ursprünglich aus der „Temperance“-Bewegung entstand? Thomas Cook vertrat leidenschaftlich die Sache der Abstinenzler.
Mit seinen Reisen wollte er Menschen vom Alkohol wegbekommen. „Manchmal emanzipieren sich die Mittel erfolgreich von den Zwecken“, war in der SZ zu lesen. Bleibt zu hoffen, dass die entlassenen Beschäftigten nicht zur Flasche greifen; Cook ist seit 1892 tot. Dorian Baganz
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Untamed Borders Ich tippe diesen Text in einem gut gesicherten Hotel in Herat. In Afghanistan bin ich trotz der Gefahr und nicht deswegen (➝ Frachtschiffe). So könnte man das Konzept des 2007 von James Willcox gegründeten Reiseanbieters „Untamed Borders“ beschreiben.
Gefährlichste Destination: Mogadischu, die gesetzlose Hauptstadt Somalias, deren farbenfrohe Märkte und spektakuläre Strände für einige das konstante Risiko von Terroranschlägen, opportunistischen Schießereien und Entführungen überwiegen. Mittlerweile werden auch Skireisen in den Irak, zum Marathon nach Bamiyan oder zu den Stammeskulturen im Südsudan angeboten. In diesem Sinne: Bomb Voyage! Elke Allenstein
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Wassertaxi Urlaub ist für mich fest konnotiert mit Pleiten, Pech und Pannen. Da muss gar kein Reiseveranstalter insolvent sein – das ist bei uns oft all inclusive gewesen. Hexenschüsse, brennende Hotels oder eine alles ausräumende Lebensmittelvergiftung auf Djerba. Mein heutiger Beruf als Notfallmanager kommt wohl nicht von ungefähr. 1993 also war ich in Venedig, und es war damals schon überlaufener Kulissenstyle.
Mit dem Schriftsteller Andreas Maier war ich mir beim Interview einig: Kannste nicht mehr hinfahren (➝ Kommunikation). Einzig das Wassertaxi konnte mich damals überzeugen. Aber: zu teuer für uns! Und so sitzen wir am Urlaubsende auf der Flughafenfähre und der lahme Urlaub bekommt doch noch Drive. Plötzlich schlagen Flammen aus dem Motorraum. Panik, Gedrängel, Emergenza! Avanti! Blitzartig ist das Schiff von Wassertaxis umringt, ein Sprung in das kleine Boot – und schon gab es einen kostenfreien Transfer. Sinnbild für eine Stadt, die damals schon unterging. Jan C. Behmann
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Zug Viel zu oft unterschätzt, ist der Zug weitaus mehr als ein simples Fortbewegungsmittel. Literatur und Film bemühen sich seit Langem, dem von Marc Augé als identitätsleeren Nicht-Ort Diffamierten Bedeutung einzuhauchen. Deshalb darf er dort Zeitmaschinen über Schluchten schieben, romantische Begegnungen einleiten oder den Rest der Menschheit für alle Ewigkeit durchs Eis transportieren.
Am dramatischsten eingesetzt wurde er allerdings von Lew Nikolajewitsch Tolstoi: Die Titelheldin Anna Karenina verbringt viele Seiten in Zügen mit Freunden, Bekannten und bedeutungsschwangeren Gesprächen, nur um schlussendlich unter selbigem zu enden (➝ Synchronizität). Und weil man sich auf der Zugfahrt gerne auch mal stundenlang langweilt, beginnt Thomas Manns Zauberberg mit eben so einer Reise. Alina Saha
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